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Professor Jean-Pierre Landrieu genoss die späte Morgensonne, während er die Champs-Élysées in Richtung Eiffelturm entlang schlenderte. In seiner Eigenschaft als gebürtiger Pariser sah er das Monument eigentlich jeden Tag. Und doch war er bisher erst zweimal ganz oben gewesen … einmal als Schüler und dann wieder mit seiner späteren Frau. Wie bei einem New Yorker und der Freiheitsstatue schien sich einfach nie die Gelegenheit zu ergeben, das berühmteste Symbol seiner Nation zu besuchen. Nicht zum ersten Mal nahm er sich vor, mit seinen Enkelkindern den Turm zu besteigen; und er hatte diesen Beschluss kaum gefasst, als er ihn auch schon wieder vergaß – wie so oft.

Die Bäume, die die bekannteste Prachtstraße der Welt säumten, trieben erste grüne Frühlingsknospen. Das hob Landrieus Stimmung mehr als alles andere. Es war ein schrecklicher Winter gewesen. Paris war von heftigen Schneefällen und Hagelstürmen heimgesucht wurden. Da die Stadtväter sich standhaft weigerten, der Stadt eine Wetterkuppel überzustülpen – weil sie das historische Stadtbild ruinieren würde –, waren die Pariser für lange, kalte Monate der vollen Wucht der Elemente ausgesetzt gewesen.

Kein Mensch vermag auf Dauer ohne Sonnenschein zu leben – zumindest glaubte Pierre Landrieu das. Natürlich war es gerade die Tristesse des Winters, durch die der Frühling überhaupt erst seinen Reiz erlangte.

Auf seinem Spaziergang überflog er die berühmten Namen, die den Boulevard säumten. Da waren Fouquet und das Restaurant Copenhague mit seinen nordischen Spezialitäten, die Kaufhäuser Charles Jourdan und Guerlain. Ein paar der Geschäfte auf Les Champs hatten ihre Ursprünge noch im 18. Jahrhundert. Selbst die neueren Geschäfte verbargen sich hinter den alten Fassaden, deren ursprüngliche Eigentümer seit Jahrhunderten unter der Erde lagen.

Obwohl Landrieu sein ganzes Leben dort verbracht hatte, verglich er Paris oft mit einem historischen Freizeitpark: eine Stadt, die in einer idealisierten Vergangenheit verharrte und deren Einwohner alle kleine Kult-Kuscheltiere waren, die als Touristenattraktion herhielten. Frankreich hatte weiß Gott kaum noch Ruhm geerntet, nachdem es den Konkurrenzkampf um die kulturelle ›Weltherrschaft‹ verloren hatte. Dass eine Mehrheit der Franzosen auch zu Hause Standard sprach, war schon schlimm genug. Und weil sie es noch dazu mit einem britischen Akzent sprachen, fiel es Paris schwer, sein historisches Flair zu bewahren. Er war genauso patriotisch wie jeder Franzose, aber wäre es wirklich zu viel verlangt von den Stadtvätern, ein paar dezente Laufbänder zu installieren?

Er dachte über das Dilemma nach, als er sein Ziel erreichte, das Straßen-Café vor dem Restaurant Léons de Bruxelles. Er schob sich an einem Kellner vorbei, der ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken schien, und sah die mit ihm verabredete Person allein an einem Tisch sitzen und die Passanten beobachten. Er schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und streckte die Hand aus.

»Mikhail, ich freue mich, Sie wiederzusehen!«, sagte er in seinem fast perfekten Standard.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Jean-Pierre«, erwiderte der Russe und erhob sich zur Begrüßung. Die beiden gaben sich die Hand und nahmen dann Platz, wobei die Stühle auf dem Betonfußboden schabten.

Mikhail Vasloff griff nach der Weinflasche, die seinen und alle anderen Tische schmückte. Er goss die rote Flüssigkeit in ein leeres Glas und füllte sein eigenes auf. Landrieu führte das Glas zum Mund, roch ostentativ am Wein, verkostete ihn und befand schließlich, dass man ihn trinken könne. Laut Etikett war es ein Côtes de Bourg Bordeaux, aber kein ›berauschender‹ Jahrgang.

Die beiden Männer nahmen einen Schluck, lehnten sich dann zurück und musterten sich gegenseitig mit mehr als wohlwollendem Interesse, doch unterhalb der Schwelle des berechnenden Kalküls.

»Was führt Sie nach Paris, Mikhail?«, fragte Landrieu schließlich. »Sind Sie bereit, dem Ruf ans Institut zu folgen, das Ihren Namen trägt?«

Vasloff schüttelte den Kopf. »Nein, denn damit käme ich auf die Gehaltsliste der Regierung, und das würde meinen Handlungsspielraum zu sehr einschränken.«

»Zum Beispiel?«

Vasloff lachte. »Ich will hier ein wenig Schabernack treiben. Es wäre besser, wenn Sie nichts davon wissen. Ich habe mir einige Zeit frei genommen und mir gesagt, ich könnte doch mal den Fortschritt überprüfen. Was macht die Planung?«

»Sehr gut«, erwiderte Landrieu. »Nach einem etwas zähen Anfang erstellen wir nun echte Projektionen und haben mit einer Ereignis-Knoten-Darstellung aller Schritte begonnen, die für den Rückzug von den Sternen erforderlich sind. Erst in dieser Woche haben wir die Simulation der für die Evakuierung der Kolonien benötigten Ressourcen beendet.«

»Welche Ressourcen denn?«, fragte Vasloff. »Sie schicken dieselben Kolonieschiffe los, die sie damals zu diesen gottverlassenen Welten transportiert hatten. Sie holen sie an Bord und bringen sie nach Hause.«

»So leicht wird das nicht sein. Zunächst einmal werden viele Kolonisten der Aufforderung nicht Folge leisten. Das bedeutet, dass wir Truppen brauchen, um die Evakuierung durchzusetzen, und das erfordert wiederum zusätzliche Schiffe. Und dann müsste noch aufgeräumt werden.«

»Aufräumen?«

»Sie glauben doch wohl nicht, dass wir diese aufgegebenen Welten mit leeren menschlichen Städten zurücklassen können? Mon dieu! Damit wäre das Spiel so schnell aus, als wenn die Broa eine wimmelnde menschliche Population fänden. Wir werden die Städte schleifen und das Land in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen müssen, um jede Spur unserer Anwesenheit zu tilgen.«

»Wie viele neue Schiffe werden Ihrer Schätzung nach erforderlich sein, um die Sache ordnungsgemäß zu erledigen?«, fragte Vasloff.

»Ein paar hundert, einschließlich einiger sehr großer Frachter, um die schweren Maschinen abzutransportieren. Man hat vorgeschlagen, dass wir jedes einzelne künstliche Objekt auf jeder Welt, einschließlich der Mauersteine und des Mörtels, pulverisieren und den Staub im nächsten Meer verklappen. Sie können sich die Größe der erforderlichen Geräte vorstellen.«

»Offensichtlich haben Sie es gründlicher durchdacht als ich«, erwiderte Vasloff. »Die Koordinatorin hat bei der Personalbesetzung des Pariser Instituts anscheinend einen guten Griff getan. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten aus Colorado Springs?«

»Sie machen sehr gute Fortschritte bei der Erstellung eines Zeit- und Netzplans für ihren Eroberungsplan, wie man mir gesagt hat. Beide Institute werden in etwa einem Monat mit einer ersten Präsentation ihrer Ergebnisse aufwarten.«

»So bald schon?«, fragte Vasloff.

»Ja. Wir haben einen detaillierten Plan, um dieses System für neugierige broanische Sonden unsichtbar zu machen. Wir werden die interstellaren Kolonien nicht nur aufgeben, sondern auch eine Kommunikationstechnologie entwickeln müssen, die ihre Anwesenheit nicht verrät … zum Beispiel eine Rückkehr zu landgestützten Übertragungs-Leitungen und Laserkommunikation im Raum. Sobald wir alle zur Erde zurückgekehrt sind, werden wir die restlichen Sternenschiffe zerstören müssen. Damit wir nicht irgendwann in Versuchung kommen, die Sternenforschung doch fortzusetzen.«

Vasloff runzelte die Stirn. »Ich hätte gehofft, mehr Zeit für die Handhabung der politischen Situation zu bekommen. Wir haben zwar eine breite Oppositionsbasis, aber wir müssen unsere Anzeigenverkäufe steigern.«

»Ein Problem mit den Finanzen?«

Der Russe nickte. »Wir haben eine Unterdeckung von zehn Prozent. Nicht dass die Gläubigen nicht großzügig spenden würden. Es ist nur so, dass wir in die ›Kalter Kaffee‹-Phase des Kampfs gewechselt haben. Der Schock lässt nach, und die Alltagssorgen der Leute rücken wieder in den Vordergrund. Wir müssen einen Coup landen, um wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erlangen und das Spendenaufkommen zu erhöhen. Leider schaffe ich das nicht in einem Monat. Ich brauche mindestens drei.«

»Ich könnte einen gewissen Einfluss geltend machen, um eine Entscheidung zu verzögern«, erwiderte Landrieu. »Einer der Vorteile, wenn man Generaldirektor ist, wissen Sie. Eine Verschiebung um ein ganzes Vierteljahr würde meine Möglichkeiten aber wohl übersteigen. Diese Simpel in Colorado Springs dringen auf eine Entscheidung. Sie haben durchblicken lassen – und leider nicht ganz unbegründet –, dass die Koordinatorin auf ihrer Seite steht.«

»Kann Alan Fernandez denn nicht ein bisschen auf die Bremse treten?«

»Ich glaube schon. Wenn er glaubt, dass ein solches Manöver auch in seinem ureigenen Interesse sei.«

»Er wird zu dieser Ansicht gelangen, wenn es mir gelingt, die richtigen Leute anzusprechen.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Fernandez schwelgt förmlich in der Kontrolle über Sar-Say. Jedes Mal, wenn Fernandez einen seiner Berichte veröffentlicht, erschreckt er Leute. Der Broa malt nach wie vor Bilder in düsteren Farben. Je mehr er uns von seiner Spezies erzählt, als desto größere Ungeheuer erscheinen sie.«

»Damit will Sar-Say uns doch nur den Schneid abkaufen. Ich glaube nicht, dass die Broa Ungeheuer sind«, sagte Mikhail Vasloff und nahm wieder ein Schlückchen Wein. »Ich glaube vielmehr, dass sie uns ähnlicher sind, als wir uns eingestehen wollen.«

Jean-Pierre folgte dem Beispiel von Vasloff. »Das ist aber eine sehr gewagte Behauptung«, sagte er, nachdem er das Weinglas abgestellt hatte.

Vasloff machte eine wegwerfende Geste. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe mein Leben lang vor den Gefahren der Raumfahrt gewarnt, und die Broa verkörpern auch meine schlimmsten Befürchtungen. Im umgekehrten Fall – wenn wir ein Reich mit einer Million Sternen und die Broa nur ein einsames System kontrollierten, würden wir sie wahrscheinlich zur Strecke bringen. Zumindest hätten meine Vorfahren, die Stalinisten, so gehandelt, und die Menschen haben sich seit damals auch kaum geändert.«

Landrieu nickte. »Wenn man bedenkt, was wir Menschen uns schon gegenseitig angetan haben, sind die Broa wohl doch nicht so schlimm.«

Vasloff erhob sein Glas und stieß mit Jean-Pierre an. Dann sagte er: »Und dieser Gedanke ist vielleicht noch der schlimmste von allen!«


»Eine Verzögerung von drei Monaten?« Mark stöhnte. »Was ist los – kommt Paris nicht nach?«

»Anscheinend nicht«, erwiderte Dexter Hamlin. »Es scheint, dass politischer Druck ausgeübt wurde, um die Sommer-Revision hinauszuzögern. Sie können sich vielleicht schon denken, wer dahintersteckt.«

»Mikhail Vasloff und Terra Nostra

»Bingo.«

»Und was werden wir nun dagegen unternehmen?«, fragte Mark.

»Wir werden überhaupt nichts unternehmen. Wir arbeiten einfach weiter und sind dann umso besser vorbereitet, wenn die Zeit kommt, um gegen Landrieu und seine Clique von Arschkriechern in den Ring zu steigen!«

Mark kannte Hamlin bisher nur als einen distinguierten Herrn. Dass er sich nun solcher Ausdrücke befleißigte, war nicht zu fassen. Er musste wirklich kochen vor Wut!

»Sagen Sie mir, welche Fortschritte wir in dieser Woche erzielt haben.«

Da Mark als Reiseführer nicht mehr gebraucht wurde, hatte man ihn zum Sonderassistenten des Direktors ernannt. Trotz des eindrucksvollen Titels war das im Grunde ein Eingeständnis ihrer Ratlosigkeit, was sie sonst mit ihm anfangen sollten.

Er hatte zwar einige Astronomiekenntnisse – aufgrund seiner Hobbys und der Dienstzeit beim Astronomie-Team auf der Krebsnebel-Expedition, aber er war kein Experte. Seine Kenntnisse der broanischen Sprache waren auch gut, reichten aber nicht an Lisas Niveau heran. Zumal die meisten broanischen Daten nun maschinell übertragen wurden. Das Idiom der Pseudoaffen war grundsätzlich eine Handelssprache. Als solche war sie logisch strukturiert, sodass ein Computer zumindest die Wörter – wenn schon nicht die Bedeutungsnuancen – zu übertragen vermochte.

Wegen der mangelnden Eignung für andere Tätigkeiten war er Direktor Hamlin als ›Assistent‹ zugeteilt worden. Seine Aufgabe bestand darin, die breit gefächerten Studien zu koordinieren und wöchentlich schriftlich und mündlich Bericht zu erstatten.

Mark leitete den Bericht mit den Ergebnissen der Arbeitsgruppe Astronomie ein. Sie arbeiteten Beobachtungen des Sternenfelds oberhalb der Brinks-Basis ab und hatten bereits fünfzig-plus Systeme im Umkreis von hundert Lichtjahren um Brinks identifiziert, die möglicherweise bewohnt waren. Dabei handelte es sich größtenteils um Sterne der G- und K-Klasse, die so alt und stabil waren, dass intelligentes Leben sich auf ihnen zu entwickeln vermocht hätte.

Die Arbeitsgruppe Außerirdische Technologie führte eine intensive Prüfung der Technologie durch, die man aus der Ruptured Whale geborgen hatte. Die Funde hatten ihnen bisher noch keine Rätsel aufgegeben. Obwohl die broanische Technologie sich von der menschlichen unterschied, gehorchten beide dennoch den Gesetzen der Physik. Deshalb ging es eigentlich nur darum, bereits bekannte Dinge aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Eine Toilette ist eine Toilette – unabhängig von der Physiologie der Spezies, die sie benutzen.

Nach dem Abwracken der Whale hatte Mark eine Reise zur Schiffswerft White Sands unternommen, um zu sehen, wie weit man schon mit dem Nachfolger war. Dort hatten er und Dan Landon bei einem gemütlichen Beisammensein ein Steak gegessen und ein Bier getrunken und über alte Zeiten geplaudert. Dabei war Mark auch über die Fortschritte informiert worden.

Die Ingenieure in White Sands hatten die Konstruktion eines broanischen Frachters vom Typ Sieben fast beendet – einschließlich einer getarnten Bewaffnung und Bedienelementen im broanischen Stil. Das Einzige, was sie für den Abschluss der Arbeiten noch benötigten, waren die restlichen Daten von der Sezierung der Whale. Inzwischen hatten sie schon mit der Arbeit an einem großen Frachter einer Klasse begonnen, die sie im Orbit um Klys’kra’t beobachtet hatten.

Zu Marks Überraschung bemerkte Landon beiläufig, dass sie den Frachter vom Typ Sieben schon Ende der Woche auf Kiel legen würden.

»Wie könnt ihr denn ein Schiff bauen, das noch nicht einmal durchkonstruiert wurde?«

Landon nahm einen Schluck Bier und sagte: »Im Grunde wissen wir, was wir tun. Es ist zwar ein Risiko, aber eins, das ich für vertretbar halte.«

»Und wenn man etwas findet, wodurch ihr noch einmal von vorn anfangen müsstet?«

»Dann setzen wir uns eben an den Computer und fangen noch einmal von vorn an. Ist das Manhattanprojekt Ihnen ein Begriff?«

»Als man die Wetterkuppel über Manhattan und dem East River errichtete?«

»Nein, das andere. Die erste Atombombe.«

»Nur das, was ich in der Schule mitbekommen habe.«

»Man hatte es eilig und errichtete deshalb ein riesiges Industriegebiet in Oak Ridge, Tennessee, bevor man überhaupt wusste, wofür man es konkret nutzen würde. Im Krieg tut man Dinge, die man in Friedenszeiten nie tun würde.«

»Gut möglich«, erwiderte Mark.

»Und das war noch nicht einmal das größte Risiko, das man einging. Als es an der Zeit war, die Maschinerie zu bauen, vermochte man nicht genug Kupfer für die Kabel aufzutreiben. Also hat man Silber im Wert von mehreren Milliarden Krediten vom Finanzministerium beschlagnahmt und es stattdessen verwendet.«

Mark berichtete über seine Reise nach White Sands und fuhr dann mit der Zusammenfassung für den Direktor fort. Die Beschaffung einer broanischen Datenbank hatte natürlich weiterhin höchste Priorität. Es hing praktisch alles davon ab. Die Arbeitsgruppe für die ›Organisierung‹ eines Sternentors hatte aber auch schon Fortschritte gemacht.

Wie die Exobiologie für die Raumfahrt, so war die Sternentor-Physik im Wesentlichen eine hypothetische Wissenschaft. Vom Prinzip her bestanden Parallelen zur Hyperantriebs-Physik, aber es war eben nicht dasselbe. Trotz der Fortschritte der Gruppe lautete die Prognose, dass es noch ein paar Jahrzehnte dauern würde, bis man die Theorie in die Praxis umzusetzen vermochte.

Das Problem war nur, dass die Menschheit vielleicht keine paar Jahrzehnte mehr Zeit hätte.