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Das Auditorium war am nächsten Morgen fast bis auf den letzten Platz besetzt, und alle warteten auf Direktor Fernandez’ Ehrengast-Redner. Die Personen, die heute zusätzlich erschienen waren, umfassten Mitglieder der Arbeitsgruppen, die den Vortag auf separaten Tagungen verbracht hatten. Interessanterweise waren auch viele Medienvertreter anwesend.
»Wer hat denn die alle eingeladen?«, fragte Mark und wies mit dem Daumen in Richtung der Männer und Frauen, die sich mit kleinen, an Stativen befestigten Kameras und Mikrofonen im hinteren Bereich versammelt hatten.
»Dreimal darfst du raten«, erwiderte Lisa, als die beiden ihre Plätze einnahmen.
Mark lachte. »Alan Fernandez ist irgendwie mediengeil, oder?«
Wie zuvor betraten die Honoratioren die Bühne und nahmen am langen Tisch Platz. Der Holowürfel war heute nicht zu sehen, und das Pult stand verlassen im hellen Licht der Scheinwerfer. In den nächsten paar Minuten wurden Daten-Coms synchronisiert und Papiere hin- und hergeschoben. Schließlich erhob sich Alan Fernandez und schritt zum Rednerpult.
»Guten Morgen«, sagte er. »Ich hoffe, dass Sie alle sich von der gestrigen Marathonsitzung erholt haben. Ich habe letzte Nacht jedenfalls tief und fest geschlafen.
Gestern hat Generaldirektor Jean-Pierre Landrieu vom Pariser Institut uns einen Vortrag gehalten – er hat den Plan entwickelt, diesem Planeten ein möglichst geringes Profil zu verleihen, um nicht die Aufmerksamkeit der Broa zu erregen. Ich muss gestehen, dass der Pariser Plan gut durchdacht ist und einiges für sich hat. Sie werden mir gewiss zustimmen, wenn ich sage, dass dieser Plan die ›konventionelle‹ der beiden präsentierten Varianten ist.
Nach Direktor Landrieu hat Direktor Dexter Hamlin vom Colorado-Springs-Institut gesprochen, dessen Aufgabe in der Ausarbeitung des ›Gibraltar-Erde‹-Plans besteht.
Ich muss gestehen, dass Direktor Hamlins Vortrag besonders anregend war und uns interessante Perspektiven vermittelt hat. Ich würde die Arbeit der Colorado-Springs-Gruppe deshalb als ›proaktiv‹ einstufen. Natürlich hatten wir ihnen auch genau diesen Auftrag erteilt, und wir sind uns – glaube ich – einig, dass sie uns reichlich Stoff zum Nachdenken geboten haben.«
Fernandez legte eine Pause ein, lächelte und schaute ins Publikum, als ob er noch einen Joker in der Hinterhand hätte.
»Es gibt aber auch noch eine dritte Meinung, die wir berücksichtigen sollten, bevor wir unsere Pläne dem Parlament vorlegen. Es ist eine Meinung, die wir aus gutem Grund nicht schon früher gehört haben. Ich hielt es jedoch für wichtig, dass wir uns wenigstens anhören, was unser nächster Redner zu sagen hat.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nun das eine Geschöpf auf dieser Welt vorstellen, das am besten über die Souveränität Bescheid weiß und dessen Ausführungen in dieser Hinsicht ›meinungsbildend‹ für uns sind. Es ist mir also eine Ehre, Ihnen Sar-Say vom Sar-Dva-Clan in seiner Eigenschaft als Angehöriger der herrschenden Spezies der broanischen Souveränität vorzustellen. Sar-Say, Sie haben das Wort!«
Das Publikum explodierte förmlich, und die Reporter sprachen hektisch in ihre Mikrofone. Direktor Fernandez zog sich zurück, und zwei Assistenten erschienen mit einer Kiste und stellten sie hinter dem Pult ab.
Sar-Say trat hinter einem Vorhang hervor. Er trug die ›formelle‹ Kleidung, die er schon auf dem abendlichen Empfang getragen hatte, und ging nicht auf den Knöcheln, sondern aufrecht. Er näherte sich dem Rednerpult und erklomm unbeholfen die Kiste, die seinen Kopf auf eine menschlichen Höhe brachte. Er ließ den Blick über die Menge schweifen und wartete darauf, dass wieder Ruhe einkehrte.
Nach zwei Aufforderungen von Alan Fernandez beruhigten sich die Leute, und eine erwartungsvolle Stille senkte sich über das Auditorium. Sar-Say schaute in einer sehr menschlichen Geste in die Runde und eröffnete seine Rede dann in einem Ton, der verriet, dass er die Grundzüge der Rhetorik studiert hatte. Er schien auch nicht vom holografischen Teleprompter abzulesen.
»Sehr geehrte Damen und Herren, Kongressabgeordnete, Mitglieder des Exekutivbüros, liebe Presseleute. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mir die Gelegenheit geben, heute Morgen zu Ihnen zu sprechen. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich einen Unterhaltungsmonitor in meiner Unterkunft, und ich habe Ihre Debatte aufmerksam verfolgt. Indem ich mir einen Eindruck von der Funktion Ihrer politischen Institutionen verschafft habe, hat sich auch mein Verständnis Ihrer Spezies verbessert, und ich muss sagen, dass ich beeindruckt bin von dem, was ich sehe.
Jedoch vermisse ich etwas bei Ihren Studien, und zwar eine gewisse Präzision bezüglich meiner Spezies. Sie scheinen Ihre Argumente ausschließlich in menschlichen Kategorien zu formulieren.
Es wäre natürlich möglich, dass ich Sie falsch beurteile. Weil ich selbst kein Mensch bin, entgehen mir vielleicht gewisse Nuancen in Ihren Argumenten. Allerdings habe ich in meiner Holovision auch Leute gesehen, die den utopischen Plan ausgeheckt haben, loszufliegen und die ›hässlichen kleinen Affen-Götter abzumurksen‹, wie ein Kommentator sich ausdrückte. Die Bedeutung dieser Aussage habe ich gewiss nicht missverstanden.
Obwohl ich ein ›Feind‹ bin, möchte ich Ihnen eine Entscheidungshilfe bei Ihrer Debatte geben. Ich hoffe, Ihr Verständnis dessen zu verbessern, womit Sie überhaupt konfrontiert sind – damit Sie eine bessere Entscheidung treffen als die, zu der Sie ohne meine Intervention gelangen würden. Ich erwarte nicht, dass Sie alles glauben, was ich sage, aber ich versichere Ihnen dennoch, dass jedes Wort wahr ist.«
Sar-Say stieß den Laut aus, der bei den Broa ein Lachen bedeutete. Er hob die Arme in einer fremdartigen Geste und senkte sie wieder. »Ich kann mir vorstellen, dass viele von Ihnen sich nun fragen: ›Würde er das sagen, wenn er uns anlügen wollte?‹ Stimmt genau. Aber Sie müssen nicht glauben, was ich sage. Es genügt vollauf, wenn Sie mir zuhören.«
Lisa beugte sich zu Mark hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Was sagst du nun zu meinem Weltraum-Schüler?«
»Ich würde sagen, dass er Standard so gut beherrscht wie irgendjemand«, erwiderte Mark. »Ich muss dir wohl gratulieren.«
»Vielen Dank auch.«
Dann lehnten sie sich zurück und verfolgten wieder die Rede.
Sar-Say fuhr fort: »Meine Damen und Herren, was ich Ihnen zu sagen habe, betrifft Ihre Zukunft. Ich möchte Ihnen schildern, was Sie erwartet, falls Sie sich entschließen, freiwillig der broanischen Souveränität beizutreten, die mein Volk einfach als ›Zivilisation‹ bezeichnet.
Wir sind nicht die Ungeheuer, als die wir in Ihren Medien porträtiert wurden. Wir fressen keine Kinder beziehungsweise den Nachwuchs unserer Diener. Wir ernähren uns hauptsächlich von Obst und Gemüse und nur gelegentlich von Fleisch. Als Fleischlieferanten dienen uns nicht empfindungsfähige Geschöpfe, die wir eigens zu diesem Zweck züchten – genau wie Sie.
Wenn wir Sie nun in die Souveränität bringen, werden wir nicht darauf bestehen, dass Sie Ihre Essgewohnheiten den unsrigen anpassen, denn jede Spezies muss ihrer Natur folgen. Es gibt Wesen, die ihr Essen jagen und es lebendig verschlingen. Das ist eben ihre Natur. Wir verschwenden keine Zeit damit, Dinge zu ändern, die einer Spezies innewohnen. Das wäre ebenso kostspielig wie sinnlos. Ich möchte es mit einer irdischen Phrase umschreiben, die das ziemlich gut trifft: ›aus einer Mücke keinen Elefanten machen‹.
Ich höre den unausgesprochenen Einwand schon, bevor er sich noch in Ihren Mündern formt. ›Aber ihr Broa herrscht doch über eine Million Sterne!‹ Das ist ein Trugschluss. Wir sind nicht menschlich und passen deshalb auch in kein menschliches Raster.
Wir ›herrschen‹ nicht über unsere Diener, so wie Sie diesen Begriff definieren. Die Zivilisation ist zu groß und vielgestaltig, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, ein Ebenbild alter menschlicher Könige oder Kaiser zu sein. Wir herrschen nicht über andere Arten – aus dem einfachen Grund, weil wir sie nicht zu beherrschen vermögen. Wir sind zu wenige, um jeden Aspekt des Lebens in der Zivilisation zu kontrollieren.
Die Methode, mit der wir unser Gebiet kontrollieren, lässt sich nur schwer in Standard übertragen. Ich will es einmal so ausdrücken, dass wir unsere Diener ›anleiten‹, obwohl dieses Wort den eigentlichen Sachverhalt auch nur sehr unzureichend zu beschreiben vermag. Zu Nutz und Fromm aller etablieren wir Regeln auf der Grundlage des gesunden Verstands und verschaffen ihnen Geltung, wenn sie verletzt werden. Eine unserer Regeln ist, dass keine unterworfene Spezies Krieg gegen irgendeine andere führen darf. Wir setzen diese Bestimmung durch, indem wir den Verkehr durch die Sternentore kontrollieren.
Stellen Sie sich einmal Folgendes vor. Sagen wir, Sie seien der Führer einer kriegerischen Spezies und wollen einen Nachbarn unterwerfen. Zu diesem Zweck bauen Sie eine riesige Armada aus Kriegsschiffen und sind schließlich bereit, die Invasion zu starten. Doch wenn Sie das Sternentor dann erreichen, wird es Ihre Schiffe nicht durchlassen. Alle Ihre Anstrengungen waren für die Katz’. Sie haben sich durch die Vorbereitung auf einen Krieg, den Sie dann überhaupt nicht zu führen vermochten, nur selbst ruiniert.
Ist das wirklich so schlecht? Würden Sie von Sol Drei sich nicht einen ähnlichen Schutz für Ihre Welt wünschen? Es gibt schließlich noch viele Rassen unter den Sternen, denen keiner von uns je begegnet ist. Und eine dieser Rassen wird vielleicht von einem solchen Kriegsherrn beherrscht. Wären Sie allein sicherer oder als Mitglied einer aus einer Million Sonnen bestehenden Zivilisation?«
Sar-Say fuhr in diesem Tenor und in aller Ausführlichkeit fort und betonte die Vorteile, die ein Beitritt zur Broanischen Souveränität hätte. Nachdem er sich das ein paar Minuten angehört hatte, musste Mark zugeben, dass Sar-Say verdammt überzeugend klang. Er stellte die Souveränität eher als einen Zusammenschluss von Gleichen dar als eine Oligarchie, die von und im Namen der Broa geführt wurde. Mark kannte wohl die Wahrheit, aber er fragte sich, inwieweit die breite Öffentlichkeit über diese Kenntnis verfügte. Würden sie angesichts Sar-Says Sirenengesang dennoch die Wahrheit sehen oder würden sie seinen scheinbar plausiblen Lügen auf den Leim gehen? Wenn er sich an die politischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit erinnerte, befürchtete er eher Letzteres.
Eins stand jedenfalls fest: Der Pseudoaffe hatte seine Hausaufgaben in menschlicher Psychologie gemacht.
Schließlich fiel Sar-Say nichts mehr ein, womit er noch hätte hausieren gehen können, deshalb verlegte er sich hilfsweise auf Drohgebärden: Zuckerbrot und Peitsche.
»Sie werden in naher Zukunft eine Entscheidung treffen müssen«, sagte Sar-Say in einem sonoren und irgendwie bedrohlichen Ton. »Wobei Sie aber nicht die Wahl haben, die Sie in den letzten Tagen erörtert haben. Sie halten es für möglich, Ihre Unabhängigkeit zu wahren, und streiten sich darüber, wie man das am besten bewerkstelligen könnte. Diese Auseinandersetzung ist müßig. Weil wir Sie zwangsläufig finden werden, haben Sie nur die Wahl, sich freiwillig oder gezwungenermaßen zu fügen.
Ihre Führer sagen Ihnen, dass wir Broa es anderen Spezies nicht gestatten, um die Führung der Zivilisation zu konkurrieren. Das ist wahr. Überließe man jede Spezies sich selbst, würden sie sich letztlich nur bekriegen und damit alle anderen gefährden. Sollten Sie sich für einen freiwilligen Beitritt entscheiden, würde der Übergang in die Zivilisation gleitend erfolgen. Sollten Sie sich jedoch widersetzen, werden wir Sie gewaltsam unter unsere Kontrolle bringen.
Ich möchte Ihnen die Konsequenzen veranschaulichen: Wenn Sie nach der zwangsläufigen Entdeckung unser Angebot einer Mitgliedschaft in der Zivilisation ablehnen, werden wir eine Kriegsflotte zusammenstellen und sie auf Einwege-Sprüngen durch Sternentore in Ihr Sonnensystem entsenden. Eben glauben Sie sich noch sicher in Ihrer Isolation, wähnen sich in Sicherheit vor den schrecklichen Broa, doch schon im nächsten Moment sind Sie von Tausenden Kriegsschiffen umzingelt, von deren Stärke Sie sich überhaupt keine Vorstellung machen.
Und was dann geschieht, hängt von der Stärke Ihres Widerstands ab. Wenn Sie sich nicht heftiger zur Wehr setzen als die meisten Spezies, werden Sie ein paar Städte durch ein Bombardement aus dem Raum verlieren. Wenn Sie uns jedoch einen harten Kampf liefern, wird Ihre Welt eben zerstört.«
Er legte eine Pause ein, damit die Zuhörer seine Ausführungen zu verarbeiten vermochten. Dann fuhr er mit der gleichen Selbstsicherheit fort, mit der er begonnen hatte: »Meine Damen und Herren, ich bitte Sie inständig, sich nicht der Option zu verschließen, sich uns freiwillig anzuschließen. Das ist buchstäblich die einzige Wahl, die Sie haben, wenn Sie überleben wollen. Wir kommen auf jeden Fall zu Ihnen. Ihr Schicksal liegt allein in Ihren Händen.«
Er machte wieder eine Pause und warf einen Blick auf das antike Chronometer, das er am Gelenk einer Sechsfingerhand trug.
»Ich sehe, dass ich meine Redezeit fast ausgeschöpft habe. Also komme ich hiermit zum Schluss.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.«
Zunächst herrschte betretenes Schweigen nach seinen Darlegungen, doch dann wurden vereinzelte Rufe und Schreie laut, die sich bald crescendoartig steigerten. Die Leute erhoben sich von ihren Plätzen und schrien in Richtung der Bühne. Einige schüttelten sogar die Faust. Wieder andere saßen nur da und wirkten konzentriert, als ob sie sich auf eine völlig neue Situation einzustellen versuchten. Alan Fernandez ging strahlend zum Rednerpult und half dem Pseudoaffen herunter. Hinter der Bühne kamen vier große Männer zum Vorschein. Das waren Sar-Says ›Leibwächter‹, die ihn in seine Zelle zurückbrachten.
Die Wächter warteten geduldig, während Sar-Say noch unter vier Augen mit Fernandez sprach. Dann nahmen sie ihn in die Mitte und eskortierten ihn von der Bühne.
Alan Fernandez trat wieder ans Mikrofon und setzte eine zwanzigminütige Unterbrechung an, in deren Anschluss die Berichte der Arbeitsgruppen präsentiert werden sollten.
Zwanzig Minuten später hatte ungefähr die Hälfte des Publikums wieder Platz genommen und wartete auf die Fortsetzung der Veranstaltung. Es waren die Mitglieder der verschiedenen Institute, die die eigentliche Arbeit leisteten. Die Kongressabgeordneten und die Vertreter der Koordinatorin hatten sich größtenteils schon verabschiedet.
Die zwanzig Minuten verstrichen, ohne dass jemand auf der Bühne erschienen wäre. Es vergingen weitere fünf Minuten, zehn, und dennoch trat die Konferenz nicht wieder zusammen. Mark schaute Lisa fragend an, und sie zuckte nur die Achseln. Aus dem Augenwinkel sah er eine vertraute Gestalt, die aus dem rückwärtigen Bereich des Auditoriums den Gang entlangkam.
Dieter Pavel ging zielstrebig auf sie zu und flüsterte wie ein Souffleur: »Lisa, du sollst nach oben kommen. Mark kann auch mitkommen, wenn er will.«
»Nach oben?«, fragte sie. »Stimmt was nicht?«
»Nicht hier«, erwiderte Pavel und wies mit dem Daumen auf die breite Tür, die aus dem Auditorium hinausführte. »Im Foyer.«
Die drei gingen die lange Gefällstrecke zur Tür hinunter und dann zum nächsten Aufzug. Als sie in einem hell erleuchteten Gang allein waren, fragte Lisa: »Was geht hier überhaupt vor?«
»Sar-Say ist entführt worden!«