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Mark Rykand begleitete Can Vis Tal betont lässig zur Tür der ihnen zugewiesenen Unterkunft und verabschiedete ihn. Der Handelsattachée hielt für einen Moment inne und fragte: »Ist auch alles in Ordnung mit unserem Geschäft?«

»Was soll denn nicht in Ordnung damit sein?«, fragte Mark.

»Der Anruf von Eurem Schiff. Es war doch nicht etwa eine schlechte Nachricht, oder?«

»Nein. Captain Harris wollte nur melden, dass die Ladung zur Übernahme bereit sei, sobald das Landungsboot in die Umlaufbahn zurückkehrt. Wir müssten Eure Bezahlung morgen hier haben.«

»Dann muss ich nun gehen und dafür sorgen, dass unser Teil der Vereinbarung eingehalten wird«, erwiderte der Ranta.

»Das wäre wohl am besten. Wir liegen im Zeitplan zurück, und ich möchte gern starten, sobald der vasa-Saft geliefert wurde. Je eher wir abreisen, desto früher kehren wir nach Troja zurück, und desto eher wird auch der Massengutfrachter mit dem Rest Eurer Bezahlung hier eintreffen.«

»Dann haben wir beide also Grund zur Eile«, erwiderte Can Vis Tal, machte auf dem Absatz kehrt und war mit verblüffend schnellen Schritten zur Tür hinaus.

Marks Hände zitterten, als er nach seinem Kommunikator griff und das Schiff anrief.

»Harris hier«, kam sofort die Antwort.

»Was ist los?«, fragte Mark. Beide Männer sprachen Standard, um zu verhindern, dass ihr Signal dechiffriert wurde, falls irgendjemand es auffing.

»Ein Schiff ist gerade aus dem Sternentor gekommen.«

»Was für ein Schiff?«

»Ein broanischer Rächer.«

Mark schluckte. ›Schlechte Nachricht‹ schien diesem Sachverhalt nicht ganz gerecht zu werden. Die Mission, eine planetarische Datenbank zu beschaffen, war bisher störungsfrei verlaufen, und nun war das ungünstigste aller nur denkbaren Szenarien eingetreten.

»Sind Sie sicher, dass es ein Rächer ist?«

»Das Emissionsspektrum entspricht den Aufzeichnungen vom Gefecht bei Neu-Eden.«

Es war natürlich kein Gefecht gewesen. Eher ein Gemetzel. Als die Magellan Sar-Says Schiff erstmals geortet hatte, wurde es von einem Raumschiff beschossen, das Sar-Say als ein starkes Kriegsschiff identifiziert hatte. Er hatte es dem Typ ›Rächer‹ zugeordnet, und ein anderes Schiff dieser Klasse war anscheinend nach Pastol unterwegs. Sie waren so verdammt nah dran! Wieso hätte der Broa mit dem Besuch nicht noch eine Woche warten können?

»Lässt sich feststellen, ob sie nach uns suchen?«, fragte Mark.

»Sie scheinen es nicht eilig zu haben, hierher zu kommen. Im Moment entfernen sie sich mit gemächlicher Beschleunigung vom Sternentor.«

»Wie lauten Ihre Befehle, Captain?«

»Für Sie und Ihre Leute – den Hintern auf dieses Boot zu bewegen und zurückzukommen. Wir müssen aus dem Orbit ausscheren, sobald Sie an Bord sind.«

Mark drehte sich schier der Magen um. Zugleich jagten sich die Gedanken. Schon so weit gekommen zu sein und dann zu scheitern, das wäre wirklich ein vernichtender Schlag. Und noch schlimmer – das war nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passierte.

»Ich glaube, das wäre ein Fehler, Captain.«

»Ach ja, Herr Rykand?«, erwiderte Harris mit strenger Stimme.

»Wir hatten dieses Problem auch schon auf Klys’kra’t. Wir hatten die planetarische Datenbank praktisch schon in der Hand, und dann haben wir es zugelassen, dass sie uns doch noch durch die Finger glitt.«

»Nach dem, was ich gehört habe, Leutnant, war es aber die richtige Entscheidung«, erwiderte Captain Harris.

»Sie haben wahrscheinlich recht, Sir. Wenn es Sar-Say gelungen wäre, Kontakt zu den Einheimischen aufzunehmen, wer weiß, was dann geschehen wäre. Wir durften die Erde nicht aufs Spiel setzen. Und doch liege ich nachts manchmal wach und frage mich, ob wir nicht alles auf eine Karte hätten setzen sollen.«

»Lautet so Ihre jetzige Empfehlung?«

»Ja, Sir. Ich glaube schon. Dieses System hat nur ein Sternentor. Wenn wir es ansteuern, müssen wir direkt an diesem anfliegenden Rächer vorbei. Und wenn der broanische Kapitän uns die Anweisung erteilt, zwecks Durchsuchung zu stoppen? Oder den Ranta fällt auf, dass wir nach dem Erscheinen des broanischen Schiffs die Waren im Stich gelassen haben und stiften gegangen sind. Es wäre besser, zu bleiben und uns nichts anmerken zu lassen. Zumal wir auch gar nicht wissen dürften, dass ein broanisches Kriegsschiff im System ist.«

»Sie riskieren das Leben Ihrer Bodentruppe und das aller Leute in diesem Schiff, Mister.«

»Ja, Sir, aber ich glaube trotzdem, dass der Nutzen das Risiko überwiegt. Die Ranta sagen, dass die Datenbank in drei Tagen fertig sei. Wenn der Rächer es nicht so eilig damit hat, hierher zu kommen, wird er in vier oder fünf Tagen in die Umlaufbahn gehen. Also haben wir mindestens vierundzwanzig Stunden Zeit, alles unter Dach und Fach zu bringen, zum Schiff zurückzukehren und zu starten, sobald der Rächer in eine Parkbahn geht.

Sie schlüpfen rein, und wir schleichen uns raus. So werden wir ihnen nicht frontal entgegenfliegen müssen, und die Ranta werden nicht auf die Idee kommen, dass wir die Flucht ergreifen.«

»Und falls doch etwas schiefgeht, Leutnant?«

»Falls etwas schiefgeht, schlagen wir uns eben durch. Außerdem steht immer noch die Chicago Gewehr bei Fuß, um uns im Notfall rauszuhauen.«

Es trat eine lange Pause ein, in der Captain Harris über seine Empfehlung nachdachte. In der Stimme, die schließlich aus dem Kommunikator drang, schwang ein Hauch Resignation und Erschöpfung mit. »Wir werden Ihrer Empfehlung folgen. Ich hoffe nur, dass Sie wissen, was Sie tun.«

»Dann sind wir schon zu zweit, Captain.«


Drei Tage später löste Can Vis Tal sein Versprechen ein. Fünf große Hundert-Liter-Fässer wurden mit großem Pomp im Landungsboot verladen, und der Handelsattachée überreichte ihm einen Datenwürfel, der die planetarische Standard-Datenbank von Pastol enthielt.

»Also, Meister-Händler, wir haben unseren Teil der Abmachung erfüllt.«

»Vielen Dank, Can Vis Tal. Und wir werden unseren Teil ebenfalls erfüllen«, sagte er und wies auf die exotischen Güter, die vor der Luftschleuse des Landungsboots gestapelt waren.

Auf das Signal des Ranta schaffte sein Arbeitstrupp die Fässer ins Boot und sicherte sie an den hinteren Passagierbänken. Sie mussten sich fast verbiegen, um durch die Luftschleusen-Tür zu gehen. Dann luden die Ranta den Stapel aus Generatoren, Reformern, Verifikatoren und Statuen auf einen kleinen selbstfahrenden Wagen.

Als die Ware sicher in einem nahe gelegenen Lagerhaus verstaut war, hielt Can Vis Tal eine Rede über das gute Gelingen des Geschäfts und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass ihr vasa-Weinmachen-Geschäft einen erklecklichen Mehr-Wert für beide Spezies schaffen möge. Er schaffte es tatsächlich, eine Aussage auf eine halbe Stunde zu dehnen, für die auch ein paar Minuten genügt hätten. Den vier bibbernden Angehörigen der Bodentruppe, die vor dem Boot angetreten waren, kam es wie eine Ewigkeit vor.

Schließlich fand der Handelsattachée ein Schlusswort, und Mark hob dann auch noch zu einer Rede an. Er bedankte sich bei Can Vis Tal für seine Gastfreundschaft und lobte den Geschäftssinn und die Fairness der Ranta. Als der Rhetorik schließlich Genüge getan war, schüttelte Can Vis Tal jedem von ihnen die Hand, wie Mark es ihn gelehrt hatte, und dann wurde es Zeit, das Boot zu besteigen.

Mark ging als Letzter an Bord. Mit einem Seufzer betätigte er das Bedienelement, das beide Luftschleusen-Türen verriegelte. Er legte den schweren Mantel ab, stopfte ihn in ein kleines Staufach und bahnte sich dann zwischen metallisch schimmernden Fässern mit vasa-Saft einen Weg nach vorn. Er setzte sich auf die erste Bank, wo seine Frau schon seit einer Weile mit dem Beckengurt hantierte.

Er schaute sich noch einmal um. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass alle an Bord waren, wandte er sich an Bernie Sampson und sagte mit militärisch lauter Stimme: »Pilot!«

»Ja, Leutnant?«

»Würden Sie uns bitte verdammt noch mal hier rausbringen?«

»Gern, Leutnant. Aber gut festhalten, denn das wird einer der schnellsten Transits, die Sie je erlebt haben.«

Sekunden später waren sie in der Luft und gewannen Höhe. Als sie weit genug vom Kontinent entfernt waren, durchbrach Sampson die Schallmauer – wobei der Schall sich wegen der niedrigeren Temperatur auf Pastol langsamer ausbreitete als auf der Erde – und nahm Kurs auf den tiefen Raum.


Mark wurde sich erst bewusst, wie sehr er die New Hope vermisst hatte, als er wieder sicher an Bord war. Kaum dass die Hangar-Bucht mit Druck beaufschlagt worden war, verschwand er auch schon durch die Luftschleuse. Er hatte das Gefühl, dass es hier sogar noch kälter war als auf Pastol. Die Atemluft kondensierte zu Wölkchen. Und er hatte drei aufgeregte Mitglieder der Bodentruppe im Schlepptau.

Es war gut, wieder ›zu Hause‹ zu sein.

Captain Harris begrüßte sie an der Luke. »Haben Sie alles bekommen?«

Mark hielt das glitzernde Juwel des Datenwürfels zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Ist das auch echt?«

»Ich weiß noch nicht. Ich bezweifle aber, dass die Ranta uns betrügen würden. Sie sind darauf erpicht, uns ihren Saft zu verkaufen. Weil man bei Aliens aber nie weiß, werden wir ein paar Kopien erstellen und sie von Seiichi überprüfen lassen.«

»Sie haben gerufen, Chef?«, rief der trojanische Hilfs-Gelehrte hinter Mark.

Mark drehte sich zu ihm um und übergab ihm den Würfel.

»Als Erstes sollen Sie ein Dutzend Kopien erstellen. Dann überprüfen Sie, ob es sich auch wirklich um die Datenbank handelt. Suchen Sie nach Abbildungen des Sternentor-Systems.«

»Jawohl, Sir.«

»Schauen Sie aber erst nach, wenn Sie die Kopien gemacht haben. Wir sind schon zu weit gekommen, um es jetzt noch zu vermasseln.«

Takamatsu grinste. »Keine Sorge. Ich verstehe mein Handwerk.«

»Gut, dann an die Arbeit.« Marks heftige Antwort war ein Indiz für die Anspannung, unter der er in den letzten Wochen gestanden hatte.

Er und Harris schauten Takamatsu nach, als er durch die Luke verschwand. Dann wandte Mark sich an den Kapitän und fragte: »Was ist mit diesem Rächer?«

»Er trödelt rum, als ob er alle Zeit der Welt hätte. Er wird morgen Nachmittag in die Umlaufbahn gehen.«

»Glauben Sie, dass wir seinen Verdacht erregt haben? Hat er irgendwelche feindseligen Regungen gezeigt?«

»Keine«, erwiderte Harris. »Und er tut auch gut daran. Ich werde ihn mit beiden Überlicht-Raketen ins Visier nehmen, während wir sprechen. Wenn er auch nur eine falsche Bewegung macht, werde ich ihn zur Hölle schicken.«


»Pastol-Raumflugkontrolle, hier spricht das trojanische Handelsschiff New Hope. Wir sind bereit, aus dem Orbit auszuscheren.«

»Ihr werdet noch warten müssen«, erwiderte eine Ranta-Stimme. »Erst wird ein bevorrechtigtes Kriegsschiff der Meister abgefertigt.«

»Verstanden. Unsere Sensoren zeigen an, dass es auf der anderen Seite des Planeten in eine Umlaufbahn gehen wird. Danach würden wir gern zum Sternentor aufbrechen.«

»Ihre Bitte wird berücksichtigt. In Bereitschaft bleiben.«

»Genau wie bei unserer Marine«, murmelte Harris. »Fertig werden und warten!«

Eine halbe Stunde später glitt der broanische Rächer hinter der Scheibe von Pastol hervor und ging vermutlich in die gleiche Parkbahn wie die New Hope. Wenig später ertönte eine Stimme im Kommunikator und erteilte ihnen Startfreigabe.

Harris bestätigte die Anweisung und erteilte den gleichen Befehl, den Mark schon beim Verlassen des Planeten gegeben hatte.

»Astrogator, bringen Sie uns verdammt noch mal hier raus, aber es darf nicht so aussehen, als ob wir eine Flucht reinhauen.«

»Jawohl, Sir.«

»Wenn Sie den orbitalen Schrott hinter sich haben, erhöhen Sie die Geschwindigkeit so, dass man glauben könnte, wir wollten verlorene Zeit aufholen. Aber drücken Sie nicht stärker auf die Tube, als man unter diesen Umständen erwarten würde.«

»Schon klar, Captain.«

Es folgten vier Stunden der Anspannung, in denen sie Ausschau nach eventuellen Verfolgern hielten. Es gab nur zwei Schiffe im System … ihr eigenes und den Rächer. Dieser Umstand trug jedoch keineswegs zur allgemeinen Beruhigung bei.

Am Ende der ersten Schicht rief Captain Harris seine Leute in der Offiziersmesse zusammen. Außer Mark, der sein Astrogator war, war noch der Rest der Bodentruppe davon betroffen.

Sie erstatteten ihm Bericht über die Ereignisse an der Oberfläche, während er und die Besatzung im Orbit gewartet hatten. Wenn die Bodentruppe schon fast daran verzweifelt wäre, die Datenbank zu erlangen, war der Stress für das Personal an Bord der New Hope noch viel größer gewesen. Es hat eine gewisse beruhigende Wirkung auf die menschliche Psyche, wenn man überhaupt irgendetwas tut. Die Leute an Bord des Schiffs waren jedoch nicht in den Genuss dieses Effekts gekommen, denn sie waren zur Untätigkeit verdammt.

Zum Schluss der Nachbesprechung erstattete Seiichi Takamatsu über seine Suche im Datenwürfel Bericht.

»Es handelt sich auf jeden Fall um eine planetarische Datenbank. Sie muss mit 50 Terabyte Daten gespickt sein. Der größte Teil ist Ranta-Mist, aber es ist mir dann doch gelungen, die Karte des Sternentor-Netzwerks zu finden. Möchten Sie sie sehen?«

Das war natürlich eine rein rhetorische Frage. Er gab eine Reihe von Befehlen in seinen Daten-Com ein, und der große Holobildschirm an einer Wand des Abteils erhellte sich.

Im ersten Moment sahen sie ein buntes Kaleidoskop in allen Farben des Regenbogens, und dann erschien eine Grafik aus broanischen Symbolen. Der Bildschirm wurde mit glühenden goldenen Sternentor-Symbolen angefüllt, die durch dunkelrote Linien miteinander verbunden waren. Es waren so viele, dass Mark Schwierigkeiten hatte, die Gestalt der Karte nachzuvollziehen.

»Das ist keine Sternkarte im eigentlichen Sinn«, sagte Takamatsu. »Sie gleicht eher einem U-Bahn-Netzplan. Die Verbindungslinien stellen die Topologie des Systems dar, nicht aber die Standorte im Raum. Die Skalierung wird für wichtige Systeme verkleinert und für unbedeutende vergrößert.«

»Können Sie uns auch sagen, wo die broanische Heimatwelt zu finden ist?«, fragte Harris.

Der Wissenschaftler hielt in einer Geste der Empörung die Hände hoch. »Captain, gut Ding will Weile haben. Ich habe diese Grafik erst kurz vor der Besprechung gefunden.«

»Das ist ja riesengroß!«, rief Lisa beim Blick auf den Bildschirm.

Sie hatte recht. Es sah so aus, als ob eine riesige Spinne beim Spinnen ihres Netzes den Verstand verloren hätte. Der ganze Bildschirm wurde von roten Linien durchkreuzt, die scheinbar wahllos von einem Sternentor zum andern verliefen.

»Ich frage mich, ob wir vielleicht ein größeres Stück abgebissen haben, als wir kauen können?«, meinte einer von Captain Harris’ Stabsoffizieren nachdenklich.

Angesichts der Verbindungen zwischen einer Million Sternsystemen fragte Mark Rykand sich das auch.

Und Lisa hatte in der Tat recht, sagte er sich beim Anblick des Gesichts des Feinds. Es gab so viele Sternentore in der Souveränität, dass die Suche nach dem oder den wichtigsten Toren – die zur broanischen Heimatwelt führten – buchstäblich der Suche nach der Nadel im Heuhaufen glich.

Immerhin hatten sie nun eine Karte des Heuhaufens, und das würde die Suche wesentlich erleichtern.