10

 

Trotz des Kloßes in seinem Magen von dem großen Stück Hammelfleisch, das er bereits verzehrt hatte, gelang es Robert Sarin, noch einen Bissen zu essen. Dann lehnte er sich zurück und stieß einen lauten, zufriedenen Rülpser aus. Er war überrascht und erfreut über die plötzliche und unerklärliche Zunahme seines Appetits. Er rieb sich mit den Händen den vorstehenden Bauch, während der Hund neben ihm saß, mit dem Schwanz wedelte, ein wenig jaulte und um etwas von den Resten auf dem Teller seines Herrn bettelte. Der alte Mann lächelte und tat seinem Gefährten den Gefallen, indem er ihm auf der offenen Handfläche einen ordentlichen Batzen Fett darbot. Der Hund nahm ihn, ohne dabei Sarins Haut zu berühren, und schluckte den Bissen in einem Stück hinunter. Sarin bewegte seine fettige Hand nicht, und der Hund leckte sie sauber.

Da Sarin im Innersten wußte, daß er diese und alle anderen Empfindungen nicht mehr allzu oft erleben würde, gestattete er sich, das leise Kitzeln der feuchten Hundezunge in seiner schwieligen Handfläche zu genießen. Er lernte gerade, sich an jedem angenehmen Gefühl zu erfreuen, das seines Weges kam, und verweilte bei jedem seiner eigenen Gedanken, als sei er ein großes philosophisches Geschenk.

Er fand es merkwürdig, daß Furcht ihm ein solches Gefühl von Lebendigkeit einflößte. Jetzt, da er sich der Aufgabe widmete, sich auf das vorzubereiten, was vor ihm lag, fühlte er sich vitaler als seit vielen Jahren, als sei binnen weniger Tage ein Jahrzehnt des Alterns von ihm abgefallen. Er atmete leichter und er ging schwungvoller. Er war draußen im Garten seiner Mutter gewesen und hatte ihn in Ordnung gebracht, besser in Ordnung, als er in den vielen Jahren seit ihrem Tod gewesen war. Er liebte den Geruch der üppigen schwarzen Erde seit jeher; er war so fruchtbar, so feucht und würzig, wie er sich den Geruch einer Frau vorstellte.

Jeden Tag schaute er in das Buch seiner Mutter und prägte sich die Rituale genauer ein. Wäre doch sein Gedächtnis schon früher so gut gewesen! Die Macht, Dinge zu wissen und dann noch mehr zu lernen, berauschte ihn förmlich; er wußte, bald würde eine Zeit kommen, da er das Gelernte würde anwenden müssen, und er war aufgeregter als jemals in seinem Leben. Wäre sie doch noch am Leben und könnte das sehen, dachte er traurig.

Als er seine Mahlzeit ein wenig verdaut hatte, stand er aus seinem Sessel auf, um Arme und Beine zu strecken. Im Haus roch es wundervoll, und Sarin wurde ständig von Erinnerungen an seine Mutter überflutet, da seine Umgebung jetzt wieder so war wie damals, als seine Mutter noch im vollen Besitz ihrer Kräfte gewesen war. Er rief den Hund; das große, struppige Tier kehrte zu ihm zurück und ließ mit einem breiten Hundegrinsen seine rosa Zunge heraushängen. Sarin tätschelte ihm den Kopf und sagte: »Manchmal fühlt es sich an, als wäre sie gar nicht wirklich tot.« Der Hund wedelte zustimmend mit dem Schwanz und jaulte leise.

»Es ist, als wäre sie noch da und würde mir helfen«, sagte Sarin. Er hatte viel Zeit darauf verwendet, die Dinge in Ordnung zu bringen, und dabei dauernd das Gefühl gehabt, sie blicke ihm beschützend über die Schulter, während er alles instand setzte. Erst als er mit allem fertig war, wurde ihm klar, wie sehr er die Dinge hatte schleifen lassen.

Er wußte, seine Mutter hatte darum gebeten, die Aufgabe möge noch während ihrer Zeit als Wärterin kommen. So sorgfältig sie ihn, ihr einziges Kind, auch unterwiesen hatte, sie hatte niemals geglaubt, daß er bereit sein würde, wenn sie sich zu seiner Zeit stellte. »Ich hätte es wissen sollen«, hatte sie bitter gesagt, als sie dem Tod nahe war. »Ich hätte es wissen sollen, daß ich einen Sohn haben würde.« Und sie hatte recht, dachte er, denn er war seit mehreren Jahrhunderten der erste männliche Nachkomme einer direkten Linie tüchtiger Frauen. Jede Tochter hatte aufgrund eines alten und streng beachteten Rituals wieder eine Tochter geboren und dem Kind ihren eigenen Namen gegeben.

Aber sie hatte ihm gesagt, daß er der Liebe entsprungen war und nicht einem Ritual. Er dachte, daß seine Mutter entsetzt gewesen sein mußte, als sie zwischen ihre blutigen Schenkel schaute und dort das kleine, runzlige Ding erblickte, das sie nach langen und heftigen Wehen zur Welt gebracht hatte. Er fragte sich, ob sie in Panik geraten war und geweint hatte oder, was die furchtbarste Vorstellung war, ob sie daran gedacht hatte, sich seiner zu entledigen. Er konnte ihren Trotz im Augenblick der Entscheidung fast spüren, ihre Weigerung, das zu tun, was Tradition und Bräuche von ihr verlangten; sie war ein zorniges junges Ding, das mit einem unvollkommenen Baby kämpfte und sechshundert Jahren Willfährigkeit ihrer Ahninnen mit der Faust drohte. Als die Zeit verging und ihr Trotz sich auflöste, hatte er ihre Reue gespürt. »Ich wußte, was von mir verlangt wurde«, hatte sie ihm einmal gesagt, »und ich habe es nicht getan. Daran ist keiner schuld außer mir selbst.« Und von da an richtete sie sich nach dem, was von ihr verlangt wurde, in allem, nur nicht in der Fürsorge für ihren behinderten Sohn.

Dieser Sohn, jetzt ein sehr alter Mann, bückte sich und trat durch die niedrige Tür in die frische Luft hinaus. Seine alten Augen folgten der Silhouette eines zerlumpten Mannes, der rasch zwischen die Bäume schlüpfte. Der Alte tätschelte seinem Hund den Kopf. »Da ist einer von ihnen«, flüsterte er dem hechelnden Hund zu. »Ich frage mich, warum sie nicht öfter kommen.«

Warum, fragte Janie sich ärgerlich, muß das Telefon immer gerade dann läuten, wenn ich den Mund voller Zahnpasta habe? Sie hätte den Anruf am liebsten dem Anrufbeantworter des Hotels überlassen, doch da ihr einfiel, daß es vielleicht Caroline war, spuckte sie die Zahnpasta aus und rannte los. Sie erwischten den Hörer gerade noch vor dem fünften Läuten, wonach sich automatisch der Anrufbeantworter eingeschaltet hätte. Sie leckte sich den Pfefferminzgeschmack von den Lippen und sagte: »Hallo?«

»Guten Morgen«, sagte Bruce.

Sie wollte schon sagen: »Wer ist da, bitte?«, nur, um ihn zu verwirren, aber sie war entschlossen, heute freundlich und sanft zu sein, vor allem, da er sich am Vorabend so großartig verhalten hatte.

Eigentlich, dachte sie, bin ich heute eher erregt und von meinen Hormonen gesteuert, seit meine Libido wieder erwacht ist.

»Guten Morgen«, sagte sie.

»Wie haben Sie geschlafen?« fragte er.

Sie fragte sich, ob sie ihm erzählen sollte, daß es ihr gelungen war, unfreiwillig sämtliche Laken zu zerwühlen, und daß sie das, was sie in acht langen und bemerkenswert einsamen Stunden erlebt hatte, kaum als Schlaf bezeichnen konnte, sondern eher als halbbewußtes Herumwälzen. Sie entschied sich, nichts von den bohrenden Kopfschmerzen zu sagen, die jedesmal, wenn sie auch nur ein wenig den Hals bewegte, ihr Gehirn zu spalten drohten. Vielleicht hat er Aspirin, dachte sie und erwog noch einmal ihre Lage.

»Ach, ganz gut«, sagte sie schließlich. Das entsprach halb der Wahrheit, was dann folgte aber keineswegs: »Ich fühle mich sehr ausgeruht heute morgen. Das muß der Wein gewesen sein.«

»Sie Glückliche«, sagte er. »Ich habe mich aus irgendeinem Grund die ganze Nacht herumgewälzt. Vielleicht war es das ungewohnte Bett, ich weiß nicht. Normalerweise kann ich in ungewohnten Betten ganz gut schlafen.«

»Tatsächlich?« sagte Janie kichernd. »Können Sie Zeugen für diese Behauptung beibringen?« Ihr Kichern ging in ein herzhaftes Lachen über.

Einige Sekunden herrschte völliges Schweigen am anderen Ende, dann lachte auch Bruce und sagte: »Ich bin wohl selber schuld, was? Vielleicht sollte ich Gesprächen am frühen Morgen aus dem Weg gehen.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Janie. »Es fiel mir nur einfach so ein. Tut doch gut, den Tag mit einem Lachen zu beginnen. Und es tut mir leid, daß Sie nicht gut geschlafen haben. In Wirklichkeit ist es mir nicht viel besser ergangen. Ich glaube, ich hatte einfach zuviel getrunken.«

»Vielleicht hatte ich nicht genug getrunken. Aber ein oder zwei Tassen Kaffee werden mich vermutlich wieder aufmuntern. Ich gehe nach unten ins Café zum Frühstück, falls Sie auch kommen möchten.«

»Ich komme in ein paar Minuten nach, sobald ich angezogen bin.«

»Ich werde im Depot anrufen, bevor ich nach unten gehe; vielleicht haben sie endlich etwas von Ted gehört.«

»Gute Idee. Ich glaube, ich werde es auch noch mal bei Caroline versuchen.«

»Hoffen wir, daß wir beide gute Neuigkeiten haben, wenn wir uns nachher treffen«, sagte er, und sie legten auf.

Ted zog das Sensorthermometer von seiner heißen, feuchten Haut und schaute auf die Anzeige. »Neununddreißig neun«, sagte er laut, obwohl ihn keiner hören konnte. »Großer Gott.« Er setzte sich auf den Bettrand; dabei fiel ihm auf, daß seine Knie schmerzten. Noch ein Symptom? dachte er bei sich. Was kommt als nächstes?

Er war sicher, daß er mehr hatte als eine Erkältung. Er hatte unruhig geschlafen und war in der Nacht mehrmals aufgestanden, um Wasser zu trinken, doch sein erster Gedanke beim Erwachen war wieder der Durst. Er fühlte sich erhitzt und schweißig, und seine Augen sahen krank aus, aber was ihm mehr als alles andere Sorgen machte, war die Schwellung an seinem Hals. Sie hatte nicht abgenommen, sondern war sichtbar größer geworden.

Als er jetzt seinen Hals untersuchte, sah er dunkle Stellen, wo die Schwellung ausgeprägter war. Bei seiner Arbeit hatte er die Symptome der meisten modernen Krankheiten aus eigener Anschauung kennengelernt, doch etwas wie das, was er jetzt im Spiegel erblickte, hatte er noch nie gesehen.

Er strich sich mit der Hand über den Hals. Die Knoten fühlten sich hart an, und der leichte Druck verursachte die Art von dumpfem Schmerz, die er mit einem großen, geschlossenen Abszeß in Verbindung gebracht hätte. »Au!« Er zuckte zusammen, als seine Finger eine besonders schmerzhafte Verdickung berührten. Er dachte, er sollte vielleicht einen Arzt aufsuchen, fragte sich aber, wie er das tun konnte, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte seine Kollegen nicht wissen lassen, daß es einen Riß im Panzer seiner Perfektion gab, und wenn seine nicht diagnostizierten Beschwerden sich tatsächlich als etwas Schlimmeres als eine Erkältung herausstellten, dann wollte er auf keinen Fall von den langsam kreisenden Rädern des medizinischen Systems erfaßt werden. Ein falscher Schritt, und er würde in dessen großes Mahlwerk geraten und erst wieder herauskommen, wenn die Behörden überzeugt waren, daß er keine Bedrohung für die Gesellschaft darstellte. Die Ironie der Tatsache, daß er selbst oft Teil dieser strengen Behörden war, entging ihm nicht.

Er entschied, daß die sicherste Vorgehensweise darin bestand, mit dem Computersystem des Instituts eine Selbstdiagnose zu versuchen. Er wußte, daß alle Programme, die er brauchte, um seine Symptome zu erfassen und zu analysieren, in der medizinischen Bibliothek des Computersystems zu finden waren; er hatte dieses System selbst ausgewählt. Er wußte auch, daß er die schlimmsten Möglichkeiten ausschließen konnte, bevor er weitermachte.

Jeder Zoll seines Körpers schmerzte, als er sich mühsam anzog. Er zuckte zusammen, als er einen Pullover mit Rollkragen überstreifte, war aber zufrieden, als er im Spiegel sah, daß dieser die Flecken an seinem Hals verdeckte. Unglücklicherweise ist er verdammt unbequem, dachte er und versuchte, das enge Gewebe um seinen Hals zu lockern. Ehe er die Wohnung verließ, nahm er einen leichten Mantel aus dem Schrank. Draußen merkte er, daß er ihn sofort brauchte, denn, obwohl der Tag relativ warm war, empfand er die Luft als kalt und beißend. Da er nicht wagte, in seinem angegriffenen Zustand Auto zu fahren, nahm er ein Taxi und saß während der ganzen Fahrt bibbernd auf dem Rücksitz.

Die Bibliothek des Instituts war über das Wochenende geschlossen, und Ted nahm an, daß sie unbesetzt sein würde, obwohl er wußte, daß in anderen Abteilungen des Gebäudes ein paar Leute arbeiteten. Ohne die Wärme und die Geräusche menschlicher Aktivität kam ihm das Institut immer riesig vor, fast wie eine ungeheure Höhle, in der er an jedem Arbeitstag verschwand. Doch diese Höhle hatte er selbst geschaffen, und gewöhnlich fühlte er sich darin ziemlich sicher. Heute empfand er sie als allzu groß. Während seine Sorge über seinen Zustand wuchs, hatte er das Gefühl, mehr und mehr die Kontrolle über seine Situation zu verlieren; die Umgebung nahm Proportionen an, die nicht stimmten, und er kam sich sehr klein und zerbrechlich vor.

Mit einem Handabdruck verschaffte er sich Zugang zu der verlassenen Bibliothek. Drinnen sah er sich um und rief: »Hallo?« Als niemand antwortete, verlor er keine Zeit, sondern schaltete sofort den Computer an und klinkte sich in die Datenbank ein. Das Programm führte ihn von einem Datenübertragungsblock zum nächsten und bat mit angenehmer, beruhigender Stimme um spezifische Informationen. In das mit NAME DES PATIENTEN gekennzeichnete Feld trug er »Unterrichtssitzung« ein, damit der Computer keine der Informationen, die er gleich hervorbringen würde, in seinen permanenten Datenspeicher aufnahm. So konnte er auch die zeitraubenden statistischen Datenfelder umgehen und direkt das Feld SYMPTOME ansteuern. Bring es hinter dich, bevor du dazu zu krank bist, ermahnte er sich. Unter Symptome gab er Fieber, Kopfschmerzen, geschwollener Hals, Steifheit, Übelkeit ein.

Der Apparat ließ ihn einige Minuten warten, während die Informationen weitergegeben wurden. Die Wartezeit kam ihm endlos vor, obwohl sie nicht länger als fünfzehn oder zwanzig Sekunden dauerte. Seine gesamte physische Wahrnehmung und sein Zeitgefühl waren verzerrt, und während er wartete, hatte er das Empfinden, ein wenig die Orientierung zu verlieren. Es kam ihm wie eine Rettung vor, als eine Liste potentieller Diagnosen auf dem Bildschirm erschien und der Computer ihn dann bat, die Felder anzuklicken, über die er zusätzliche Informationen wünschte.

Die Liste, die er vor sich hatte, war alles andere als beruhigend. Seine Panik wuchs, während er sie durchlas.

Hodgkinsche Krankheit: Krebserkrankung der Lymphdrüsen ...

Er überging das Feld.

Influenza: Virusinfektion der oberen Atemwege

Er markierte es.

Mononukleose: Viruserkrankung, die ausgeprägte Müdigkeit hervorruft ...

Vielleicht. Aber wahrscheinlich nicht.

Mumps: Viruserkrankung in der Kindheit, gekennzeichnet durch .

Er war geimpft.

Pest: Bakterielle Infektion, verursacht durch das Bakterium Yersinia pestis ...

Er hörte zu lesen auf und starrte den Bildschirm an. Yersinia pestis. Er hatte diesen Namen kürzlich gesehen, doch sein Gehirn konnte keine Verbindung herstellen. Er lehnte sich zurück und konzentrierte sich, war aber sehr schnell frustriert wegen seiner Unfähigkeit, sich an diese kleine, aber offenbar wichtige Einzelheit zu erinnern. Er wußte noch nicht, daß ein neugeborener Verwandter des Bakteriums mit dem vertrauten, aber unberührba- ren Namen tatsächlich die Ursache seiner höchst ärgerlichen Gedächtnislücken war.

Als ihm schließlich einfiel, wo er ihn gesehen hatte, verließ er das Programm und schaltete den Computer aus. Er saß auf dem Stuhl und starrte den grauen, dunklen Bildschirm an, zitternd, mit wild pochendem Herzen, und obwohl er sich einige Minuten lang nicht bewegte, lief ihm der Schweiß förmlich von Stirn und Oberlippe. Er stand auf, und eine Welle von Übelkeit erfaßte ihn, so daß er sich in einen in der Nähe stehenden Papierkorb übergab. Danach würgte er trocken, ohne noch etwas hervorzubringen, denn er hatte seit seiner Erkrankung keinen Appetit gehabt, und sein rebellischer Magen enthielt nichts mehr, was er hätte von sich geben können.

Als die Krämpfe endlich aufhörten, schloß er die Bibliothekstür wieder und ging langsam zum Labor. Er hatte schreckliche Angst vor dem, was er dort finden würde, aber er mußte es wissen; die Koinzidenz war einfach zu auffällig, um sie zu ignorieren.

Langsam ging er durch die weißen und pastell- farbenen Gänge, eine Hand an der Wand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, die andere auf dem schmerzenden Magen. Am Wochenende schalteten die automatischen Timer nur jede dritte Glühbirne ein, und die Korridore, die hell erleuchtet heiter wirkten, kamen ihm jetzt düster vor. Die gleiche Dämmerung herrschte in seinem Gehirn; jeder Schritt hallte von den frisch gebohnerten Böden wider und dröhnte in seinen Ohren, ließ ihn erzittern, machte ihn noch benommener.

Als er das Labor erreichte, ging er sofort zu dem Buch, das Frank offen neben dem Computersystem zur Identifizierung von Mirkoorganismen hatte liegenlassen. Er nahm es zur Hand und schlug den Teil mit den Enterobakterien auf. Dabei sah er, daß unter dem Buch ein Stück Papier mit einer Graphik lag. Er hob es auf und sah es sich genauer an. In der unteren linken Ecke standen Datei und Datum. Er las das Datum des Tages, an dem Frank gestorben war, und den Namen Gertrude.

Der Dateiname löste erneute Frustration aus; er schloß die Augen und durchsuchte sein Gehirn, wollte unbedingt die Information finden, die er brauchte. Mein Kopf fühlt sich so dumpf an, dachte er und fragte sich, ob das Gefühl wohl dem entsprach, was ein dummer Mensch jeden Tag erlebte. Triumphierend kam er schließlich darauf, daß er Caroline nach dem Namen Gertrude gefragt hatte; sie hatte gesagt, es sei der Name, den sie der Mikrobe gegeben hatten, die Frank auf ihrer Stoffprobe gefunden hatte.

Dieselbe Probe war der Explosion von P. coli früher an diesem Morgen ausgesetzt gewesen.

Er hatte die Probe berührt, Caroline ebenfalls. Ted erinnerte sich nicht, daß Janie oder Bruce sie ebenfalls berührt hatten. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß Bruce damit in Berührung gekommen war, doch die andere Frau hatte sie wahrscheinlich angefaßt. Ich muß diese Stoffprobe finden ... Wenn ich nur nicht dieses dumpfe Gefühl im Kopf hätte ...

Er schaltete beide Computer ein. Beide hatten eine Funktion »Frühere Operationen«, die dem Benutzer erlaubte, vorher auf diesem System durchgeführte Operationen wieder abzurufen, wobei er direkt wieder an die Stelle des Programms geführt wurde, an der er es zuvor verlassen hatte. Die Daten, Zeiten und Bediener waren aufgelistet, um die Suche zu beschleunigen. Ted hatte Beschwerden darüber, es sei hinterhältig, daß die leitenden Angestellten jederzeit feststellen konnten, was die Techniker machten und wann sie es machten, damit beantwortet, daß die Programmierer diese Funktion in jeden Computer des Instituts einbauen mußten; zwei Techniker hatten daraufhin auf der Stelle gekündigt. Er hatte sie sofort durch willfährigeres Personal ersetzt.

Er ging zuerst zu dem Mikroskopsystem, wo Frank die Stoffprobe zurückgelassen hatte. Er rief die Liste der früheren Operationen auf und ging zurück zu dem Tag, an dem Frank gestorben war.

Aufgeführt waren drei Dateien: Gertrude, Frank und Frank2. Dann ging er zu dem System, auf dem MIC installiert war.

Auf der Liste, unmittelbar hinter »Frank2«, stand der Eintrag »MIC ID Yersinia pestis«.

Grauenerregende Möglichkeiten schossen ihm durch den Kopf, als er das MIC-Programm aktivierte und die Datei mit der Graphik Yersinia pestis aufrief. Er hielt den Ausdruck von Gertrude in der Hand, um die auf dem Bildschirm erscheinende Abbildung damit zu vergleichen. Nach ein paar Sekunden entrollte sich das Bild auf dem Schirm von oben nach unten. Die Graphiken waren nahezu identisch; er hätte keinen Computer gebraucht, um festzustellen, daß es sich um die gleiche Mikrobe handelte.

Seine Finger auf der Computertastatur zitterten, als er das Programm verließ und wieder die Datenbank aufrief, die er in der Bibliothek durchgesehen hatte. Er war den Tränen nahe und murmelte leise vor sich hin: Irgendwie werden sie mich finden; sie werden mich in ihren grünen Anzügen abholen und in eine dieser großen gelben biologischen Entsorgungstüten stecken und einfach wegwerfen ...

Diesmal ging er über die Symptomsuche hinweg und rief direkt die Datei für Pest auf.

Die Pest ist eine bakterielle Erkrankung, verursacht durch das Enterobakterium Yersinia pestis, und ist in signifikanten Nestern überall auf der Welt noch immer zu finden, insbesondere in Südostasien (Vietnam, China) und im amerikanischen Südwesten. Die Bakterien werden durch Fliegen übertragen, die auf Nagetieren und kleinen Säugetieren leben; große Säugetiere wie Rotwild und Rinder sind ebenfalls gelegentlich Träger der Fliegen. Das Bakterium geht auf die Fliege über, wenn diese den Träger beißt, und vermehrt sich im Verdauungstrakt der Fliege, bis der Magen des Insekts mit Bakterien gefüllt ist. Beim Beißen anderer Tiere überträgt die Fliege die Mikrobe in den Blutkreislauf des Bißopfers, welches dann infiziert ist. Die Krankheit kann auch durch direkten Kontakt mit infektiösem Material wie Körperflüssigkeiten oder kontaminierter Kleidung übertragen werden.

Schweiß rann über Teds Gesicht und durchtränkte den Kragen seines Pullovers.

Es gibt drei Formen der Krankheit, sämtlich durch dieselbe Mikrobe verursacht. Bei der bubonischen oder Beulenform gehören zu den frühen Symptomen Fieber, Kopfschmerzen, minimale Schwellung der Lymphdrüsen, vor allem im Hals- und Lendenbereich. Unbehandelt schreitet die Krankheit rasch mit ausgeprägteren Symptomen fort, darunter massive Schwellungen der Lymphknoten, Blutungen innerhalb der umgebenden Gewebe. Beulen (Bubonen) bilden sich innerhalb der eigentlichen Knoten und erscheinen oft als Auswuchs an der Oberfläche des Knotenbereichs. Sie können starke Schmerzen verursachen, vor allem in den Gelenken und Extremitäten. Die Patienten können auch unter einer Beeinträchtigung des Gedächtnisses leiden und antisoziales oder uncharakteristisches Verhalten an den Tag legen. Auch tiefe Depressionen können auftreten.

Unwillkürlich berührte Ted seinen Hals und tastete ihn noch einmal ab, als wolle sein Kopf nicht glauben, was er in seinem Herzen bereits als wahr erkannt hatte. Er las weiter.

Unbehandelt entwickelt sich die Beulenpest häufig zur pneumonischen Pest, bei der Bakterien die Atmungsorgane befallen, indem sie sich an der Innenseite der Lungen festsetzen. In dieser Form ist die Krankheit am ansteckendsten, denn das Sputum und Flüssigkeitströpfchen, die bei normaler Atmung ausgeschieden werden, enthalten häufig lebensfähige Bakterien.

Ted legte sich die Hand auf den Mund, während er atmete.

Die blutvergiftende Pest tritt auf, wenn die Bakterien in den Blutkreislauf und in lebenswichtige Organe eindringen. Wenn die Bakterien ihren normalen Lebenszyklus vollenden und absterben, werden große Mengen toxischen Sekrets direkt in den Blutkreislauf abgegeben; Nieren und Leber können nekrotisch werden, wenn sie versuchen, das System von Toxinen zu reinigen. Am Ende erliegt das Opfer einem toxischen Schock. Der Verlauf dieser Form der Pest ist gewöhnlich sehr schnell und fast immer tödlich.

Ted schwitzte jetzt noch stärker; er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wischte sich dann die Hand am Hosenbein ab. Er hob die Hand, starrte sie an und fragte sich entsetzt, wie viele Millionen Bakterien er gerade an den Stoff seiner Hose abgegeben hatte.

Gängigste Indikation ist eine längere Gabe von oralen und parenteralen Antibiotika. Am wirksamsten sind Streptomyzin, Chloramphenikol und Tetrazykline. Die Beulen können geöffnet werden, um den Druck zu lindern, und in der bubonischen Form mit steriler Salzlösung ausgespült werden, wobei darauf geachtet werden sollte, daß es infolge des chirurgischen Eingriffs nicht zu Sekundärinfektionen kommt. In den meisten Fällen muß mit der Behandlung binnen 72 Stunden nach Auftreten der Symptome begonnen werden, damit diese wirksam ist. Antikörper früherer Opfer enthaltendes Serum kann verwendet werden, um die traditionelle Behandlung mit Antibiotika zu unterstützen oder zu ersetzen.

Alle Patienten sollten isoliert werden, und sämtliche Personen, die der Krankheit ausgesetzt waren, sollten in Quarantäne gehalten werden, bis die maximale Inkubationszeit verstrichen ist (gewöhnlich drei Wochen). Medizinisches Personal sollte umfassende Vorsichtsmaßnahmen treffen, wenn es mit Gewebe oder Körperausscheidungen infizierter oder exponierter Personen umgeht.

Nach internationaler Übereinkunft müssen alle Pestfälle der Weltgesundheitsorganisation gemeldet werden. Die amerikanischen Gesundheitsbehörden können über Info-Fax-System weitere Informationen zur Verfügung stellen.

Ted war jetzt völlig außer sich und versuchte hektisch, rückwärts zu zählen. Unter großen Schwierigkeiten kam er zu dem Schluß, daß fast achtundvierzig Stunden vergangen waren, seit seine Symptome begonnen hatten. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sein Kopf dröhnte, während das mit Bakterien verseuchte Blut hindurchströmte. Das ist ungeheuerlich, dachte er erregt, das ist völliger Wahnsinn. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, nicht im Mittelalter! Wie ist das passiert? Doch die Antwort auf diese Frage kannte er schon. Er hatte versagt. Er allein war für dieses Chaos verantwortlich, und es gab handfeste Beweise, um das zu belegen, von denen nur ein Teil seiner unmittelbaren Kontrolle zugänglich war. Infolge seiner eigenen Inkompetenz litt er unter einer potentiell tödlichen und hochinfektiösen Krank- heit, und wenn er sich auf normalem Wege behandeln ließ, würde die ganze wissenschaftliche Gemeinde erfahren, was passiert war. Er würde sein ordentliches, präzises Leben nie wieder aufbauen können.

Er wußte, daß er behandelt werden mußte; sonst würde er wahrscheinlich sterben. Aber er konnte unmöglich seinen Arzt aufsuchen; ihm war klar, daß er direkt in die medizinische Abteilung des Instituts gehen und sich nehmen mußte, was er brauchte, ohne daß irgend jemand davon erfuhr.

Er verließ das Labor und wankte durch die schlecht erleuchteten Korridore zur medizinischen Abteilung. Bitte, laß nicht zu, daß mich jemand sieht, betete er zu jedem Gott, der bereit war, ihn zu hören. Sein hektisches Gebet wurde erhört, denn er erreichte die Abteilung, die geschlossen war, unbemerkt. Er konnte einfach hineingehen und sich sämtliche pharmazeutische Produkte nehmen, die er brauchte. Er wußte, daß die Medikamente nach Typen geordnet waren, und ging daher sofort zu dem Bereich, wo sich sämtliche Antibiotika befanden, darunter auch solche, die nun obsolet waren, aber auch einige wenige, die noch eine gewisse Wirkung hatten.

Er schritt Reihe um Reihe erbärmlich nutzloser Ampullen ab und fragte sich, warum sie noch immer gelagert wurden; Hoffnung stirbt nie, dachte er. Wir sind so dumm. Warum waren wir nicht vorsichtiger im Gebrauch dieser Medikamente? Eines nach dem anderen waren alle Antibiotika, auf die die Menschheit sich einst verlassen hatte, unwirksam gegen die Bakterien geworden, die zu kontrollieren man sie entwickelt hatte; die Zeiten, als ein Kind von einer leicht besorgten Mutter wegen einer Streptokokkeninfektion im Hals in die Klinik gebracht und dann mit einem Arm voller Antibiotika nach Hause geschickt worden war, waren längst vorbei. Heute, das wußte er, starben solche Kinder in Isolierstationen, und ihre Körper waren völlig verwüstet von Mikroben, die sich dem Überleben genetisch besser angepaßt hatten als ihre menschlichen Wirte.

Aber dies ist eine alte Krankheit, und ein altes Medikament kann vielleicht das leisten, was ich nötig habe. Der Gedanke tröstete ihn, aber nur kurz, dann geriet er wieder in Panik und überlegte, was er tun sollte, wenn nicht wenigstens eines der Medikamente, die er brauchte, vorrätig war. Die drei in dem Computerprogramm genannten Antibiotika waren archaischer als die meisten anderen; alle drei hatten vor mehr als fünf Jahren ihre Wirkung auf die meisten Bakterienstämme verloren und wurden nicht mehr hergestellt. Verzweifelt hoffte er, daß irgendein sammelwütiger Pharmazeut mit einem Sinn für Geschichte etwas für die Nachwelt aufbewahrt hatte, nur, um es hin und wieder herauszuholen und irgendeinen jungen Studenten mit den Schwierigkeiten archaischer Behandlungsmethoden zu beeindrucken. Wir mußten jeden Tag fünfzehn Kilometer durch Schnee und Sturm zu Fuß zum Apotheker laufen ... Wahrscheinlicher war allerdings, und darauf hoffte er nun, daß irgend jemand zu faul gewesen war, die alten tiefgekühlten Proben auszusortieren. Lieber Gott, bitte, laß noch etwas dasein . das ist meine einzige Hoffnung! Er würde viele Erklärungen abgeben müssen, um an die Antikörper eines früheren Opfers heranzukommen, wenn keine Medikamente zur Verfügung standen.

Als wollte man ein Haar von dem Hund, der einen gebissen hat, dachte er, und trotz seines blanken Entsetzens hätte er beinahe gelacht.

Zehn qualvoll lange Minuten vergingen, bis er drei tiefgekühlte Ampullen injizierbares Tetrazyklin in der hintersten Ecke eines Gefrierschrankes fand; seine Hände waren taub, und er mußte innehalten, um sie aufzuwärmen, ehe er es riskierte, die kostbaren Ampullen zu entnehmen. Wenn er eine davon fallenließ, würde er wahrscheinlich sterben, genau wie Caroline, falls sie auch infiziert war, und eine Menge anderer Leute.

Er mußte sich ausruhen; sein Herz schlug wieder wie rasend, und sein Kopf fühlte sich noch dump- fer an als vorher. Gequält dachte er daran, daß er sich für Diagnose und Behandlung an einen Computer gewandt und mit keinem menschlichen Wesen gesprochen hatte. Compudoc-Lizenzen sprossen aus dem Boden wie vor ein paar Jahrzehnten McDonald’s-Restaurants, und ihre neongrünen Merkurstäbe waren heute ein ebenso leicht erkennbares Wahrzeichen wie einst die goldenen Bögen. Er konnte das ganze grauenhafte Szenario vor seinem inneren Auge sehen: Tausende von Pestopfern, mit dem Handgelenk an diese computerisierten Monster gefesselt, mit geschwollenen Hälsen und vorstehenden Augen, schweißtriefend, bewacht von einem gnadenlosen Biocop, der schießen würde, bevor er Fragen stellte.

Hör auf, Zeit zu vergeuden! schimpfte er sich wütend und zwang sich aufzustehen. Du hast keine Zeit zu verschwenden! Er packte eine Handvoll Spritzen, die in einem Vorratsschrank lagen, und stopfte alle bis auf eine in seine Tasche. Die würde er benutzen, um sich eine ordentliche Dosis Tetrazyklin zu spritzen, sobald es aufgetaut war. Diesmal passe ich auf und lockere den Stöpsel, bevor der Druck zu stark wird . Aus dem Augenwinkel sah er in einem Glasschrank eine Flasche mit Aspirin; er nahm sie und steckte sie zu den anderen Sachen in seine Tasche. Bewaffnet mit einem ganzen Arsenal gegen seinen stummen Feind, schaltete Ted das Licht aus und machte sich wieder auf den Weg ins Labor. Dort waren noch Spuren zu verwischen.

Er konnte alle Beweise seines Versagens zerstören, nur nicht die Liste der Vorräte, die er Frank ausgehändigt hatte, doch ohne die entsprechenden Computerdateien würde die nicht viel bedeuten. Er wußte, er konnte die Dateien und die Programme, die sie stützten, mühelos zerstören. Ohne zu zögern schaltete er beide Systeme ein.

Er umging das Betriebssystem ganz und wandte sich sofort dem Hauptmenü zu. Gott segne den Geist von DOS, dachte er dankbar. Dann tippte er ein:

Löschen *. *

Er drückte die Eingabetaste. Auf dem Bildschirm erschien die Antwort:

Alle Dateien werden gelöscht. Sind Sie sicher? (j, n)

Er tippte j für ja.

Bitte geben Sie Ihr Paßwort ein.

Er gehorchte.

Ein oder zwei Augenblicke lang hörte er ein leises Surren, während der gesamte Inhalt der Festplatte gelöscht und dann der Bildschirm leer wurde, was den Tod einer künstlichen Intelligenz anzeigte. Software im Wert von einer Million Dollar verschwand mit einem kurzen elektronischen Signal. Er wiederholte die Prozedur bei dem zweiten System, ohne Gnade und ohne Reue.

Dann stand Ted auf und wankte unsicher zu dem Lagerraum, wo Caroline, wie er glaubte, die Stoffprobe gelagert hatte; er sah sich das Fach an, in dem die kleineren Gegenstände aufbewahrt wurden, doch er fand den Stoff nicht, und nachdem er fünfzehn Minuten gesucht hatte, gab er auf. Er versuchte zu überlegen, wo Caroline die Probe gelassen haben könnte; es gab im Institut keinen anderen Platz dafür; die restlichen Fächer des Gefrierschrankes waren wegen der toxischen Natur ihres Inhalts gesichert. Er sah die Ironie in der Tatsache, daß von allen Gegenständen, die durch dieses Labor gegangen waren, ausgerechnet diese Probe, die am wenigsten gesicherte, zu den tödlichsten gehörte. Fast die Hälfte der Bevölkerung Europas und Asiens war im vierzehnten Jahrhundert der Beulenpest zum Opfer gefallen. Und es könnte wieder passieren, dachte er, weil nun verschiedene Bakterienstämme regelmäßig medikamentenresis- tentes genetisches Material miteinander teilen. Wütend trat er gegen einen nahen Stuhl; sein Fuß tat elend weh, und er setzte sich und murmelte unzusammenhängend vor sich hin.

Der Parkplatz war besetzt, als Janie und Bruce beim Depot in Leeds ankamen, und Bruce ließ den Wagen deshalb gleich außerhalb des Tors auf der Zufahrtsstraße stehen. Sie nahmen ihre Aktentaschen vom Rücksitz und gingen zum Sicherheitsbereich, wo Bruce die Verhandlungen mit dem Wachmann wieder aufnahm, wo er sie gestern abgebrochen hatte. Vorher hatte er angerufen und festgestellt, daß Ted sich noch immer nicht gemeldet hatte. Dennoch lag eine gewisse hoffnungsvolle Erwartung in der Luft, als er und Janie das Gebäude betraten. Auf die eine oder andere Art würden sie gleich wissen, womit sie es zu tun hatten.

Der Wachmann blätterte den Stapel Papiere durch, die Bruce ausgefüllt hatte. »Ich habe alle Zulassungen geprüft, und ich bin froh, Ihnen sagen zu können, daß alles in Ordnung ist. Tut mir leid, daß wir das nicht schon gestern nachmittag klären konnten, aber Sie verstehen sicher, daß wir gar nicht vorsichtig genug sein können. Sie können jetzt durchgehen, und wir bringen Ihnen dann die Sachen aus dem Lagerraum.« Er warf Janie einen kurzen Blick zu. »Ihre Begleiterin wird hier draußen warten müssen, aber es sollte nicht zu lange dauern. Hier entlang, bitte.«

Der Wachmann drehte sich um und ging auf die Tür des Warteraumes zu. Bruce lächelte Janie an und hob einen Daumen; sie erwiderte das Lächeln und seine beruhigende Geste. Sie war ungeheuer erleichtert, daß die Proben bald wieder in ihrem Besitz sein würden. Und sie war überaus dankbar, daß Bruce ihr geholfen hatte; er hatte sich in all den Schwierigkeiten als hochanständiger Charakter erwiesen. Sie stellte fest, daß sie ihn von Minute zu Minute mehr mochte und respektierte.

Sie blieb im Warteraum zurück und ging ungeduldig auf und ab, während Bruce dem Wachmann folgte. Nervös fummelte sie an ihrem Haar herum und schob ein paar widerspenstige Strähnen hinter die Ohren. Dabei berührte etwas leicht ihre Brust. Sie schaute nach unten und sah ärgerlich, daß einer ihrer Ohrringe sich gelöst hatte, zu Boden gefallen war und nun davonrollte. Überraschend schnell bewegte er sich auf die Sicherheitstür zu. Instinktiv trat Janie vor, um ihn aufzuhalten, und bückte sich, um ihn aufzuheben.

Der Ohrring rollte nur einen Zentimeter zu weit. Sobald ihre Hand sich in die Reichweite des Sicherheitsscanners bewegte, prüfte dieser ihr genetisches Material und verglich die Werte mit den gespeicherten Bodyprintings. Er würde festhalten, daß sie die Tür an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Stunde passiert hatte. Doch an- ders als bei Bruce fand der Computer für Janie keine gespeicherten Daten und wurde verständlicherweise ärgerlich. Binnen Sekunden ertönte ein lauter elektronischer Alarm. Kein Zutritt! Der Wachmann fuhr herum, um zu sehen, was den Alarm ausgelöst hatte. Blitzschnell hatte er seine Waffe gezogen und zielte auf Bruce, der zwischen ihm und Janie stand.

»Rühren Sie sich nicht, keiner von Ihnen«, sagte er streng.

Wie alle Wachleute bei medizinischen Einrichtungen war er darauf trainiert, in jeder Situation mit dem Schlimmsten zu rechnen und seine Reaktion erst nach sorgfaltiger Analyse der Umstände abzumildern. Benutzen Sie Ihr äußerstes Hilfsmittel zuerst, hatten sie ihm bei der Ausbildung eingeprägt. Er richtete seine Waffe direkt auf die »Eindringlinge« und ließ weder Bruce noch Janie im Zweifel darüber, daß jede abrupte Bewegung ihr Leben schnell beenden würde.

Als seine Gefangenen reglos genug verharrten, um ihn zufriedenzustellen, sagte der Wachmann: »Bitte gehen Sie zur Seite, Dr. Ransom.« Sein Ton war zwar höflich, aber Bruce wußte, daß dieser Mann es ernst meinte. Doch er blieb ruhig stehen und verblüffte Janie mit diesem gefährlichen Beschützerverhalten. »Was werden Sie mit ihr machen?« fragte er den Wachmann.

»Ich fürchte, ich muß Sie beide in Gewahrsam nehmen, Sir.«

»Uns beide?« sagte Bruce ungläubig. »Was ist mit meiner Zulassung?«

Der Wachmann schaute auf den Lauf seiner Waffe hinunter und antwortete: »Sir, wie Sie wissen, unterliegt der Zutritt zu dieser Einrichtung strengen Einschränkungen. Einigen Zivilpersonen wie Ihnen wird er nach Überprüfung der entsprechenden Zulassungen gewahrt, aber ungeprintete Personen erhalten niemals Zutritt. Nie«, wiederholte er betont. »Und dieser Alarm bedeutet, daß die Dame nicht geprintet ist.«

Bruce war wütend. »Das ist doch unerhört! Ich habe noch nie von dieser Vorschrift gehört.«

Noch ehe er weiter protestieren konnte, kamen vier zusätzliche Biocops angerannt, die chemischen Gewehre im Anschlag. Rasch waren Bruce und Janie eingekreist.

Kurz darauf marschierten sie durch einen langen Korridor zum anderen Ende eines Gebäudeflügels, angetrieben von den harten Gewehrläufen in ihrem Rücken. Sie betraten eine Art Haftraum mit vergitterten Zellen. Janie wurde in eine davon gesperrt, Bruce in geringer Entfernung in eine zweite. Nachdem er beide Zellentüren verschlossen hatte, trat der Biocop an einen Schirm an der Wand außerhalb der Reichweite von Bruces Zelle und schob eine Plastikkarte in den Schlitz. Dann drückte er auf zwei Knöpfe, und die Türen beider Zellen wurden mit einem Klicken verschlossen. Der Biocop kam noch einmal zurück und rüttelte an den Gitterstäben, um sich davon zu überzeugen. Dann verließ er den Raum mit den Worten: »Wegen Ihrer Habseligkeiten komme ich später zurück.« Die Haupttür fiel hinter ihm zu, und das Klappen hallte in dem kleinen, sparsam möblierten Raum bedrohlich nach.

Janie sank an einer Wand zusammen und umfaßte ihre Knie, benommen von dieser plötzlichen Wendung der Ereignisse.

Bruce stand in seiner Zelle, die Hände über dem Kopf um die Gitterstäbe geklammert, und sagte nichts. Das Schweigen war drückend.

»Bruce?« sagte Janie ganz leise.

Er antwortete nicht, sondern blickte auf und sah sie mit einem gequälten Blick an.

»Ich glaube, wir sind nicht mehr in Kansas.«