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Nadine Halstrøm stand vor der gläsernen Wand ihres Büros im hundertsten Stock des Gebäudes des Weltsekretariats und schaute auf die Skyline von Toronto hinaus. Die Sonne ging bereits unter – wie so oft, wenn sie hier stand und ein Problem wälzte. Aber sie schien es immer öfter zu tun, seit dieser verdammte Sar-Say in ihr Leben getreten war.
»Nun«, sagte sie zu ihrem Besucher. »Was halten Sie davon?«
Anthony Hulsey, Abgeordneter aus New South Wales und Nadine Halstrøms inoffizieller Problemlöser im Parlament, streckte sich auf dem elektrisch verstellbaren Stuhl und balancierte ein Glas mit Bourbon und Wasser auf seiner dicken Wampe. Diese lässige Körperhaltung stand freilich im Kontrast zu der inneren Spannung, die die Frage der Koordinatorin bei ihm ausgelöst hatte. Nachdem er sich mit der Antwort eine Minute Zeit gelassen hatte, erwiderte er schließlich: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Madame Koordinatorin.«
»Was ist das denn für eine Antwort, Tony.«
»Es ist die Wahrheit, Nadine. Bei diesem Problem vermag man sich anscheinend nur für das kleinste Übel zu entscheiden.«
»Wieso?«
»Das ist doch offenkundig. Der emotional befriedigende Kurs ist der, den der junge Rykand propagiert. Wir kämpfen mit List und Tücke, bis aufs Messer. Vielleicht werden wir am Ende sogar gewinnen, obwohl das eher unwahrscheinlich ist – also werden wir wohl verlieren. Und wenn wir verlieren, werden die Broa uns wahrscheinlich auslöschen.
Dem steht Mikhail Vasloffs Plan gegenüber. Wir graben ein Loch, klettern rein und tun über uns den Deckel drauf. Feigheit ist zwar keine Zier, aber in diesem Fall wäre es vielleicht doch das Klügste. Schließlich haben wir in den vielen tausend Jahren, die wir von der Existenz der Broa gnädigerweise nichts wussten, noch keinen Besuch von ihnen bekommen. Wäre doch gut möglich, dass wir noch ein paar Jahrtausende in Frieden leben können. Wir müssen nur damit aufhören, im ganzen Universum Präsenz zu demonstrieren.«
»Mir gefällt Vasloffs Plan auch nicht«, erwiderte die Koordinatorin. »Für Defätismus habe ich noch nie Verständnis gehabt. Wir würden den ganzen Fortschritt der Menschheit, den wir im letzten Jahrhundert erzielt haben, einer trügerischen Sicherheit opfern.«
»Für Defätismus habe ich auch kein Verständnis«, sagte Hulsey. »Das heißt aber nicht, dass es unter diesen Umständen nicht doch eine sinnvolle Option wäre.«
»Wie sollen wir dann zu einer Entscheidung gelangen? Die Sache zur Abstimmung stellen?«
Hulsey stieß ein animalisches Grunzen aus. »Die Leute werden sich für die Seite entscheiden, die sie am schönsten einlullt. Es hätte gerade noch gefehlt, wenn wir diese Sache in eine der üblichen Propagandaschlachten verwandeln würden. Vasloff wird schon von sich aus dafür sorgen.«
»Nichts zu machen, Tony. Dieses Geheimnis ist zu groß, als dass man es auf Dauer bewahren könnte.«
»Ich hatte auch nicht die Absicht, es für immer zu bewahren«, sagte Hulsey. »Weil wir aber sowieso Prügel beziehen werden, egal was wir tun, können wir genauso gut unsere Arbeit machen.«
»Was uns wieder zur Ausgangsfrage zurückführt.«
»Ich glaube, Madame Koordinatorin«, entgegnete Hulsey nach einer langen Pause, »dass wir diesen Spagat zunächst beibehalten sollen, so gut es uns eben möglich ist.«
»Und das heißt?«
»Wir versuchen beide Seiten mit ins Boot zu holen. Wir beginnen mit der Planung und den Vorbereitungen für Mark Rykands Gibraltar-Erde-Programm und treffen gleichzeitig Vorbereitungen, unsere interstellaren Kolonien aufzugeben. Wir jonglieren dabei mit den Ressourcen – je nachdem, welche Richtung sich gerade als erfolgversprechender erweist –, während beide Seiten auf ihre jeweiligen Ziele hinarbeiten. Vielleicht werden wir im Laufe des Verfahrens sogar einen Mittelweg finden.«
»Klingt teuer.«
Hulsey zuckte die Achseln. »Sie können das gesparte Geld aber nicht mehr ausgeben, wenn Sie tot sind. Dieser Plan hat immerhin den Vorteil, dass wir die Krise hinauszögern können, bis wir uns über ihre Dimensionen im Klaren sind. Betrachten wir zum Beispiel die Notwendigkeit des Baus neuer Schiffe – wir werden sie brauchen, ob wir nun die Broa angreifen oder das Sonnensystem verteidigen. Wir werden also mit dem Bau beginnen, bevor wir überhaupt wissen, wofür sie eingesetzt werden sollen.
Nein, Madame Koordinatorin, ich sehe keinen Grund, dass wir uns ohne Not auf eine bestimmte Richtung festlegen. Einfach ins Blaue zu marschieren hat natürlich seine Unwägbarkeiten, aber ich halte das in vielen Fällen für die beste Vorgehensweise.«
»Also gut, dann werden wir so verfahren. Ich werde eine Internetansprache vorbereiten, um die schlechten Nachrichten zu verkünden.«
Hulsey stieß einen kaum hörbaren Pfiff aus. »Ich beneide Sie nicht im Geringsten, Madame Koordinatorin. Aber gerade deshalb zahlen wir Ihnen wohl auch diese hohen Tantiemen.«
Diesmal war die Koordinatorin an der Reihe, das animalische Geräusch auszustoßen.
»… und hier, mein Volk, stehen wir nun. Unsere mutigen Forscher haben eine außerirdische Zivilisation identifiziert, die sich zur größten Bedrohung entwickeln könnte, der die Menschheit je gegenübergestanden hat. Das ist zwar eine sehr schlechte Nachricht, aber noch längst nicht die schlimmste Nachricht. Nein, die schlimmste Nachricht wäre die, dass sie uns zuerst gefunden hätten.
Wir werten derzeit zwei verschiedene Vorschläge aus, dieser Bedrohung zu begegnen. Eine empfiehlt, dass wir uns im Geheimen gründlich vorbereiten und, sobald wir bereit sind, diese Broa ins Visier nehmen und die Sternentore in ihren Heimatsystemen zerstören. Das wird sie isolieren und ihren Diener-Rassen eine Chance zum Aufstand geben. Wir werden dann alles in unseren Kräften Stehende tun, um diese Aufstände zu schüren und zu unterstützen.
Der zweite Vorschlag besteht darin, dass wir unsere Anonymität als Trumpf für unsere Sicherheit ausspielen; dass wir es vermeiden, die Aufmerksamkeit der Broa zu erregen, und alles tun, um die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung zu minimieren. Dies würde jedoch erfordern, dass wir unsere interstellaren Kolonien aufgeben und uns ins Sonnensystem zurückziehen.
Jeder dieser beiden Vorschläge hat eine Menge für sich, birgt zugleich aber auch mögliche Risiken. Ich bin zu der Schlussfolgerung gelangt, dass wir die Situation noch nicht gut genug überblicken, um uns zwischen diesen Optionen zu entscheiden. Ich schlage deshalb vor, dass wir ein Programm kreieren, um das Problem zu durchdringen und den besten Handlungsrahmen festzulegen.
Morgen wird der Ehrenwerte Anthony Hulsey eine Gesetzesvorlage für die Einrichtung dreier Forschungsinstitute im Parlament einbringen – wobei eines mit der Konkretisierung des Rykand-Plans befasst sein wird, ein anderes mit der Ausarbeitung des Vasloff-Plans, und ein unabhängiges Institut soll sich dem Studium der Broa widmen. Und weil unabhängig von unserer letztendlichen Entscheidung eine gewisse unterstützende Infrastruktur erforderlich sein wird, wird diese Vorlage auch den Antrag auf Bewilligung eines größeren Budgets enthalten, um die Konstruktion und den Bau einer Flotte zu finanzieren. Diese Flotte wird beim Angriff gegen die Broa eingesetzt, falls wir uns für den Rykand-Plan entscheiden sollten – oder für Defensiv-Operationen hier im Sonnensystem, falls wir uns für den Vasloff-Plan entscheiden sollten.
Außerdem betrifft diese Sache nicht nur die Regierung, denn jeder von uns muss das Risiko tragen. In den kommenden Monaten werden wir Bürgerversammlungen auf der ganzen Welt sponsern, auf denen Sie Ihre Anregungen und Meinungen äußern können. Sprechen Sie mit Ihren Nachbarn. Versuchen Sie im Dialog mit Ihren Mitmenschen einen Konsens zu finden. Und wenn Sie glauben, Sie hätten eine bessere Lösung für das Broa-Problem, lassen Sie uns das wissen. Morgen früh werden zwei separate Hypernet-Seiten freigeschaltet, die Ihnen als Forum dienen sollen.
Ich komme nun zum Schluss und möchte mit einer optimistischen Note enden. Dass die Broa eine große Bedrohung für unser Leben und unsere Freiheit darstellen, ist unbestritten. Aber sie sind nicht die erste derartige Bedrohung. Im Mittelalter hat der Schwarze Tod fast die gesamte Bevölkerung Europas ausgelöscht. Im Kalten Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die Kinder jeden Abend ins Bett gebracht, ohne zu wissen, ob sie am darauf folgenden Morgen noch am Leben sein würden. Aber unsere Spezies hat diese und andere Krisen bewältigt. Wir sind in unserer Geschichte schon tausendmal … ach was, millionenmal … bedroht worden, und wir haben es bisher noch immer geschafft.
Diesmal wird es genauso sein. Was auch immer wir tun, wir werden Erfolg haben. Falls wir uns dafür entscheiden, gegen die Broa anzutreten, werden wir besser vorbereitet in den Kampf ziehen als je zuvor. Und falls wir uns dafür entscheiden, uns vor ihnen zu verstecken, dann werden wir uns so gut verstecken, dass sie uns niemals finden werden.
Ich möchte Sie alle bitten, darüber nachzudenken, was ich Ihnen heute Abend gesagt habe. Setzen Sie sich mit der Krise auseinander. Versuchen Sie, zur Krise Stellung zu beziehen. Wägen Sie die Vor- und Nachteile der zwei empfohlenen Pläne ab und fragen Sie sich, ob es vielleicht noch einen besseren Weg gibt. Und nach reiflicher Überlegung werden wir über Ihre gewählten Vertreter dann eine Entscheidung treffen.
Es handelt sich hier nicht um eine der üblichen politischen Auseinandersetzungen, die vielleicht wegen einer Gesetzesvorlage über die Bewilligung von Haushaltsmitteln stattfinden, wobei eine Partei versucht, sich gegenüber allen anderen durchzusetzen. Diese Sache betrifft jeden Menschen, ob hier auf der Erde oder in unseren neuesten Kolonien draußen zwischen den Sternen. Welche Entscheidung auch immer wir treffen, sie muss die Belange der gesamten Menschheit berücksichtigen.
Wenn Sie sich also in den folgenden Tagen mit diesem Problem beschäftigen, bedenken Sie immer Folgendes: Fragen Sie sich nicht, was gut für Sie, sondern was gut für uns alle ist.
Das wäre alles für heute Abend, meine Mitbürger. Bitte bedenken Sie, wir haben zuvor schon Krisen durchgestanden, und wir werden auch diese mit Gottes Hilfe bewältigen.«
»Ich hätte mir mehr davon versprochen«, sagte Mikhail Vasloff, als das Bild der Koordinatorin im Holowürfel verblasste, »aber es war auch nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.«
Er saß in seinem Büro im Hauptquartier von Terra Nostra in der Altstadt von Amsterdam. Die Ansprache der Koordinatorin hatte er vor einem Erkerfenster verfolgt, das auf den Keisersgracht-Kanal hinausging.
»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Claris Beaufort, seine Verwaltungsassistenten. »Obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie zum Schluss doch etwas parteiisch wurde. Die Koordinatorin skizzierte Rykands Plan als ›gegen die Broa antreten‹ und Ihren Plan als ›sich vor ihnen verstecken‹.«
»Ja«, erwiderte Vasloff. »Unsere Position ist zwar technisch exakt, aber wir werden sie trotzdem noch besser kommunizieren müssen. Es wird uns schwerfallen, Unterstützung dafür zu gewinnen, wenn wir uns ›verstecken‹ wollen. Niemand lässt sich gern als Feigling bezeichnen, nicht einmal ich. Manchmal ist Zurückhaltung jedoch klüger als Tapferkeit.«
»Einverstanden«, entgegnete Claris und nickte heftig.
»In welchem Zustand ist Terra Nostra?«, fragte er.
»Wir sind in einem erstaunlich guten Zustand, Mikhail. Nach den Aufständen vor drei Jahren hatten wir einen enormen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen. Und die Ansprache von heute Abend müsste zu einem erneuten Zuwachs führen. Wann wollen wir die Kampagne denn starten?«
»Ich vermute, dass man mich in dieses Friedens-Institut berufen wird, das gegründet werden soll«, erwiderte er. »Damit hätten wir auch einen Ansatzpunkt für die Öffentlichkeitsarbeit. Der ›Vasloff-Plan‹, wie die Koordinatorin ihn nannte, ist kein Versteckspiel. Er ist eine Friedensmission. Wir sind die ›Friedensbewegung‹, und unsere Gegner sind die ›Kriegstreiber‹.«
»Glauben Sie denn, dass das funktionieren wird?« Vasloff lächelte. »Das hat schon x-mal in der Geschichte funktioniert.«
»Und wie ziehen wir die Aktion auf?«
»Rufen Sie bei den großen Nachrichten-Sendern an und reservieren Sie mir einen Platz in den Morgen- und Abendnachrichten. Sagen Sie, dass ich der Öffentlichkeit meine Eindrücke von unserer Expedition schildern möchte.«
»In Ordnung«, entgegnete Claris und gab die Anweisung in ihr Daten-Terminal ein. »Was noch?«
Das war längst nicht die erste Propaganda-Blitzaktion, die Vasloff organisiert hatte. Außer den ersten öffentlichen Auftritten fielen ihm noch ein halbes Dutzend anderer Maßnahmen ein, mittels denen man der Öffentlichkeit mit Schauergeschichten von den Broa Angst einzujagen vermochte. Es gab weiß Gott genug solcher Storys in den Daten der Voldar’ik.
Als er fertig war, erhob sie sich vom Stuhl und ging zur schmalen Stiege, die zur dritten Etage hinabführte.
Als Claris gegangen war, drehte Vasloff seinen elektrisch betriebenen Sessel zum Fenster und ließ den Blick über das geschäftige Treiben unter sich schweifen. Ein Prahm tuckerte den Kanal aufwärts. Gleichzeitig schaute er sich noch einmal die letzten paar Absätze der Rede der Koordinatorin an.
Gewiss, die Menschheit hatte sich auch früher schon Gefahren gegenübergesehen, doch hatte es jemals eine Zeit gegeben, da die Gefahr so groß war wie heute? Wenn ja, wie hatten seine Vorfahren in einer vergleichbaren Situation gehandelt? Wie hatten sie dieser bedrückenden Furcht nur widerstanden, ohne darüber den Verstand zu verlieren?