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Sar-Say fläzte sich auf der Couch und lauschte Gus Heinz’ Sermon über die Probleme des interstellaren Import/Export-Geschäfts. Die beiden saßen vor der Glaswand im Fakultäts-Klub von Harvard, und wären die allgegenwärtigen Sicherheitsleute an der Tür nicht gewesen, hätte sie man sie auch für zwei Geschäftsleute halten können, die sich nach einem harten Tag im Büro einen Drink genehmigten.
Nur dass einer der ›Geschäftsleute‹ natürlich ein Pseudoaffe war, der keinen Alkohol konsumierte. Vor Sar-Say stand ein großes Glas Orangensaft, für das er ein Faible entwickelt hatte.
»Aber Sie haben doch sicherlich eine Art von Bestandskontrolle, um eine ausreichende Vorratshaltung zu gewährleisten«, entgegnete Sar-Say auf Heinz’ Klage hin, dass die letzte Sendung von Avalon, einer der interstellaren Kolonien der Erde, unvollständig gewesen sei.
»Man kann zwar eine Bestellung aufgeben, aber bei einem knappen Gut, das Curaline nun einmal ist, werden die Bestellungen nicht immer vollständig ausgeführt. Nicht zu vergessen der Zeitverlust zwischen Auftragserteilung und der Feststellung, dass nur eine Mindermenge des Produkts geliefert wurde. Da die Kommunikation über Sternenschiffe ohne feste Routen und Flugpläne erfolgt, dauert es manchmal Monate, bis man schließlich feststellt, dass man die Kundenwünsche nicht zu erfüllen vermag.«
»Wieso geben Sie dann nicht zwei Bestellungen auf, um auf die benötigte Menge zu kommen?«
»Geht nicht«, erwiderte Heinz und unterstrich das mit einer heftigen Geste. »Falls beide Bestellungen jeweils zu hundert Prozent ausgeführt würden, würde ich bankrott gehen.«
Sar-Say nickte, als ob die trockenen technischen Details von Heinz’ Geschäft das Faszinierendste wären, was er jemals vernommen hatte. Curaline war eine Art Wunderdroge, die in einem Werk auf Avalon synthetisiert und dann zu einem so hohen Preis verkauft wurde, dass selbst ein Transport über Lichtjahre sich wirtschaftlich noch lohnte.
Das war eine der privaten Besprechungen, die Sar-Say am Abend seines ersten öffentlichen Auftritts vorgeschlagen hatte. Sie hatten sich im letzten halben Jahr sporadisch getroffen und waren miteinander vertraut geworden. Vordergründig sollten diese Besprechungen Sar-Says Verständnis der menschlichen Gesellschaft befördern. Dass die Menschen darauf erpicht sein sollten, dass er sie besser kennenlernte, war zwar widersinnig, aber sie behaupteten, dass er dann leichter ihre Fragen beantworten könne. In Wirklichkeit hatte er sich bereits ein profundes praxisbezogenes Wissen von dem Geschäftsmann angeeignet sowie vom halben Dutzend anderer Personen, mit denen er sprechen durfte.
Sar-Say freute sich aus mehreren Gründen auf die Gespräche – nicht zuletzt deshalb, weil sie in der Lounge des Fakultäts-Klubs stattfanden und nicht in seiner Gefängniszelle. Direktor Fernandez sagte, dass es gut für ihn wäre, hin und wieder mal rauszukommen, und Sar-Say pflichtete ihm bei.
Und dann war da noch Sar-Says Hauptmotiv. Seit Klys’kra’t hatte er an einem neuen Plan gearbeitet, aus der menschlichen Gefangenschaft zu entkommen. Das einzige Problem bestand darin, dass er zur Umsetzung des Plans die Hilfe einer kleinen Anzahl von Menschen benötigte.
Von allen Gesprächspartnern erschien Heinz ihm als der beste Kandidat für seine Erfordernisse. Wenn alles gut ging, konnte er in zwei Jahren wieder in der Zivilisation sein. Und wenn nicht, dann wäre er wahrscheinlich tot.
»Wenn die Kommunikation per Sternenschiff so schwierig ist, weshalb investieren Sie dann nicht in ein eigenes Sternenschiff, um den Verkehr nach und von Avalon zu normalisieren? Es scheint eine Nachfrage zu bestehen und damit die Aussicht auf Gewinn.«
»Wissen Sie überhaupt, wie viel der Unterhalt eines Sternenschiffs kostet?«, fragte der Geschäftsmann.
»Es gibt doch bestimmt noch andere Leute, die ähnliche Probleme haben wie Sie. Sie könnten reich werden, indem Sie Ihnen einen Service bieten, der durch den Betrieb Ihres eigenen Schiffs ermöglicht wird.«
Heinz schüttelte den Kopf. »Ich bin doch kein Fuhrunternehmer. Ein Flug in den interstellaren Raum erfordert Ressourcen, deren Beschaffung und Wartung sehr teuer ist. Zum Teufel, ein Raumfahrer verdient doppelt so viel wie ein gewerkschaftlich organisierter Robottruck-Disponent! Die Investition ist mit hohen Fixkosten verbunden. Nur eine verlorene Sendung – aus welchem Grund auch immer –, und man ist bankrott.«
»Aber Sie könnten ein Sternenschiff chartern, wenn Sie denn wollten?«, insistierte Sar-Say.
»Ich könnte und würde es auch tun«, erwiderte Heinz, »wenn es erforderlich wäre.«
»Wie stellt man das an? Ich weiß wohl, wie wir es in der Zivilisation handhaben. Es wird sich vom hiesigen Prozedere sicherlich kaum unterscheiden.«
Heinz erläuterte ihm, wie man einen Chartervertrag für ein Sternenschiff schloss. Wenn überhaupt jemand einen solchen Vertrag schloss, waren es potenzielle Kolonisten auf dem Weg zu einer kürzlich entdeckten Welt. In einem solchen Fall warfen Tausende Familien ihre Ersparnisse in einen Topf, um eine Anzahlung zu ermöglichen, und traten dann mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren einen Teil der Erträge ihrer neuen Kolonie an den Finanzier ab, um die restlichen Transportkosten zu ihrer Welt abzuzahlen.
Natürlich waren die Kolonieschiffe die größten jemals gebauten Sternenschiffe, wie Gus erläuterte. Das musste auch so sein. Nach der Gründung einer Kolonie vergingen unter Umständen zehn Jahre, bevor sie ein anderes Schiff sah. Das bedeutete, dass alles, was zum Überleben benötigt wurde, im Schiff mitgeführt werden musste.
»Ja«, pflichtete Sar-Say ihm bei. »Ein Kolonieschiff wäre für Ihre Zwecke viel zu groß.«
»Verdammt richtig! Obwohl meine Ladung nur ein Volumen von ein paar Kubikmetern hat, muss ich bei der Bank regelrecht um ein Darlehen betteln, um die Kosten für die Beschaffung und den Versand zu decken. Diese Banditen von Schiffskapitänen wissen schon, wie sie einen am Arsch kriegen.«
Sar-Say hatte diese Idiomatik zwar noch nicht gehört, erschloss die Bedeutung aber aus dem Zusammenhang.
»Wie viele private Sternenschiffe befinden sich da draußen im menschlichen Raum?«, fragte er.
»Hundert oder so«, erwiderte Heinz, »die einem alle das Fell über die Ohren ziehen.«
Gus Heinz verlegte sich wieder darauf, denjenigen zu beschimpfen, der nicht imstande gewesen war, seinen aktuellen Auftrag zu erfüllen. Sar-Say verbarg seine Ungeduld bei dieser Wendung des Gesprächs; es nahm eine Richtung, die ihm definitiv nicht zusagte. Schließlich wurde Heinz’ Stimme brüchig; er verstummte und nahm einen Schluck Bier, um die Kehle zu befeuchten. Das Bier war längst schal, so ausgiebig hatte er über seine Probleme gequatscht.
Sar-Say warf schließlich einen Blick auf die Uhr an der Wand und sagte: »Ich fürchte, unsere Zeit ist um. Dr. Fernandez wird böse mit mir, wenn ich mich bei seinen Forschungssitzungen verspäte. Ich bedanke mich für das Gespräch.« Sprach’s und streckte den Arm aus, um Heinz auf menschliche Art und Weise die Hand zu schütteln.
Heinz folgte seinem Beispiel, und fünf Finger griffen in sechs ein. Heinz’ Gesichtsausdruck, der während der Litanei säuerlich gewirkt hatte, wurde plötzlich neutral. Sar-Say verspürte einen Anflug von Panik. Als sie die Hände wieder losließen, ließ Heinz die rechte Hand in der Jacketttasche verschwinden. Sie tauschten noch ein paar Nettigkeiten aus, und dann stand der Geschäftsmann auf und geleitete Sar-Say zu den Sicherheitsleuten, die darauf warteten, ihn in seine Zelle zurückzubringen. Er selbst ging nach draußen ins Freie.
Jedoch erwähnte Heinz mit keinem Wort den Zettel, den Sar-Say ihm während des Händedrucks zugesteckt hatte – ein Umstand, der den Broa hoffnungsvoll stimmte.
Jedes der drei Institute, die verschiedene Aspekte des Broa-Problems studierten, veranstaltete im Wechsel die vierteljährlichen Fortschritts-Prüfungen. Die Winter-Revision hatte in Paris und die Frühjahrs-Revision in Colorado Springs stattgefunden. Die Sommer-Revision, die ursprünglich für Juni vorgesehen und dann auf Bitten der Welt-Koordinatorin auf Ende August verschoben worden war, sollte in Boston stattfinden. Wegen der Nähe Bostons zu Toronto wären auch ein paar Kongressabgeordnete anwesend sowie mehr Personal des Stabs der Welt-Koordinatorin als sonst.
Sowohl das Gibraltar-Institut als auch das Vasloff-Institut machten gute Fortschritte mit ihren Studien, und die Sommer-Revision war als Vorschau auf die Pläne gedacht, die dem Parlament im Herbst vorgelegt werden sollten. Die Schlussberichte würden eine parlamentarische Anfrage auslösen und in eine Parlamentsabstimmung münden, um sich für die eine oder andere Option zu entscheiden. Optimisten sagten eine Entscheidung noch vor Ende des Jahres voraus. Diejenigen, die mit den parlamentarischen Verfahrensweisen vertraut waren, prognostizierten eine Entscheidung erst für den nächsten Sommer.
Wie bei der letzten Reise nach Boston landeten Mark Rykand und Lisa Arden auf dem Regionalflughafen Logan und fuhren mit einem Wassertaxi durch den Bostoner Hafen zu ihrem Hotel auf Long Wharf. Das aus Glas und Stahl erbaute Hotel – schon das fünfte, das hier errichtet worden war – ragte auf Pfählen ins Hafenbecken.
Mark schaute nach oben, als ihr Boot unter dem Gebäude zum Anleger tuckerte. Die Hoteletage in diesem Abschnitt war transparent, um den Hotelgästen einen Blick aufs Wasser zu ermöglichen. Von unten betrachtet schien die quirlige Menge auf Luft zu wandeln. Außerdem stellte Mark fest, dass Bootspassagiere den Frauen, die direkt über ihnen gingen, unter den Rock zu schauen vermochten. Nun ja …
Am Anleger wurden sie vom üblichen Aufgebot aus Hotelpagen und einem Grüßaugust empfangen. Dass das Hotel es sich leisten konnte, diese Tätigkeit menschlichen Mitarbeitern anstatt den üblichen automatisierten Gepäck-Karren zu übertragen, war bereits ein Indikator für die Zimmerpreise. Bei seinem Reichtum musste Mark sich deshalb keine Sorgen machen, doch die meisten Konferenzteilnehmer suchten sich eine Bleibe im Binnenland, wo die Preise ziviler waren.
Das Einchecken und Einrichten im Zimmer dauerten noch einmal zwanzig Minuten. Mark rekelte sich die Hälfte dieser Zeit auf dem Bett, während Lisa im Badezimmer zugange war. »Da wären wir also«, sagte er, als sie wieder zum Vorschein kam. »Wonach steht dir der Sinn?«
Die aus zwei Worten bestehende Antwort überraschte ihn indes nicht.
»Shoppen gehen!«
Die Sommerkonferenz fand in Harvards großem Konferenz-Zentrum statt. Außer den Bankettsälen und einem großen Auditorium gab es noch zahlreiche Nebenräume, wo die Konferenzteilnehmer in kleinen Gruppen zu diskutieren vermochten.
Im Zentrum angekommen, ging Lisa schnurstracks zur Arbeitsgruppe ›Alien-Abschätzung‹, die mit dem Studium der broanischen Kultur, Sitten und Gebräuche befasst war, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Schwächen. Auf der Grundlage von Sar-Says Berichten und ihrer Beobachtungen im Krebsnebel hatte die Gruppe bereits beachtliche Fortschritte erzielt.
Es wäre plausibel gewesen, einer Spezies, die in der Lage war, über eine Million Sternsysteme zu unterwerfen, eine gottgleiche Macht zuzuschreiben. Doch selbst wenn die Broa göttlich waren, waren sie Götter auf tönernen Füßen. Die AAA hatte nämlich Dutzende Schwächen katalogisiert, die man im bevorstehenden Konflikt auszunutzen vermochte.
Primär die Geburtenrate, die kaum bestandserhaltend war. Seit Tausenden von Jahren hatte ihre Bevölkerung stagniert oder war allenfalls langsam gewachsen. Tatsächlich war ihr Reich schneller gewachsen als die Bevölkerung, sodass ihre Aufsichtsmöglichkeiten fast bis zum kritischen Punkt gedehnt worden waren. Infolgedessen bekamen Tausende von Welten über Jahrzehnte keinen Besuch von den Oberherren und erfreuten sich deshalb einer weitgehenden Autonomie.
Außer der geringen Bevölkerungsdichte neigten die Broa zum Bürgerkrieg. Für manche Forscher war das auch nicht verwunderlich. Immerhin waren die Broa die unumschränkten Herrscher über die Souveränität, sodass Gebietserwerbungen ein Nullsummenspiel waren. Wenn ein Broa seinen Einfluss und Reichtum mehren wollte, ging das zwangsläufig zu Lasten eines anderen Broa.
Und die Broa hatten noch Dutzende anderer ›Macken‹, die die Menschheit sich vielleicht zunutze machen konnte. Wegen der geringen Anzahl vernachlässigten sie die Aufsicht über weite Teile ihres ausgedehnten Reichs. Und die Geburtenrate allein schien nicht die Ursache für dieses Problem zu sein. Aus einer sorgfältigen Analyse der paar Daten, die sie besaßen, ging nämlich hervor, dass nicht jeder Broa an der Verwaltung ihres Reichs beteiligt war.
Vielmehr behaupteten manche Statistiker, dass nur eine kleine Teilmenge der broanischen Bevölkerung, eine Art öffentlicher Dienst, die unterworfenen Welten beherrschte. Damit überdehnten sie ihre Kontrollmöglichkeiten, was aus der Perspektive der Menschheit wiederum von Vorteil war.
Einer der erfreulichsten Aspekte der schwachen broanischen Präsenz war, dass die Nachrichtenübermittlung zwischen der Million unterworfener Sternsysteme ebenso langsam wie unzuverlässig war. Das gab den Menschen Anlass zur Hoffnung, dass sie sich in irgendein abgelegenes System zu schleichen, diesem System die planetarische Datenbank abzuluchsen und unentdeckt zu verschwinden vermochten.
Während Lisa zu ihrer Gruppensitzung ging, schaute Mark nach Gusto in verschiedene Sitzungen rein, um zu sehen, wie es so lief. Er verbrachte den Morgen damit, kleine Räume zu besuchen, wo Akademiker in Gruppen kleine Details erörterten, die sich eines Tages vielleicht als überaus wichtig erwiesen.
An diesem Abend veranstaltete Direktor Fernandez ein Bankett für die Konferenzteilnehmer. Mit diesem Ereignis war die Sommer-Revision offiziell eröffnet. Nach einer Begrüßungsansprache gab Fernandez bekannt, dass die erste Plenarsitzung für den nächsten Morgen angesetzt sei – Direktor Jean-Pierre Landrieu würde den Bericht seines Instituts vortragen. Danach sollte Marks Vorgesetzter als Referent von Colorado Springs auftreten, und zum Schluss würde noch jemand sprechen, den Fernandez als ›Ehrengast-Redner‹ titulierte.
Nach diesem letzten Punkt ertönte ein lautes Raunen an den Tischen, aber Fernandez wollte sich nicht weiter dazu äußern. Seine einzige Antwort lautete: »Wir wollen heute Abend nicht mehr übers Geschäft sprechen. Bitte bedienen Sie sich nach Herzenslust am Büfett, aber den Alkohol wollen Sie doch in Maßen genießen. Morgen müssen alle voll präsent sein. Wir nähern uns schnell dem Zeitpunkt, wo eine Entscheidung getroffen werden muss, und um die beste Entscheidung zu treffen, muss man im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sein. Es wäre fürwahr eine Schande, wenn die Erde nur deshalb das Schicksal ewiger Sklaverei erleiden sollte, nur weil jemand im entscheidenden Moment einen Kater hatte!«
Die Warnung ernüchterte die Menge sichtlich und rief ihr wieder in Erinnerung, welch große Verantwortung sie trug. Außerdem wurden die Anwesenden daran erinnert, dass sie trotz der unterschiedlichen Herangehensweise an das Problem der broanischen Souveränität immer noch ein gemeinsames Ziel verfolgten: das langfristige Überleben der menschlichen Rasse.