37

»Das ist doch ganz einfach, Captain. Sie explodieren nicht. Sondern wir!«

Als Mark sich zurücklehnte, drehte sich jedes Gesicht am Tisch der Offiziersmesse in seine Richtung. Während er seinerseits den Blick über die Gesichter schweifen ließ, hatte er ein plötzliches Déjà-vu-Gefühl. Es war, als ob er diese Situation schon einmal erlebt hätte. Plötzlich erinnerte er sich auch wieder, wo und wann das gewesen war.

Auf dem Rückzug von Klys’kra’t war der Gibraltar-Erde-Plan ihm durch den Kopf geschossen, als ob er schon die ganze Zeit fix und fertig irgendwo im Unterbewusstsein in einer Schublade gelegen und nur auf den richtigen Moment gewartet hätte, um sich zu präsentieren. Es war ein Moment wie dieser gewesen.

»Würden Sie das bitte näher erklären, Herr Rykand?«, fragte Harris in einem trügerisch milden Ton – ein Indiz dafür, dass der Kapitän heute Morgen extrem reizbar war.

»Ich bin nicht sicher, ob ich das … plausibel zu machen vermag, Captain.«

»Versuchen Sie es, Mister

»Ich habe über unser Problem nachgedacht … eigentlich unser doppeltes Problem. Dieser Rächer kommt schnell näher und wird sich auf Schussweite genähert haben, wenn wir das Tor erreichen. In dieser Entfernung wird er nicht einmal Instrumente brauchen, um die Gravitationswelle unseres Sprungs zu entdecken. Er wird sie spüren beziehungsweise nicht spüren. Wenn wir durchs Tor zu gehen scheinen und der Ruck dann nicht kommt, wird er es merken und sich fragen, über welche Antriebs-Fähigkeiten dieses Schiff wohl verfügt.«

»Also springen wir durchs Tor und versuchen unser Glück im Gasak-System!«, sagte der Chefingenieur.

Mark schüttelte den Kopf. »Was auch immer wir tun werden, hat hier eine größere Aussicht auf Erfolg als dort. Es gibt überhaupt nur eine Möglichkeit, wie wir das durchziehen können, ohne den Verdacht des broanischen Kapitäns zu erregen. Wir betreten das Tor, fahren die Generatoren wie zum Sprung hoch und explodieren dann, wobei wir und das Tor pulverisiert werden.«

»Sie wollen doch wohl nicht vorschlagen, dass wir uns selbst zerstören«, sagte Harris.

»Nein, Sir. Ich will hier mitnichten für Selbstmord plädieren. Vielleicht sollte ich es so ausdrücken: ›Wir scheinen zu explodieren und uns selbst und das Tor zu pulverisieren. ‹«

Aus den Blicken, mit denen er gemustert wurde, schloss Mark, dass das, was ihm so klar erschien, den anderen längst nicht so klar war. Allein der fragende Blick seiner Frau sagte ihm, dass sie seiner Logik nur halbwegs zu folgen vermochte.

»Sehen Sie, unser Sternentor-Generator muss ein Dutzend verschiedener Parameter exakt austarieren. Was, wenn der Generator diese Balance nicht mehr zu halten vermag und wir trotzdem zu springen versuchen?«

»Wir explodieren«, sagte der Kapitän.

»Und was, wenn wir das Tor betreten, durch den Hyperraum springen, in den Normalraum zurückfallen und eine ÜR auf das Tor abschießen – und das alles innerhalb von einer Mikrosekunde oder zwei?«

Nun musste Harris grinsen. »Dann scheinen wir zu explodieren!«

»Jawohl, Sir. Oder zumindest explodiert das Tor, und ein nicht allzu aufmerksamer Beobachter sieht unser Schiff in der Explosion verschwinden.«

»Wird unser Verfolger dann aber nicht misstrauisch werden?«, fragte jemand.

Mark zuckte die Achseln. »Und wenn schon? Er wird Zeuge einer Tragödie mit einer ganz banalen Erklärung, aber nicht eines Rätsels, das es zu lösen gilt.

Außerdem wird der Rächer durch die Zerstörung des Sternentors Gott weiß wie lange hier im Etnarii-System festsitzen. Sein Kapitän wird den Vorgang nicht melden können, bis jemand bemerkt, dass das Etnarii-Tor zerstört wurde.«

»Sie werden ihre Sensoren auf uns gerichtet haben«, sagte der Erste Offizier. »Wenn sie die Aufzeichnungen analysieren, werden sie sehen, dass wir einen Moment vor der Explosion verschwunden sind.«

»Dann trüben wir eben ihre Sicht. In dem Moment, da wir das Tor betreten, fahren wir unsere Sprunggeneratoren hoch. Ihre Instrumente werden das registrieren. Und wenn wir die kritische Leistung erreichen, blasen wir Luft aus und was nicht noch alles, um eine trübe Wolke zu erzeugen. Wir verstellen ihnen kurz den Blick und wechseln dann in den Überlichtbereich.«

»Können wir in dieser Nähe zum Stern überhaupt in den Überlichtbereich gehen?«

»So nah? Nein«, entgegnete Mark. »An der Peripherie des Tors müssten wir aber weit genug von Etnariis Gravitations-Singularität entfernt sein, um gefahrlos in den Hyperraum zu wechseln.«

Der Kapitän ließ sich das für einen Moment durch den Kopf gehen und nickte dann. »Die Idee gefällt mir. Wenn wir das Tor zerstören, wird die Nachricht von unserer Anwesenheit für Wochen oder sogar Monate zurückgehalten.«

Es dauerte noch einmal zwei Stunden, um Marks Idee zu konkretisieren. Und dann hatten sie einen Plan.


»Der Frachter verzögert, Meister.«

»Wie lange noch, bis sie das Tor erreichen?«

»Eine Umdrehung.«

»Wir werden gemäß Zeitplan verzögern, Fahrens-Meister.«

»Wir würden sie vielleicht noch erwischen, wenn wir die Beschleunigung beibehalten«, gab Saton zu bedenken.

»Und so schnell an ihnen vorbeifliegen, dass wir nur die Gelegenheit zu einem einzigen Schuss hätten? Nein, wir haben den Auftrag, diese Diebe festzunehmen und sie an den Rat zu überstellen.«

»Wir könnten sie manövrierunfähig schießen, bevor sie das Tor erreichen.«

»Und wir könnten sie ebenso gut mit einem Volltreffer pulverisieren. Nein, wir müssen sie möglichst unversehrt erwischen. Falls sie vor uns nach Gasak kommen, ersparen wir uns zumindest den Aufwand, sie dorthin zu schaffen. Wir werden den Flugplan einhalten.«

»Zu Befehl, Meister.«

Pas-Tek nahm in Kauf, dass das Gewicht auf seiner Brust weiterhin fünf Zwölftel des gewohnten Werts überstieg. Die Beschleunigung erschwerte zwar das Atmen, war aber noch nicht kritisch.

Der Abstand verkürzte sich nun, wo das Zielobjekt den rasanten Flug zum Tor verlangsamte. Jedoch waren die Götter der Geschwindigkeit und Entfernung gegen sie. Der Frachter würde das Tor erreichen, bevor sie noch auf Schussweite aufgeschlossen hatten.

Sollen sie glauben, dass sie entkommen seien, sagte Pas-Tek sich mit rabenschwarzem Humor. Sie würden bald eines Besseren belehrt werden. Die Blutschwur würde im Tor von Gasak materialisieren, bevor das trojanische Schiff zu fliehen vermochte.

»Ingenieur!«

»Ja, Meister.«

»Was machen meine Sprung-Motoren?«

»Die Motoren sind kalibriert und einsatzbereit, Meister.«

»Sehr gut. Meinen Glückwunsch an deine Mannschaft.«

»Ich werde es ihr ausrichten, Meister.«


»Wie sieht’s aus, Astrogator?«, fragte Captain Harris sechsundzwanzig Stunden nach der Wende.

»Noch fünfzehn Minuten, Captain«, erwiderte Mark, ohne die Anzeigen aus den Augen zu lassen.

»Und der Rächer?«

»Schließt schnell auf, Sir. Aber er wird es trotzdem nicht schaffen.«

»Gott sei Dank! Antrieb!«

»Ja, Sir«, meldete der Chefingenieur sich aus den Tiefen des Schiffs.

»Alles klar bei Ihnen?«

»Bereit, Sir. Ich befürchte, dass es einen ziemlichen Ruck geben wird. Es wird zum Glück aber so schnell gehen, dass wir es wahrscheinlich kaum merken. Trotzdem würde ich allen raten, sich anzuschnallen – nur für den Fall.«

»Funker, machen Sie die Durchsage.«

»AN ALLE. FÜR WECHSEL IN ÜBERLICHT-BEREICH SICHERN! WARNUNG – ES KANN HOLPRIG WERDEN. VIERZEHN MINUTEN UND ABNEHMEND!«

Mark straffte den Beschleunigungsgurt und wählte mit seinem Kommunikator die Abteilung Alien-Technologie an. Innerhalb von Sekunden erschien Lisas besorgtes Gesicht auf einem seiner Zusatzmonitore.

»Alles gesichert bei euch?«

»Sicher.«

»Wie geht’s dir?«

»Ich bin in Ordnung.«

»Es wird gleich vorbei sein.«

»Ich hoffe nicht«, sagte sie mit einem matten Lächeln.

»Ich liebe dich.«

Auf ihrem Gesicht erschien kurz ein etwas eigenartiger Ausdruck. »Ich liebe dich auch«, erwiderte sie dann.

»Wir sehen uns nach dem Sprung.«

»Ich werde auf dich warten.«

Damit unterbrach er die Verbindung und konzentrierte sich auf seine Bildschirme.

Zehn Minuten später, als die Ringform des Sternentors den Hauptbildschirm ausfüllte und mit jeder Sekunde größer wurde, befahl Captain Harris: »Astrogator. Die Sternentor-Sprunggeneratoren aktivieren. Langsam hochfahren. Er soll mitbekommen, wie unser Feld sich aufbaut.«

»Aye, aye, Sir.«

»Technik. Vorbereiten auf Plasma-Ausstoß!«

Mark schaltete die Generatoren ein, die sie beim Kontakt mit einem komplementären Sternentor-Feld in ein entferntes System katapultieren würden. Er sah, wie die Balken der Generator-Leistungsanzeige in die Höhe schnellten und von rot über gelb zu grün wechselten.

»Generatoren online, Kapitän.«

Der nächste Schritt beinhaltete eine ausführliche Kommunikation zwischen dem broanischen Ersatz-Computer des Schiffs und dem des Sternentors. Der Synchronisierungs-Vorgang nahm ein paar Sekunden in Anspruch und sollte mit der grünen Meldung SPRUNGBEREIT auf Marks Bildschirm abgeschlossen werden.

Statt der erwarteten Meldung stach ihm jedoch eine rot blinkende WARTEN-Warnung ins Auge.

»Captain, die Synchronisierung hat nicht geklappt. Das Tor hat unsere Sprung-Anforderung abgewiesen.«

»Was ist los?«, fragte Harris unwirsch. »Stimmt was nicht mit dem Tor?«

»Anscheinend nicht«, sagte Mark beim Blick auf seine Instrumente.

»Wir müssen den Anschein erwecken, dass wir gleich springen werden, Astrogator«, sagte Harris leise. »Und zwar sofort!«

»Ich arbeite daran, Captain«, erwiderte Mark und schickte den Sprungbefehl erneut ans Tor. Und wieder wurde er mit einer WARTEN-Warnung beschieden.

»Gefechtssysteme! Wo ist dieser Rächer?«

»Schnell näher kommend, Captain«, meldete Matrose Rodriguez, der Offensivwaffensystem-Techniker. »Zwei Minuten bis Schussentfernung.«

»Bereit machen, um auf mein Kommando eine Überlicht-Rakete abzuschießen.«

»Aye, aye, Sir.«

»Verdammt!«

»War das eine vorschriftsmäßige Meldung, Astrogator?«

»Verzeihung, Sir. Ich habe gerade die Ursache für das Problem ermittelt.«

»Spannen Sie uns nicht auf die Folter.«

»Es liegt nicht am Tor, Captain. Es funktioniert einwandfrei.«

»Wieso hat die Synchronisation dann nicht funktioniert?«

»Weil ein anderes Schiff aus der entgegengesetzten Richtung durchkommt. Wir werden von einem Kollisionsschutz ausgesperrt!«


»Meister. Das Tor ist von Gasak aus aktiviert worden!«

»Sag das noch mal, Fahrens-Meister.«

»Es ist ein Schiff im Tor des Gasak-Systems und macht sich zum Sprung bereit. Der Frachter kommt nicht durch.«

»Dann haben wir sie!«


»Gefechtsstand, wo ist dieser Rächer?«

»Er ist inzwischen auf Schussweite herangekommen, Captain«, meldete Rodriguez. »Er hat die Waffen aber noch nicht scharf gemacht.«

»Dann warten Sie, bis er es tut. Beim ersten Anzeichen putzen Sie ihn weg.«

»Aye, aye, Sir.«

»Astrogator, Meldung!«

»Das Tor fährt hoch, Sir. Das Sprungfeld hat fast den kritischen Wert erreicht! Ich glaube …«

Bevor Mark Harris zu sagen vermochte, was er glaubte, ging ein solcher Ruck durchs Schiff, dass jede Staufachtür auf der Brücke klapperte.

»Das war aber eine starke Welle!«, rief jemand, als das durch die Gravitationswelle verursachte Klirren nachließ.

»Und das hier ist auch stark!«, sagte Vivian Domedan und deutete aufs Sichtfenster. Wo zuvor nur Schwärze im Zentrum des Sternentors gewesen war, hing nun ein großes kugelförmiges Schiff.

»Ein Massengutfrachter«, meldete Rodriguez. »Er muss wegen der jährlichen Ernte gekommen sein. Er wird das Tor gleich verlassen.«

»Bringen Sie uns rein!«, befahl Harris.

Die New Hope wurde wieder durchgeschüttelt, diesmal aber durch ihre eigenen Normalraum-Triebwerke. Nach der misslungenen Synchronisation hatte Mark das Schiff ein paar Kilometer vor dem Ziel entfernt geparkt. Wo sie nun wieder ›unter Dampf‹ stand, preschte die New Hope wie ein Rennpferd vor und nahm zunehmend Fahrt auf. Sowohl das Sternentor als auch der eben erst angekommene Massengutfrachter schwollen beunruhigend an.

Der Massengutfrachter vollführte ein seitliches Manöver, um den irren Selbstmördern auszuweichen, die frontal auf ihn zurasten. Die New Hope schoss so dicht an ihm vorbei, dass man ihn mit dem bloßen Auge zu sehen vermochte. Nach dem Eintritt in das kreisrunde Sternentor brachte Mark das Schiff zum Stillstand und hielt es dort für ein Dutzend Sekunden in der Schwebe, während er die Ausrichtung überprüfte.

Er aktivierte die Synchronisation. Die Balken der Leistungsanzeige schnellten auf dem Bildschirm wieder in die Höhe, und broanische Schriftzeichen dokumentierten die blitzschnelle Kommunikation zwischen Schiff und Tor. Diesmal erschien – beinahe zu seiner Überraschung – die blinkende Meldung SPRUNGBEREIT auf dem Monitor.

Erst als er pfeifend ausatmete, wurde Mark sich bewusst, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. »Bereit zum Sprung, Captain«, meldete er.

»Technik! Verklappt euren Giftmüll.«

Das Sternenfeld auf dem Hauptbildschirm verdüsterte sich, als ein glühender Nebel das Schiff einhüllte. Harris setzte die Müllentsorgung noch für fünf Sekunden fort, bis sie den glimmenden Funken nicht mehr sahen, der Etnarii war. Hoffentlich waren sie nun auch für die Sensoren des Rächers verschleiert. Als der Stern verschwand, gab er den Befehl.

»Überlichtantriebs-Generatoren hochfahren … JETZT!«