18
Janie und Bruce gingen langsam durch die Halle ihres Londoner Hotels und kosteten die letzten paar Augenblicke aus, die sie miteinander allein waren. »Mission erfüllt«, sagte er.
Janie sah ihn an und grinste. »Nicht gerade sehr schön erfüllt, aber immerhin. Die Reise hatte jedenfalls ihre Höhepunkte. Gegen Ende habe ich allmählich vergessen, warum wir sie überhaupt angetreten hatten.«
Bruce lachte. »Ich auch. Es waren diese Bodenproben, nicht? Ich werde dafür sorgen, daß sie ins Kühllager kommen«, sagte er.
»Und laß sie bewachen«, sagte Janie.
»Oh, keine Sorge«, sagte er. »Ich habe vor, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen.« Er blieb stehen und faßte ihre Hand; sie standen in der Mitte der Halle und sahen sich an. Ringsum gingen Leute vorbei. »Ich muß sagen, ich glaube, es hat ein recht gutes Ende genommen«, sagte er.
»Da stimme ich dir zu. Ich bin selbst überrascht, wie leid es mir tut, daß es vorbei ist.«
»Ich fahre mit dir nach oben«, bot er an. »Ich begleite dich bis zu deiner Tür.« »Eigentlich«, sagte sie, »hatte ich daran gedacht, die Treppe zu nehmen. Ich könnte ein bißchen Bewegung brauchen.« Sie lächelte und berührte seine Wange. »Es dauert länger. Ich bin noch nicht ganz bereit, dich gehen zu lassen.«
Trotzdem stöhnte Bruce bei der Vorstellung, sechs Stockwerke hochlaufen zu müssen.
»Ich habe dich erschöpft, was?« scherzte Janie. »Dabei fand ich, daß du so fit aussiehst. Muß am Mondlicht gelegen haben.«
Er grinste. »Wenn ich’s mir recht überlege, habe ich heute morgen einen ganz schönen Muskelkater. Okay, ich gestehe. Du hast mich erschöpft. Ich sollte wohl versuchen, wieder zu Kräften zu kommen.«
»Dann sollten wir unbedingt den Aufzug nehmen.«
Als sie im sechsten Stock aus der Kabine traten, lächelten und strahlten sie noch immer. Langsam gingen sie zur Tür von Janies Suite. Bruce legte die Arme um sie und fing an, sie zum Abschied zu küssen, als sie vom Geräusch eines Türschlosses gestört wurden, das gedreht wurde. Es unterbrach den Rhythmus ihres Kusses. Abrupt fuhren sie auseinander und schauten in Richtung des Geräuschs. Ein paar Türen weiter erschien eine Hand, um die Zeitung zu ergreifen, die auf dem Teppich lag, der erste konkrete Beweis dafür, daß die reale Welt tatsächlich versuchen würde, das Nachglühen ihrer Idylle, die eine Nacht gedauert hatte, auszulöschen. Dann verschwand die Hand, und die Tür wurde wieder zugezogen.
Janie runzelte die Stirn. »Tun wir das drinnen.«
»Gute Idee«, sagte Bruce.
Sie zog die Magnetkarte aus ihrer Brieftasche und öffnete die Tür, doch ehe sie eintrat, schaute sie zu Carolines Tür und bemerkte das BITTE- NICHT-STÖREN-Schild, das dort immer noch hing. Sie tippte Bruce auf den Arm und wies auf das Schild.
»Ach du liebe Güte«, sagte sie ein wenig verschnupft, »die Streunerin ist anscheinend zurückgekommen; sieht so aus, als müßte sie etwas ausschlafen.«
»Ist das Carolines Suite?« fragte Bruce.
»Ja. Du hattest vermutlich recht. Sie muß jemanden kennengelernt haben. Vermutlich erwartet mich inzwischen eine Nachricht von ihr.« Sie gingen hinein, und Janie zog ihre Jacke aus.
»Warte eine Minute, bis ich das Geheimnis aufgeklärt habe, dann gebe ich dir einen ordentlichen Abschiedskuß«, sagte sie.
»Kein Problem«, sagte Bruce. »Du bist diejenige, die wenig Zeit hat.«
»Erinnere mich nicht daran«, sagte Janie. Sie ging zum Telefon und wollte die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter abrufen, aber es gab keine. Sie wählte die Nummer von Carolines Zimmer, aber niemand meldete sich.
Sie legte den Hörer auf. »Entweder ist sie nicht da, oder sie hat jemanden bei sich und meldet sich nicht. Aber ich verstehe das nicht.«
»Selbst wenn sie anderweitig beschäftigt sein sollte, weiß sie, daß ich sie zu erreichen versuche.«
»Vielleicht hat sie andere Prioritäten«, sagte Bruce grinsend, kam zu ihr und nahm sie in die Arme.
Plötzlich waren seine Lippen auf ihren, und sie spürte die Wärme seines Kusses bis in die Zehen, bis in Schenkel und Bauch, die rasche Berührung seiner Zunge, seine Hand in ihrem Rücken, die sie dichter an ihn zog. Sie spürte, wie ihre Sorgen dahinschmolzen, ihr Widerstand allmählich zerbrach, und sie preßte sich an ihn.
»Hmmm«, sagte er, leichter Kuß auf ihre Nasenspitze, »vielleicht sollten wir -« kleiner Kuß auf die Stirn, »das Schild -« Knabbern an ihrer Wange, »Bitte nicht stören ...«
Das BITTE-NICHT-STÖREN-Schild, dachte sie.
». auch an diese Tür .«
Auf einmal rasten Janies Gedanken. »Was hast du gesagt?« fragte sie.
Er löste sich ein wenig von ihr. »Ich habe gesagt, vielleicht sollten wir das BITTE-NICHT-STÖREN- Schild auch an diese Tür .«
Das BITTE-NICHT-STÖREN-Schild ...
Abrupt riß sie sich los und ließ ihn mit leeren Armen und verwundert zurück. »Bruce, wenn du nicht in deinem Zimmer wärst, warum würdest du dann ein BITTE-NICHT-STÖREN-Schild an die Tür hängen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich würde es nicht aufhängen. Vielleicht hat sie nur vergessen, es wegzunehmen, ehe sie fortging.«
»Nicht Caroline. Sie achtete geradezu zwanghaft auf Details. Deswegen habe ich sie gebeten, mitzukommen und mir bei diesem Projekt zu helfen. Sie vergißt nie etwas.« Janie starrte einen Augenblick unschlüssig zu Boden. Dann blickte sie auf und erklärte entschlossen: »Das ist es. Es ist mir egal, wenn ich sie mittendrin störe. Ich gehe rein«, sagte sie.
»Wie willst du das machen?« fragte Bruce.
»Wir haben beide einen zweiten Schlüssel für das Zimmer der anderen«, sagte sie zu ihm. Ihr Gesicht verriet Unruhe, und sie fügte hinzu: »Ich hoffe bloß, daß alles in Ordnung ist.«
Rasch ging sie aus dem Zimmer und ließ ihre eigene Tür offen. Sie nahm das BITTE-NICHT- STÖREN-Schild ab und steckte die magnetische Plastikkarte in den Schlitz. Als das Schloß klickte, öffnete sie die Tür einen Spalt und sagte etwas zögernd: »Hallo?« Sie hoffte Caroline anzutreffen, wenn auch beschäftigt. Niemand antwortete.
Sie öffnete die Tür weiter, um hineinzugehen, doch der Geruch, der ihr entgegenschlug, veranlaß- te sie, keuchend auf den Flur zurückzuweichen. Sie prallte gegen Bruce, der direkt hinter ihr stand, und schloß die Tür wieder.
Sie wußten beide, was der Geruch bedeutete. Sie sah Bruce bittend an, und er sagte: »Willst du, daß ich die Polizei rufe?«
Sie hatte viele, viele Leichen gesehen, Hunderte vielleicht, in verschiedenen Stadien der Zersetzung, doch Janie hatte nie zuvor selbst eine entdeckt, nicht einmal während der Ausbrüche. Sie stand im Gang vor Carolines Zimmertür und zitterte vor Angst. »Nein«, sagte sie mit mehr Entschlossenheit als sie empfand. »Ich denke, ich sehe zuerst nach, was los ist. Aber ich habe wirklich Angst vor dem, was wir finden werden.«
Bruce zog sie an sich und hielt sie ein paar Sekunden fest. »Ich bin bei dir, Janie. Wir sind zusammen hier.«
Getröstet durch seine Gegenwart, atmete sie einmal tief die saubere Luft ein, öffnete die Tür wieder, und zusammen betraten sie das Zimmer. Als sie den Lichtschalter bediente, erhob sich ein Schwarm Fliegen von dem Bodenbereich auf der anderen Seite des Bettes.
»O Gott, Bruce, was ist, wenn sie tot ist .« Sie eilten auf die andere Seite des Zimmers und sahen den steifen Leichnam von Ted Cummings auf dem Boden liegen, genauso, wie er gelandet war, als Caroline ihn von ihrem Körper gestoßen hatte.
Janie stand mit aufgerissenem Mund ungläubig vor dem Bild, das sich ihr bot. Bruce wandte sich ab, erbrach sich in einen Papierkorb und wischte sich dann mit der Hand den Mund ab.
Er hielt sich vor dem Gestank die Nase zu und sagte: »Mein Gott, was ist hier passiert?«
Janie eilte zum Fenster und riß es auf, so weit es ging. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie hektisch. »Was in aller Welt macht Ted in Carolines Zimmer? Und wo zum Teufel ist Caroline?«
Bruce kniete nieder, um sich den Leichnam genauer anzusehen. »Wir sollten besser nichts anfassen. Wir könnten Beweise zerstören.«
Janie beobachtete ihn schockiert. »Beweise für was? Willst du damit sagen, du denkst, daß Caroline das getan hat?«
Er sah sie vielsagend an und antwortete: »Janie, es ist ihr Zimmer, er ist tot, und sie ist nicht da. Was soll ich denn sonst denken?«
Sie kämpfte ihren Zorn nieder und kniete sich neben ihn. »Wir haben doch keine Ahnung, wie er gestorben ist.« Sie beugte sich vor und sah sich Teds Gesicht an. »Ich sehe keine traumatischen
Male, und nichts deutet darauf hin, daß sie gekämpft haben könnten.« Sie beugte sich tiefer hinunter, hielt den Atem an und betrachtete die Leiche genau.
»Verdammt«, sagte sie. »Ich muß näher heran.« Sie stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab, obwohl sie die Leiche nicht berührt hatte. »Ich habe Handschuhe und Masken in meinem Zimmer. Holen wir sie.« Sie warf ihm einen intensiven Blick zu, als er aufstand, und sagte: »Caroline hat das nicht getan.«
Bruce war nicht davon überzeugt, als er ihr aus dem Raum folgte.
Wie John Sandhaus fand, starrte ihn der Umschlag aus London schon viel zu lange von der Ecke seines Schreibtischs aus an. Wenn man sie nicht beachtet, kriegen sie nach einer Weile Augen, dachte er und nahm ihn in die Hand. Aus einem anderen Teil des Hauses drang das Lärmen spielender Kinder in sein Arbeitszimmer. Er rief seiner Frau zu: »Cathy, kannst du die Kinder bitte ruhig halten, damit ich arbeiten kann?«
Prompt lud Cathy ihn ein, mit sich selbst zu kopulieren; also schloß er die Tür zu seinem Arbeitszimmer, um die Familiengeräusche auszuschließen, und hatte dabei Schuldgefühle, weil er wußte, daß eine Zeit kommen würde, wo er den behaglichen
Lärm seiner spielenden Kinder vermissen würde. Er wußte, eines Tages, und zwar vielleicht zu bald, würde sein Fehlen weit störender sein als seine Anwesenheit.
Während er darauf wartete, daß sein Computer sich in die Datenbank der Universität einklinkte, schaute er aus dem Fenster auf die schöne neuenglische Landschaft. Sehr bald, dachte er, würden die Farben prachtvoll sein, aber dann würde es natürlich die unvermeidlichen, endlosen Blätter zu rechen geben, und jeder Gedanke an Pracht würde verblassen.
Mit besänftigender, ruhiger Stimme sagte der Computer zu ihm: »Willkommen bei Biocom. Bitte geben Sie Ihr Paßwort ein.«
Er bediente ein paar Tasten und antwortete dann mit sarkastischer Stimme: »Da ist dein blödes Paßwort, du Plastikhaufen! Und hör auf, mit mir zu reden! Du bist kein Mensch.«
Als wolle er ihm sofort widersprechen, erwiderte der Computer: »Sie haben Zutritt. Danke für die Benutzung von Biocom.«
Was soll ich denn wohl sonst benutzen? dachte er. Ihr Burschen habt doch alles in der Hand. Es gibt nichts anderes.
Binnen weniger Sekunden war er online mit der CDC-Datenbank in Atlanta verbunden, und der Computer suchte nach einer Entsprechung der graphischen Darstellung, die Janie Crowe ihm geschickt hatte. Das Programm meldete sich wieder und bat um weitere Informationen, aber er hatte keine. Sie hatte nur einen Ausdruck geschickt; die üblichen chemischen oder genetischen Informationen waren nicht mitgekommen. Er nahm sich vor, bei ihrer Rückkehr mit ihr über unvollständige Daten zu reden, und fragte sich dann, ob ein solcher Tadel nicht vielleicht sofort ein Auslandsgespräch rechtfertigte. Aber die Notiz, die sie an den Ausdruck geheftet hatte, besagte: »Viel Spaß!« Er zweifelte daher daran, daß dieses Ding Bestandteil ihrer endgültigen Daten sein würde. Er entschied sich gegen einen Anruf.
Er kehrte zur ursprünglichen Datei zurück, ließ das Bild durch drei verschiedene Filter laufen und hoffte, es so schärfer und besser lesbar zu machen. Seine Anstrengungen hatten Erfolg, denn als er es das nächste Mal durch das Programm schickte, erschien eine neue Darstellung und teilte ihm mit, das geheimnisvolle Ding heiße Yersinia pestis.
Yersinia. Ein Enterobakterium, dachte er. Zu pestis fiel ihm nichts ein. »Kennen wir uns?« fragte er die Abbildung auf dem Schirm. »Nein, ich glaube nicht. Zumindest sind wir uns nicht in letzter Zeit begegnet. Okay, schauen wir mal, was wir sonst noch über dich haben.« Er rief eine Liste von Optionen auf, ging sie durch und entschied sich für »Pathologie«. Die Datei erschien auf dem Bildschirm, und er begann sie zu lesen. Es dauerte nicht lange, bis seine Augen sich weiteten und sein Herz schneller zu schlagen begann.
Verdammte Scheiße, sagte er unhörbar. Als er zu Ende gelesen hatte, schloß er die Datei und kehrte rasch zur graphischen Abbildung der Mikrobe zurück. »Yersinia pestis, Scheiße«, sagte er laut. »Verdammte Scheiße. Du dürftest eigentlich nicht in London frei herumlaufen.«
Sie hat einen Ausdruck geschickt, dachte er, und seine Gedanken rasten plötzlich. Aber wovon hat sie diesen Ausdruck gemacht, und wo ist dieses Objekt jetzt? Weiß sie, was das ist? Natürlich nicht, du Idiot. Deshalb hat sie es dir ja überhaupt geschickt!
Er wünschte von ganzem Herzen, er hätte den Umschlag nicht länger als eine Minute auf der Ecke seines Schreibtischs liegenlassen, und suchte in seinen Unterlagen über Janies Projekt nach der Telefonnummer des Hotels, in dem sie abgestiegen war. Sobald er sie gefunden hatte, griff er nach dem Telefon.
Er hörte seine halbwüchsige Tochter in einer Konferenzschaltung mit einigen ihrer Freundinnen reden. Ohne auch nur Hallo zu sagen, befahl er: »Leg auf. Ich brauche das Telefon sofort.«
»Aber Daddy ...«
John übernahm einen Ausdruck seines Vaters und sagte: »Aber nichts!« Ohne ein weiteres Wort legten alle auf. Sobald er das Freizeichen hörte, tippte er die Nummer ein und wartete ungeduldig, daß sie sich am anderen Ende der Leitung meldete. »O Gott, Janie, gehen Sie doch ans Telefon, bitte . . . «
Als Janie durch die Tür ihres eigenen Zimmers trat, begann ihr Telefon zu läuten. Mit einem Satz sprang sie hin.
Sie griff nach dem Hörer. »Caroline?« sagte sie ängstlich.
Aber es war nicht Caroline. »Janie? Ist das Janie Crowe?«
Voller Enttäuschung sagte sie rasch. »Ja. Wer ist da, bitte?«
»John Sandhaus. Aus Amherst.«
»Oh, John, o mein Gott. Hallo . Hören Sie, ich fürchte, Sie haben einen schlechten Moment erwischt .«
»Es ist ziemlich wichtig. Ich rufe wegen der graphischen Abbildung an, die Sie mir geschickt haben.«
Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu erinnern, daß sie ihm einen Ausdruck geschickt hatte, und einen weiteren, bis ihr einfiel, woher dieser Ausdruck stammte. Diese Mikrobe, dachte sie. Im Vergleich zu dem, was sie im Nebenzimmer gesehen hatte, erschien ihr das völlig trivial. »Tut mir leid, John. Ich weiß zu schätzen, daß Sie mich deswegen anrufen. Aber ich kann jetzt nicht sprechen. Kann ich Sie später zurückrufen? Ich habe hier ein Problem, und das kann nicht warten.«
»Ich würde auch sagen, daß Sie ein Problem haben.« Seine Stimme klang verzweifelt. »Ich weiß nicht, womit Sie sich dort gerade herumschlagen, aber Ihr hiesiges Problem ist ziemlich gewaltig. Ich glaube, Sie sollten besser zuhören.« Ohne auf ihre Einwilligung zu warten, stürzte er sich sofort auf seine Erklärung. »Ich habe hier eine Identifizierung der CDC-Datenbank für Ihr Bakterium.«
So ein Blödsinn, dachte sie wütend. Wie kommt er zu der Annahme, daß seine Meinung wichtiger ist als mein Problem hier ... Ich habe hier einen toten Mann. Das müssen Sie erst mal überbieten, John Sandhaus ...
Unglaublicherweise überbot er es tatsächlich. »Diese Mikrobe, die Sie da ausgegraben haben, war keines von Ihren gewöhnlichen Haushaltsbakterien. Es ist Yersinia pestis. Verursacht Beulenpest.«
Er hörte sie auf der anderen Seite des Atlantiks erschrocken die Luft einsaugen. Auf einmal lauschte sie sehr aufmerksam.
»Und noch etwas Seltsames, Janie. Die CDC- Dateien zeigen, daß der letzte bekannte Pestfall in ganz England im Jahre 1927 auftrat. Es gab ein paar kleine, aber signifikante Unterschiede zwischen der Probe von Y. pestis in der Datenbank und dem Ausdruck, den Sie mir geschickt haben. Wo hatten Sie’s denn her?«
Das Gefühl der Bedrohung, das sie in jener Nacht gehabt hatte, kehrte mit voller Wucht zurück. Sie antwortete leise: »Ich hab’s aus ungefähr einem halben Meter Tiefe ausgegraben.«
»Da haben wir’s«, sagte er triumphierend und fügte dann hinzu: »Sie haben da ein sehr altes Ding; es handelt sich offensichtlich um den archaischen Stamm. Ich sollte Sie wahrscheinlich zu so einem großen Fund beglückwünschen, aber ich denke, ich muß Ihnen aufgrund der problematischen Lage eher Trost zusprechen. Dieses Bakterium ist vermutlich weitaus virulenter als das, was es heute gibt, einfach aufgrund der Unterschiede in den Symptomen, die wir zwischen der modernen Pest und den in den Geschichtsbüchern beschriebenen Anzeichen finden. Im Augenblick sieht es so aus, als würde es sich noch im Keimstadium befinden, aber unter den richtigen Bedingungen, etwa, wenn es feucht wird oder warm, könnte es wieder aktiv werden und sich vermehren.«
»Großer Gott.« Mehr konnte sie nicht sagen.
»Das dürfen Sie laut sagen. Es wäre ein Riesenproblem. Sie müssen die richtigen Behörden in London verständigen und ihnen gleich sagen, ob die Möglichkeit besteht, daß es freigekommen ist. Die moderne Pest können wir heilen, aber bei der alten Version weiß ich das nicht.«
Sie schwieg.
»Janie?« sagte er, bekam aber keine Antwort.
Sehr ruhig sprach er weiter: »Sie müssen jetzt das Richtige tun. Denken Sie nicht daran, ob Sie Probleme kriegen oder nicht. Diese Sache ist größer und bedeutender als Sie. Und, Janie? Tun Sie sich und dem Rest der Welt einen Gefallen. Waschen Sie sich die Hände, bevor Sie in ein Flugzeug nach Hause steigen. Das Bakterium ist ausgefallen genug, um vielleicht den Sensoren zu entgehen.«
Er legte auf.
»Was war denn los?« fragte Bruce besorgt.
Sie schluckte schwer, als sie den Hörer auflegte. »Erinnerst du dich an diese Stoffprobe, die ich ausgegraben hatte? Frank fand sie unmittelbar vor seinem Tod in einer unserer Röhren.«
Er nickte. »Ich erinnere mich. Was war damit?«
»Ich habe einen der Ausdrucke, die Frank gemacht hat, meinem Doktorvater in den Staaten geschickt, einen Blick darauf zu werfen. Er ist forensischer Pathologe, aber auf Bakterien spezialisiert, und er ist einer der besten auf seinem Gebiet. Also, der Anruf gerade, das war er.« Sie sah Bruce an; in ihren Augen stand nackte Angst. »Wie es scheint, ist es mir gelungen, die archaische Form des Bakteriums auszugraben, das Beulenpest verursacht.«
Betroffen setzte Bruce sich hin. »Wo ist die Probe jetzt?«
Sie nickte in Richtung auf ihren kleinen Kühlschrank. »Gleich hier.«
»Hier in diesem Zimmer?«
»Genau hier. Reg dich nicht auf, es ist gut versiegelt. Aber ich machte mir keine Sorgen darüber, daß diese Probe jemanden kontaminiert, solange sie im Kühlschrank liegt. Was mich beunruhigt, ist, daß Caroline damit umgegangen ist. Und hast du dir Ted mal genau angesehen, als wir in Carolines Zimmer waren? Er sah nicht besonders gut aus. Und warum trug er bei diesem warmen Wetter einen Rollkragenpullover?«
»Ich weiß nicht«, sagte Bruce. »In all den Jahren, seit wir zusammen arbeiten, habe ich ihn so etwas niemals tragen sehen.«
Ohne ein weiteres Wort standen beide auf und gingen auf die Tür zu. Ehe sie das Zimmer verließen, faßte Janie Bruce am Arm. »Das dürfen wir nicht vergessen«, sagte sie, ging zu ihrer Aktenmappe und nahm zwei Masken und zwei Paar Handschuhe heraus.
Angemessen geschützt hockten sie sich neben Teds stark riechenden Leichnam und sahen ihn sich genau an.
»Er ist sehr blaß«, sagte Janie.
»Er ist sehr tot«, sagte Bruce.
»Trotzdem ist er blasser, als er sein sollte.« Sie zeigte auf Teds Handrücken. »Schau dir den Unterschied an. Sein Gesicht ist viel blasser als seine Hand, und seine Lage rechtfertigt das nicht. Seine Blässe könnte die Folge irgendeiner Krankheit sein.«
Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach den Symptomen der Pest. »Das einzige, woran ich mich bei der Pest erinnere, sind dunkle Schwellungen im Bereich der Lymphknoten. Viel mehr haben sie uns, glaube ich, nicht beigebracht.«
»Das war auch nicht nötig. Die Krankheit war im Grunde ausgestorben.«
»Hoffentlich nicht so ausgestorben wie die Tuberkulose«, sagte sie zynisch.
»Aber das Bakterium dafür war resistent gegen die Medikamente geworden. Die Pest ist noch immer behandelbar.«
»Die moderne Pest ist behandelbar. Mein Doktorvater meint, das, was wir ausgegraben haben, sei die archaische Form der Pest.«
»Scheiße.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Aber wir wissen nicht, ob Ted daran gestorben ist.«
Janie streckte die Hand aus und zog mit einem
Finger den Rollkragen von Teds Hals. Darunter befanden sich dunkle Flecken und dicke Schwellungen. »Schau dir das an«, sagte sie. »Dunkle Schwellungen im Lymphknotenbereich.«
Bruce sah es sich an und schluckte schwer. »Wir können trotzdem nicht sicher sein. Wir müssen feststellen, ob das Bakterium vorhanden ist. Und da ist noch was. Ich bin auch der Meinung, daß es so aussieht, als hätte er die Pest, aber es sieht nicht so aus, als wäre die Krankheit weit genug fortgeschritten gewesen, um ihn umzubringen.« Er wies auf Teds entblößten Hals. »Ich meine, ich glaube auch, daß die Anzeichen der Infektion da sind. Aber schau dir diese Beulen an. Sie fangen erst an, sich aufzulösen. Ich bin sicher kein Experte, aber ich glaube einfach nicht, daß dieses Stadium der Krankheit tödlich ist.«
Dagegen konnte Janie nichts sagen; er sah aus, als sei er vor seinem Tod krank gewesen, aber nicht tödlich krank. Die Möglichkeit allerdings, daß Ted aus irgendeinem anderen Grund gestorben war, mochte sie gar nicht in Erwägung ziehen; statt die Dinge zu vereinfachen, machte sie ihre Situation noch komplizierter.
»Die Sache wird sehr verwirrend«, sagte sie. »Er ist tot. Sie ist nicht da. Nebenan im Kühlschrank ist die Pest. Wir wissen mit Sicherheit, daß Caroline damit umgegangen ist; bei Ted könnte es mög- lich sein. Das Bakterium war im Labor, und er auch. Ich weiß nicht, was jetzt zu tun ist.«
Wie gut kannte sie Caroline denn überhaupt? Hätte sie das tun können? fragte sich Janie. In ihrem Zimmer lag unbestreitbar ein toter Mann, und Caroline war nirgends zu finden. Solange sie sie nicht fanden, würden sie nicht sicher wissen, was passiert war. Janie wußte, daß sie und Caroline sehr viel mehr Zeit in England verbringen würden als ursprünglich geplant, wenn es um die Frage eines ungesetzlichen Todesfalles ging, und auf einmal fühlte sich ihr Magen sehr gespannt und nervös an.
Sie sah sich im Zimmer nach etwas um, das sie von dem Gedanken hätte abbringen können, Teds Tod könne kriminelle Aspekte bergen. »Mir springt nichts ins Auge, was >Beweis< schreien würde«, sagte sie. »Ich bin nicht einmal sicher, wonach ich überhaupt suchen sollte. Und ich studiere dieses Zeug.« Sie ging ins Badezimmer, wo sie Carolines Nachthemd auf dem Fußboden, die Toilettenbrille hochgeklappt und ringsum Spritzer auf dem Boden sah. Sie konnte den Stoff des Nachthemds durch die Handschuhe zwar nicht fühlen, merkte aber am Gewicht, daß es mit Schweiß vollgesaugt war.
Sie ging ins Zimmer zurück und zeigte Bruce das Nachthemd. »Das habe ich im Bad auf dem Fußboden gefunden. Es ist tropfnaß. Ich frage mich, ob sie auch krank war.«
Sie faltete das Nachthemd ordentlich zusammen und legte es auf die Kommode. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie den Kühlschrank. Sie sah ihn genauer an.
»Jemand hat die Kühlschranktür offengelassen«, sagte sie. Sie schaute in das kleine Gerät. »Und alles ist durcheinander. Jemand hat etwas gesucht.«
Doch Bruce hatte neben dem Bett selbst eine Entdeckung gemacht. Er hatte Teds Taschen durchsucht und eine der Ampullen gefunden.
Er stand auf und zeigte sie Janie. »Janie, sieh dir das an. Das ist Tetrazyklin.«
Sie blickte auf die Leiche nieder. »Offensichtlich hat es nicht gewirkt«, sagte sie. »Und wo ist die Spritze? Warum hatte er Tetrazyklin bei sich ohne ein Mittel, es anzuwenden?«
»Ich weiß nicht«, sagte Bruce. »Vielleicht liegt sie hier irgendwo herum.«
Sie schauten auf dem Fußboden nach und durchsuchten die Papierkörbe, aber sie sahen nichts Verdächtiges.
»Vielleicht liegt er darauf«, sagte Janie. Sie beugte sich nieder und schob beide Hände unter Teds Körper. »Hilf mir. Drehen wir ihn um.«
»Sollen wir ihn denn bewegen? Was ist, wenn wir dabei Beweismittel zerstören?«
»Was ist, wenn wir Beweismittel nicht finden, weil wir ihn nicht bewegen?« Ihre Stimme klang verzweifelt. »Wir können ihn ja wieder zurücklegen, wenn wir unter ihn geschaut haben.«
Widerstrebend half Bruce; sie drehten die Leiche, die allmählich starr wurde, auf die Seite, und darunter fanden sie die Spritze und eine weitere Ampulle. Janie zog die beiden Gegenstände mit einer Hand unter der Leiche hervor und achtete darauf, sie nicht mehr als unbedingt notwendig zu berühren. Ted war schwer, und beide schwitzten beinahe, als sie den Körper wieder in seine ursprüngliche Lage gebracht hatten.
Bruce gab Janie die noch teilweise gefüllte Ampulle mit Tetrazyklin und hob dann die andere auf, die fast leer war. »Schau dir das an.«
Sie las das Etikett auf der Ampulle und stieß einen langen, leisen Pfiff aus. »Damit könnte man einen ganzen Trupp Pfadfinder für ein oder zwei Tage in sehr süße Träume versetzen ...«
An der Ampulle, die er Janie gegeben hatten, klebte ein einzelnes langes, rotes Haar, das offensichtlich von Caroline war.
Janie setzte sich auf das Bett und bedachte alles, was sie wußten. Ihr Kopf schmerzte, und sie rieb sich die Stirn. Sie ignorierte das Kopfweh und ging die Beweismittel durch, indem sie sie laut aufzählte. »Wir haben eine Leiche, die krank aussieht, aber nicht krank genug war, um an dieser Krankheit gestorben zu sein, und die keine sichtbaren Zeichen einer tödlichen Verletzung aufweist. Wir haben eine vermißte und möglicherweise kranke Frau. Wir haben eine halbvolle Ampulle mit einem Antibiotikum und eine fast leere Ampulle eines Beruhigungsmittels. Wir haben eine Spritze.«
»Mit anderen Worten, wir haben überhaupt nichts, was einen Sinn ergibt.«
»Eine Sache ist mir klar«, sagte sie. »Was immer hier passierte, wurde von Ted in die Wege geleitet.«
Bruce fing fast sofort an, Ted zu verteidigen. »Janie, wie kannst du so etwas sagen! Wir können nicht feststellen, wer hier was getan hat.«
»Komm schon, Bruce, denk doch mal nach! Wie sollte sie an diese Medikamenten herangekommen sein? Sie hat keinen Zugang zu solchem Zeug. Am Flughafen haben sie mir sogar mein Aspirin weggenommen, um es laut und deutlich zu sagen!«
Es ist wahr, dachte Bruce. Ted kann einfach in die medizinische Abteilung des Instituts gehen und sich nehmen, was immer er will, solange er nicht allzu habgierig ist ...
»Ich wohnte Tür an Tür mit ihr, wir haben zusammen gearbeitet«, fuhr Janie fort, und ihre Stimme wurde lauter und schrill, »und ich kann dir sagen, wie untypisch das für sie wäre. Sie ist beina- he erschreckend normal.« Sie nahm die Ampulle mit dem Beruhigungsmittel aus Bruces Hand. »Das ist ein äußerst schwer zugängliches Medikament! Sie hat keine Möglichkeit, an so etwas heranzukommen.« Sie hielt sie Bruce vor die Nase. »Und die Ampulle ist beinahe leer. Du kannst mir nicht erzählen, daß sie all das geplant, sich das Zeug beschafft, es benutzt und sich dann davongemacht hat!«
Sie nahm das durchnäßte Nachthemd in die Hand. »Und wenn du Beweise willst, sieh dir das an.« Sie warf es ihm zu; er griff daneben. »Vielleicht hat Ted gewußt, daß sie krank war. Vielleicht hatte er etwas damit zu tun. Vielleicht hat er sie sediert, und das ist der Grund, warum sie nicht ans Telefon ging.«
Sie sah den ungläubigen Ausdruck auf Bruces Gesicht. »Und wo ist sie dann jetzt?«
»Ich weiß es nicht! Sie könnte überall sein. Aber wenn ich aus einem Drogenschlaf aufwachen und einen toten Mann in meinem Zimmer finden würde, dann würde ich so schnell wie möglich verschwinden.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Bruce, »vielleicht hast du ja recht. Vielleicht gibt es hier mehr, als wir sehen. Aber es ist alles so unvorstellbar.« Angewidert warf er die Hände hoch. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was wir jetzt tun sollen.«
»Ich denke, als erstes sollten wir dieses Zimmer verlassen. Ich kann bei dem Gestank nicht denken. Ich kriege Kopfschmerzen davon.« Sie dachte an das Ibuprofen in der Spitze von Carolines Schuh und ging zum Schrank. Sie öffnete die Tür und sah vier ordentlich aufgereihte Paar Schuhe auf dem Boden stehen. Während sie eines nach dem anderen durchsuchte, kam ihr ein seltsamer Gedanke. Sie fand das Ibuprofen und richtete sich wieder auf.
»Wenn Caroline abgehauen ist, dann ist sie ohne Schuhe abgehauen. Ich erinnere mich, sie hat gesagt, daß sie vier Paar Schuhe mitgebracht hat. Hier im Schrank stehen vier Paar Schuhe. Und sie hatte keine Zeit, sich neue zu kaufen, also stand sie entweder unter Drogen oder war im Delirium. Vielleicht beides«, sagte sie.
Sie nahmen ihre »Beweisstücke« mit und kehrten in Janies Zimmer zurück. »Mir dreht sich der Kopf«, sagte sie. »Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten. Aber meine Hauptsorge gilt Caroline. Vermutlich wandert sie in einem halb bewußtlosen Zustand da draußen herum, entweder weil sie krank ist oder weil das, was passiert ist, ihr einen Schock versetzt hat. Wir müssen sie finden, wie auch immer.«
Bruce sah verwirrt aus. »Du hast recht«, sagte er, »aber London ist eine ziemlich große Stadt, Ja- nie. Wir werden Hilfe brauchen. Und wenn sie die Pest hat, dann ist sie vermutlich unglaublich ansteckend. Pest ist ein Biostörfall der Klasse 4. Wir müssen Biopol anrufen.«
»Wenn es Klasse 4 ist, dann werden sie sie erschießen, wenn sie Widerstand zu leisten versucht, das weißt du. Vermutlich hat sie nicht die leiseste Ahnung, was mit ihr los ist. Sie wird sich wehren, das kann ich dir versichern. Und wir wissen nicht, ob sie die Pest hat oder nicht. Die Möglichkeit besteht sicher, aber bei aller Phantasie, wir wissen es nicht mit Bestimmtheit. Wenn wir die Biocops alarmieren, werden die vermutlich von der Annahme ausgehen, daß sie die Pest hat, und sich erst hinterher Gedanken machen. Wir können es keinem sagen.«
Bruce sah schockiert aus. »Was meinst du damit, wir können es keinem sagen? Wir müssen es Biopol sagen. Wenn wir den Verdacht haben, daß in London die Beulenpest ausgebrochen ist, wenn auch nur die leiseste Möglichkeit besteht, daß es so ist, dann haben wir überhaupt keine Wahl!«
Er wollte zum Telefon gehen. Janie trat ihm in den Weg.
»Bruce, bitte, wir könnten uns irren ... sie würden sie umbringen ... das können wir nicht zulassen, wenn sie keine Bedrohung ist .«
Seine Hand lag auf dem Hörer. »Das ist das
Problem, Janie. Wir wissen nicht, ob sie eine Bedrohung ist. Ich glaube nicht, daß es unvernünftig wäre, in so einer Situation das Schlimmste anzunehmen! Denk daran, was in Amerika passiert ist, als bei den Ausbrüchen vernünftige Annahmen ignoriert worden sind .«
»Das war etwas anderes!«
»Inwiefern war das anders? Es war eine ansteckende Krankheit mit kurzer Inkubationszeit .«
Während des folgenden angespannten Wortwechsels blieb Bruces Hand auf dem Telefonhörer liegen. Endlich sagte Janie: »Bruce, bitte; ich flehe dich an. Bitte, tu’s nicht.«
»Janie, ich bin im öffentlichen Dienst in einer verantwortlichen Stellung, und ich habe Informationen, die mich zu der Annahme veranlassen, daß die Öffentlichkeit gefährdet ist. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?«
»Schau«, sagte sie hektisch, »wir können uns Gewißheit verschaffen. Wir haben Material, das wir testen können. Wir haben Zugang zu einem der besten Labors in England, und wir können jetzt sofort hingehen und es blitzschnell machen . und dann wissen wir Bescheid! Wir sind nicht mehr auf Vermutungen angewiesen.«
»Das dauert zu lange. Man müßte sich sofort um die Sache kümmern.«
»Es dauert doch höchstens ein oder zwei Stunden! Bruce, hör mir zu!« Sie nahm das Nachthemd auf und hielt es ihm hin. »Wenn wir auf diesem Nachthemd Yersinia pestis finden, rufen wir auf der Stelle Biopol. Ich werde keine Einwände erheben. Ich möchte bloß nicht, daß Caroline grundlos inhaftiert wird. Sie könnten sie erschießen, mein Gott . bitte, denk doch bloß darüber nach, bevor du irgendwas tust, was ihr Schaden zufügen könnte.«
Endlich schmolz sein eiserner Widerstand gegen ihren Plan. »Also gut«, sagte er. »Aber ich muß dir sagen, daß ich wirklich dagegen bin . wenn sich auf ihrem Nachthemd Bakterien finden, rufen wir sofort an.«
»Einverstanden«, sagte Janie erleichtert. So gewinne ich etwas Zeit, dachte sie ängstlich. Aber was ist, wenn es voller Bakterien steckt? Was dann?
Sie wußte es nicht. Der Gedanke, daß es keine Bakterien enthalten mochte, war auch nicht verlockender.
»Bevor wir gehen«, sagte Bruce, »müssen wir sicherstellen, daß niemand das andere Zimmer betritt. Und wir müssen dieses Stück Stoff aus dem Kühlschrank in diesem Zimmer entfernen. Wir können nicht das Risiko eingehen, daß jemand vom Personal es in die Finger bekommt.«
Er ging zum Kühlschrank und öffnete ihn, indem er die Tür mit dem Ellbogen aufstieß. In der Mitte eines Drahtrostes lag der Stoffkreis, in Plastik gewickelt. Er nahm ihn vorsichtig heraus und achtete dabei sehr darauf, den Rost selbst mit seinen potentiell verpesteten Händen nicht zu berühren. Janie nahm einen dicht verschließbaren Beutel für Bioproben aus ihrer Aktenmappe, und Bruce ließ den verpackten Stoff hineinfallen. Janie verpackte das Nachthemd in eine andere Plastiktüte.
Sie zog die Handschuhe aus, wobei sie das Innere nach außen drehte, und Bruce folgte ihrem Beispiel. Janie legte ihre auf ein Stück Papier. »Leg deine Handschuhe auch darauf«, sagte sie. »Ich werde sie verbrennen.«
»Gute Idee«, sagte er und tat es; sie wickelte das Papier um die kontaminierten Handschuhe und legte das ganze zerknitterte Päckchen in ein Wasserglas. Dann öffnete sie das Fenster und stellte das Glas auf das Fensterbrett. Mit einem Streichholz zündete sie das Papier an, das sofort Feuer fing und hell brannte.
Ohne Vorwarnung platzte das Glas unter der molekularen Belastung der plötzlichen Hitze; es zerbrach in zwei saubere Stücke, von denen eines vom Fensterbrett ins Zimmer fiel. Bruce sprang vor, um es aufzufangen, und bewies erstaunliche sportliche Fähigkeiten, indem er es tatsächlich mit der rechten Hand erwischte; dann schrie er: »Au!«
Er ließ das heiße Glas auf den Teppich fallen; in der Mitte seiner Handfläche sah Janie eine halbmondförmige Verbrennung.
Sie eilte zu ihm und nahm seine Hand. »Bist du in Ordnung?« fragte sie ängstlich.
Er zog eine Grimasse. »Eigentlich nicht!« sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Es tut blödsinnig weh.«
Sie sah nach, um sicher zu sein, daß das Feuer von selbst ausgegangen war und nichts anderes angebrannt war, als das Glas fiel. »Komm ins Bad und laß kaltes Wasser über die Hand laufen«, sagte sie zu Bruce.
Die Verbrennung war rot und heiß, und Janie wußte, daß sie noch mehr schmerzen würde, wenn der anfängliche Schock verging. Sie säuberte und bandagierte sie, so gut sie konnte, nahm dann einen weiteren Latexhandschuh aus ihrer Aktenmappe und zog ihn über den Verband.
»Setz dich für ein paar Augenblicke hin«, sagte sie, und er gehorchte ohne Widerstand. »Ich will bloß unten anrufen.« Sie nahm den Hörer ab und tippte die Nummer des Empfangs ein. Während er gegen den Schmerz seiner verbrannten Hand ankämpfte, hörte Bruce sie sagen: »Hier ist Caroline Porter aus Zimmer 608. Ich möchte darum bitten, daß das Reinigungspersonal mein Zimmer für eine Weile nicht betritt. Ich habe hier Forschungsunterlagen herumliegen und möchte nicht, daß jemand sie durcheinanderbringt. Ich werde das BITTE- NICHT-STÖREN-Schild an den Türgriff hängen.« Der Angestellte am Empfang sagte etwas, das Bruce nicht hören konnte, und dann sagte Janie: »Vielen Dank.« Sie legte auf.
»Okay«, sagte sie und schob rasch den Stoff und Carolines Nachthemd in ihre Aktenmappe. »Laß uns gehen.«
»Es gibt da ein kleines Problem«, sagte Bruce.
»Was denn?« sagte Janie. »Wir haben an alles gedacht. Das Zimmer, die Stoffprobe ...«
»Das meine ich nicht«, sagte Bruce, noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Wir werden nicht ins Labor kommen.«
»Warum nicht?« Janie kreischte beinahe. Ihr Plan würde mißlingen; sie fühlte es kommen.
»Ich brauche meine rechte Hand, um die Labortür zu öffnen. Mit dieser Verbrennung wird sie nicht erkannt. Ted und Frank sind -« er hielt inne und korrigierte sich - »waren die einzigen anderen mit unbeschränktem Zutritt. Wir werden einen Wachmann holen müssen, um uns die Tür zu öffnen.«
»Wollen wir denn, daß ein Wachmann uns da reingehen sieht?«
»Ich glaube, wir haben keine andere Wahl.«
Sie spürte, wie sich alles auflöste. Dann kam ihr eine Idee; es überraschte sie selbst, daß ihr das eingefallen war.
»Wir werden Ted mitnehmen«, sagte sie.
»Komm schon, Janie, das ist nicht die Zeit für Scherze. Wie sollen wir das machen?«
»Ich war Chirurgin, erinnerst du dich? Wir werden nur den Teil nehmen, den wir brauchen.«
Ehe Bruce sich noch genug erholen konnte, um etwas zu sagen, suchte sie in ihrer Mappe nach einem Messer.
Sie ließ ihn mit offenen Mund zurück und ging, um das zu tun, was sie am besten konnte; sie dachte daran, wie gut es sich anfühlen würde, wieder etwas in der Hand zu haben, das einem Skalpell ähnelte.
Sie konnten nichts tun, um den üblen Geruch von Teds Hand ganz zu überdecken, und um das Glück voll zu machen, das sie an diesem Tag hatten, war der Londoner Verkehr ein einziger Stau, als Janie und Bruce aus der Hotelhalle eilten.
Während sie zur nächsten Station der Untergrundbahn liefen, öffnete der Himmel seine Schleusen, und sie schafften es gerade noch, einen abfahrenden Zug zu erwischen. Er war voll mit tropfnassen Pendlern auf dem Heimweg, und es gab keinen Sitzplatz. Der durchdringende Geruch von nasser Wolle stieg ringsum von tropfenden Män- teln auf, doch zwangsläufig fingen die Leute bald an, sich etwas von Janie und Bruce zu entfernen, deren versteckte Fracht wesentlich intensiver roch.
Zu Beginn der Fahrt standen sie und hielten sich an den Schlaufen über ihren Köpfen fest, um nicht zu fallen; sie schwankten hin und her, als der Zug den Bahnhof verließ und schneller wurde. Als die Fahrt dann glatter verlief, ließ der Adrenalinstoß nach, und der Schock setzte ein. Ein betäubendes Angstgefühl ergriff Janie, und sie biß sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten; mit feuchten Augen schaute sie zu Bruce auf und sah, daß er sie anstarrte, ebenfalls mit entsetzter Miene, als dächte er: Mein Gott, was haben wir getan.
Sie schaute auf die Aktenmappe nieder. Da drin ist eine abgeschnittene Hand, dachte sie, eine Hand, die ich grüßend geschüttelt habe ... eine Hand, die ich über das Haar ihres früheren Besitzers habe streichen sehen, kein Plastikgegenstand zur medizinischen Ausbildung, sondern eine echte menschliche Hand, die ein oder zwei Grußkarten zum Muttertag unterschrieben hat .
Endlich wurde ein Sitzplatz frei, und Janie ließ sich müde darauf nieder, sie zitterte vor Entsetzen über ihre eigenen Gedanken. Die Aktentasche hatte sie neben Bruces Füßen auf dem Boden stehen lassen. Sie sah zu ihm auf, begegnete erneut seinem Blick und nickte fast unmerklich in Richtung Tasche, damit er darauf aufpaßte. Er nickte zustimmend.
Der Zug raste und kam dem Institut näher und näher; nur noch ein paar Haltestellen, dann hatten sie es erreicht. Bruces Hand pochte von der Verbrennung, und einen kurzen Augenblick gab er dem Schmerz nach und schloß die Augen. Ein junger einheimischer Ganove brauchte nicht lange, bis er merkte, daß die Tasche unbewacht war. Der Teenager stand auf und trat näher an Bruce heran, als der Zug sich einem Bahnhof näherte; nervös sah er sich um, ob ihn jemand beobachtete. Seine Nase war vom Schnupfen diverser weißer Pulver viel zu abgestumpft, als daß er den üblen Geruch bemerkt hätte, der von der Aktentasche aufstieg, und als sich die Gelegenheit bot, während der Zug zum Halten kam, schnappte er den Ledergriff der Tasche und sprang auf die offene Tür zu.
Als sie den Jungen, die Tasche und ihren toxischen Inhalt ins Freie fliehen sah, spürte Janie vor Angst bittere Gallenflüssigkeit in ihre Kehle aufsteigen. Ihr Herz raste, als Adrenalin durch ihr Blut strömte. Sie sprang auf und rannte hinterher; sie rief Bruce etwas zu, als sie den Zug verließ; er wurde plötzlich aufmerksam und lief ihr nach; er konnte gerade noch aus dem Zug springen, ehe die Tür sich schloß und der Waggon wieder anfuhr. Der Dieb sprang über die Sperre wie über eine Hürde auf einer Rennbahn, und Bruce starrte ehrfürchtig hinterher, als seine nicht mehr ganz junge Gefährtin genau dasselbe tat und bei der wilden Verfolgung nicht eine einzige Stufe verfehlte.
Sie konnte sich nicht die Zeit nehmen, um sich umzudrehen, aber Janie spürte, daß Bruce an Boden verlor und zurückfiel. Plötzlich fühlte sie sich schrecklich verwundbar und klein. Ich kann jetzt nicht stehenbleiben, dachte sie mit wachsendem Entsetzen. Entweder fasse ich diesen Jungen allein oder überhaupt nicht.
Drei Meilen täglich in den letzten zehn Jahren ... das zahlt sich jetzt aus ... Sie befahl sich, schneller zu laufen, und zwang ihre Beine, sich rascher zu bewegen. Trotz ihrer Fitneß war sie dem leichtfüßigen jungen Mann nicht gewachsen, den sie verfolgte. Janie wußte, daß sie bald außer Puste sein würde, aber sie wagte es nicht, um Hilfe zu rufen, da sie fürchtete, dann unter Umständen einem Biocop erklären zu müssen, warum die Tasche, die er für sie zurückgeholt hatte, eine abgeschnittene, pestverseuchte Hand enthielt. Oder warum sie trotz der offensichtlichen Gefahr den Dieb so hartnäckig verfolgt hatte. Entsetzt sah sie, während ihre Füße in zum Rennen ungeeigneten Schuhen über das Kopfsteinpflaster trabten, daß der Abstand zwischen ihr und dem Jungen größer wurde. Er war der Meister dieses Spiels und eindeutig in seinem Element, und Janie wußte, wenn nicht bald etwas Unerwartetes passierte, würde er das Rennen mit Sicherheit gewinnen.
Er bog um eine Ecke, und sie folgte ihm, hoffte, daß es nicht seine Wohngegend war, wo es Verstecke gab, die nur er und ein paar andere Anwohner kannten. Sie verlor ihn, sie wußte es. Yersinia pestis würde sich tatsächlich in London frei bewegen, wie Bruce es befürchtet hatte. Zweifellos würde der Dieb die Tasche wegwerfen, sobald er die versiegelte Plastiktüte öffnete und ihren grausigen Inhalt sah, unbekümmert darum, wo sie landen mochte. Bald würden Fliegen und Ratten kommen, und dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis Ratten ihre infizierten Fliegen durch die Stadt trugen, und die Geschichte würde sich wiederholen.
Wer nicht aus der Geschichte lernt ... dachte sie bei sich, während sie weiterrannte, ist dazu ausersehen, sie zu wiederholen. Überall werden bald wieder Zustände wie im Mittelalter herrschen.
Sie kämpfte gegen den stechenden Schmerz in ihren Beinen an und versuchte, sich auf schnelleres Laufen zu konzentrieren, aber das einzige, was ihr einfiel, war die vage Erinnerung an einen Drang, diesen kleinen Stoffkreis zu nehmen und in Ruhe zu lassen, als sie sich im Labor mit Frank anschickten, ihn zu untersuchen. Dieser schicksalhafte Tag, der weniger als eine Woche zurücklag, schien ihr eine Ewigkeit entfernt.
Sie war vollkommen außer Atem; ihre Kehle schrie nach Wasser, und das Pochen ihres Herzens übertönte beinahe den Schrei des Diebs, als dieser irgendwo vor ihr mit einem unangenehmen Plumps auf das Kopfsteinpflaster stürzte. Stimmen wurden laut, und sie sah mehrere Leute über den gestürzten Dieb gebeugt; einer hielt das spitze Ende eines Spazierstocks, dessen Krücke um den Fußknöchel des Jungen geschlungen war. Janie machte ein paar Schritte auf die Leute zu und beugte sich dann einen Augenblick nach vorn, die Hände auf die Knie gestützt; sie rang nach Luft, als täte sie ihren letzten Atemzug.
Zwischen dem Keuchen gelang es ihr, ein »Danke« zu hauchen. Sie nahm ihre Tasche und taumelte durch die Gasse zurück; sie ließ eine sehr verwunderte Menschenansammlung hinter sich, lauter Helden, die sich nicht genügend gepriesen fühlten.
Gerade war sie wieder um die Ecke zur Hauptstraße gebogen, als sie fast gegen Bruce prallte. Er umarmte sie freudig, als er die Tasche in ihrer Hand sah, denn er wußte, was hätte passieren können, wenn sie sie nicht zurückbekommen hätte. Zusammen standen sie im Regen, Janie zitternd und keuchend, Bruce mit den Armen um sie, und ließen das kalte Wasser an sich ablaufen.
Ein paar Minuten später gelang es ihnen, ein Taxi anzuhalten, und als sie drinnen waren, hingen beide reglos und erschöpft von der Verfolgungsjagd auf den Rücksitzen. Als Janie sich wieder etwas gefaßt hatte, lockerte sie ihren Klammergriff um die Tasche und stellte sie auf den Boden des Taxis. Sie streckte die Hand aus und nahm sanft Bruces verletzte Hand; er wehrte sich nicht. Schweigend fuhren sie dahin, bis vor der Windschutzscheibe des Taxis die verzierte Fassade des Instituts auftauchte. Bruce bezahlte, gab dem Fahrer ein viel zu großes Trinkgeld, und schweigend standen sie zusammen und schauten ein paar Minuten den abweisenden Eingang an, bevor einer von ihnen etwas sagte. Endlich brach Bruce das Schweigen. »Du oder ich?« Janie antwortete: »Das mußt du machen. Wenn mich jemand sieht, wie ich versuche, mit einem Abdruck meiner Hand das Labor zu öffnen, weiß er, daß etwas nicht stimmt.«
Bruces Magen zog sich zu einem Knoten zusammen, als er sich vorstellte, wie er Ted Cummings’ abgetrennte Hand auf den Schirm vor der Labortür drückte. Sie traten auf eine Seite des Eingangswegs zwischen zwei Bäumen und wandten der Straße den Rücken zu, was ihnen etwas Abgeschiedenheit brachte. Janie nahm ein weiteres Paar Wegwerfhandschuhe aus der Tasche und half Bruce, sie anzuziehen. Er öffnete die Aktenmappe und nahm den weißen Plastikbeutel heraus, und während er ihn hielt, schlitzte Janie ihn mit ihrem Messer auf. Teds Hand war ausgeblutet und völlig weiß. Sie bildete einen starken Kontrast zu Bruces rötlicher Haut.
»Steck die andere Hand besser in die Tasche, damit keiner sieht, daß du Handschuhe trägst«, sagte Janie. »Das wirkt ein bißchen verdächtig. Ich öffne die Tür für dich, wenn wir reingehen.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Fertig?«
Er nickte bejahend, aber Janie sah die Angst und den Ekel in seinem nüchternen Gesichtsausdruck. Bruce faßte das tote Ding mit seiner behandschuhten, verletzten Hand. Er senkte die Schulter und ließ seinen Jackenärmel tiefer rutschen in der Hoffnung, daß jemand, der ihn aus der Ferne sah, denken würde, die aus dem Ärmel hängende Hand sei seine eigene.
Janie schloß die Aktenmappe und nahm sie auf. Sie gingen die Treppe hinauf und versuchten, so unbekümmert wie möglich auszusehen. Sie hielt Bruce die Tür auf, und zusammen betraten sie das Gebäude.
Rasch gingen sie durch die Korridore, eine zufällige Begegnung fürchtend, doch zum Glück sahen sie niemanden. Janie dachte, sie hätten jetzt endlich einmal mehr Glück. Nach drei Ecken und drei langen Gängen konnten sie das Labor schon sehen.
Vielleicht zehn Meter vor ihnen bog ein Wachmann um die Ecke, als sie sich dem Labor näherten. Er blieb stehen und schaute, wer da kam. Janie bemerkte, wie er die Augen zusammenkniff und in ihre Richtung kam, doch nach ein paar Schritten hielt er inne, und seine Bewegungen wurden entspannter. Er winkte mit der Hand und sagte: »Ach, guten Abend, Dr. Ransom. Ich habe Sie so naß zuerst gar nicht erkannt. Verdammtes Scheißwetter, was?«
»Allerdings«, stimmte Bruce nervös zu.
»Schön, daß Sie wieder da sind. Wie war Ihre Reise?«
Janie flüsterte Bruce zu: »Du mußt ihm antworten.«
Bruce, dem von Sekunde zu Sekunde übler wurde, packte Ted Cummings’ Hand fester. Er lächelte dünn und sagte: »Sehr interessant; ich wünschte, ich käme öfter mal für ein paar Tage hier raus.« Der Wachmann, zufrieden, daß alles in Ordnung war, lachte und stimmte ihm zu. Dann drehte er sich um und ging, um seine Runden durch die Korridore in der anderen Richtung fortzusetzen.
Sie sahen ihm nach, bis er verschwunden war. Zitternd und angeekelt hob Ted die tote Hand und drückte sie auf den Schirm des Lesegeräts. Er wartete ein paar Sekunden auf das grüne Licht, doch der Indikator blieb dunkel. Er versuchte es nochmals, doch die Hand war starr geworden und ließ sich nicht flach genug auf die gläserne Oberfläche pressen, um erfolgreich identifiziert zu werden. Nach mehreren erfolglosen Versuchen nahm Bruce schließlich seine zweite behandschuhte Hand zu Hilfe und drückte die verwesende Hand mit Gewalt flach. Das grüne Licht leuchtete auf. Sie eilten durch die Tür und sperrten sie hinter sich ab.
Sie steckten die Hand wieder in ihre Plastiktüte, und Janie legte sie auf den Boden hinter der Tür; bevor sie gingen, wollte sie sie in einen BiosafeContainer werfen. Während Bruce im Labor seine Latex-Handschuhe abstreifte, begann das Handlesegerät an der Wand draußen mit seiner Reinigungsroutine; es schickte einen elektrischen Strom über die Glasfläche und führte dann ein diagnostisches Scannen durch, um festzustellen, ob sich noch irgendwelche lebenden Bakterien darauf befanden. Nach einem Warnton würde es diese Prozedur so lange wiederholen, bis auf der Fläche keine lebenden Zellen mehr zu entdecken waren; jede Wiederholung dauerte ungefähr eine Minute.
Zwanzig Minuten nachdem Bruce und Janie das Labor betreten hatte, war das Lesegerät noch immer dabei, sich zu reinigen, und gab Pieptöne von sich. Der Wachmann war zu weit entfernt, um die beunruhigenden Wiederholungen zu hören, und Janie und Bruce hörten nichts in ihrem gut abgeschirmten High-Tech-Raum.
Bruce fluchte, während er auf den leeren Computerbildschirm tippte. »Da ist nichts drin. Keiner zu Hause. Jemand muß die Speicherungen vollständig gelöscht haben.«
»Allmählich wird es zu seltsam«, sagte Janie. »Gibt es hier irgendwelche anderen Systeme, die wir benutzen können?«
»Nicht mit der gleichen Programmierung. Die zwei hier sind die einzigen, die auf solche Identifikationsvorgänge eingerichtet sind, wie wir sie brauchen.«
»Können wir in eines der anderen Labors gehen und dasselbe machen?«
Bruce seufzte. »Das können wir«, sagte er, »aber es wird zu lange dauern, von denen zu bekommen, was wir brauchen. Am hinteren Ende des Labors gibt es noch ein Gerät, nicht so raffiniert wie dieses, aber für die Art Vergleich, die wir brauchen, wird es ausreichen.« Er stand vom Stuhl auf und ging in die entsprechende Richtung. »Komm mit«, sagte er.
Sie folgte ihm, und er führte sie zu einer Bank voller Mikroskope; er wählte ein stereoskopisches Gerät, das zwei Bilder gleichzeitig zeigen konnte. Er legte den Stoffkreis auf eine Seite und ein abgeschnittenes Stück von dem Nachthemd auf die andere; dann stellte er die Beleuchtung an und fing an, die Vergrößerung zu verstärken. Als Einzelhei- ten der Stoffprobe sichtbar wurden, stellte er die Bilder schärfer ein.
Auf der Oberfläche des Stoffkreises befanden sich buchstäblich Tausende von Mikroben. Einige waren offensichtlich lebendig, bebten und zitterten und teilten sich, während er sie betrachtete, doch viele andere waren tot, hatten sich nach wiederholter Vermehrung verbrannt. Bruce schauderte bei dem Gedanken, daß die Hand, die in einem Plastikbeutel auf dem Laborboden lag, vermutlich von Millionen derselben Mikroben wimmelte und biologische Toxine verströmte, während die winzigen Kreaturen ihren streng geregelten Lebenszyklus durchliefen, sich exponentiell vermehrten und dann in giftigen Massen verstarben, wenn vom Wirt nichts mehr zum Verschlingen übrig war.
Janie stellte die Abbildung der Stoffprobe von dem Nachthemd auf die gleiche Vergrößerung ein und erhöhte die Schärfe.
Zuerst war nichts zu erkennen, und sie begann zu hoffen, daß der Anruf bei Biopol nicht nötig sein würde. Aber das könnte bedeuten, daß Caroline Ted etwas Schreckliches angetan hatte.
Doch sie mußte es wissen. Hartnäckig schob sie das Stück Stoff unter dem Mikroskop hin und her; die Unsicherheit quälte sie mit jedem weiteren Zentimeter Stoff, den sie untersuchte, immer mehr. Sie war nicht sicher, was sie erhoffen sollte; was sie sich wirklich wünschte, war Zeit, genug Zeit, um sorgfältiger über die Situation nachzudenken, um sich selbst auf die Suche nach Caroline zu machen. Einige Minuten lang war nichts weiter sichtbar als lauter Baumwollfasern, und die Chance, Zeit zu gewinnen, rückte in greifbare Nähe. Schließlich schoben sich ein paar Zellen ins Bild, dann noch ein paar, und schließlich war das Feld voll mit verstreuten Zellen. Janie verglich die Mikroben auf beiden Schirmen. Nachdem sie einige Male hin und her geschaut hatte, sagte sie zu Bruce: »Schau dir das an. Ich bin ziemlich sicher, daß es dieselben sind.«
»Laß mich mal sehen«, sagte Bruce. Auch er schaute mehrmals zwischen den beiden Abbildungen hin und her. Schließlich sagte er: »Ich glaube, du hast recht.«
Janie seufzte. Jetzt kommt der Moment, wo ich verflucht bin, wenn ich es tue, und auch verflucht, wenn ich es nicht tue, dachte sie traurig. »Caroline war wahrscheinlich krank, aber Ted hat ihr wahrscheinlich Medikamente gespritzt. Sieht aus, als würde keiner gewinnen«, sagte sie.
Ihre Blicke trafen sich. Jeder wartete darauf, daß dem anderen eine bessere Lösung für ihr Dilemma einfiel. Ein paar Sekunden herrschte Schweigen.
»Ich rufe an«, sagte Bruce müde und ging auf das nächste Telefon zu.