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Die Brinks-Basis war in den Monaten der Abwesenheit der New Hope enorm gewachsen. Als sie zur Mission nach Gamma abreisten, war die Basis noch eine große Baustelle gewesen. Und nun, nur zehn Wochen später, war sie bereits eine veritable Festung im Herzen des feindlichen Raums.
Augenfällig war vor allem die große Sensorbaugruppe, die den unterirdischen Wohnbereich umgab. Es gab Infrarot-Teleskope, die den Himmel nach allem absuchten, das wärmer war als die Kälte des tiefen Raums, Radioteleskope – die man im Bedarfsfall auch als Hochleistungssender zu nutzen vermochte – und überhaupt jeden passiven Sensor, den die Menschheit bisher entwickelt hatte. Es gab sogar Neutrino-Detektoren, um Schiffe anhand der Triebwerksemissionen zu entdecken. Somit hatten sie keine Probleme, die Vielzahl menschlicher Schiffe zu orten, die wie an einer Schnur aufgereiht in einer Umlaufbahn um den Mond standen.
Jedoch hatten die Sensoren keine reine Warnfunktion. In der Anfangsphase hatte der Verteidigungsplan für die Brinks-Basis darin bestanden, den Stützpunkt beim ersten Anzeichen des Feindes zu evakuieren und zu zerstören. Zu diesem Zweck war eine starke nukleare Sprengladung im Herzen der Basis deponiert worden, die notfalls sämtliche Hinweise auf die Spezies vernichten würde, die sie errichtet hatte.
Die Strategie hatte sich zwischenzeitlich geändert. Falls die Broa plötzlich im Versteck-System erschienen, wollte man zunächst versuchen, sie vom Himmel zu holen. Dazu patrouillierte immer mindestens ein Fusionsraumschiff in der Nähe des Mondes. Die anderen Schiffe der Flotte waren ebenfalls für die Verteidigung verfügbar. Der Frachtraum jedes Q-Schiffs war mit Offensiv- und Defensiv-Bewaffnung gespickt. Sogar die mächtigen Kolonieschiffe verfügten über Mittel zur Selbstverteidigung.
Die primäre Angriffswaffe der Flotte war die Überlicht-Rakete mit der Kurzbezeichnung ÜR. Bei den Überlicht-Raketen handelte es sich um eine Modifizierung der ftl-Nachrichtensonden, mit denen Dan Landon den broanischen Rächer vor Neu-Eden zerstört hatte.
Die ÜR waren miniaturisierte Kampfmittel-Versionen: Sie beschleunigten auf Überlichtgeschwindigkeit, wurden planmäßig überlastet und kehrten dann in unmittelbarer Nähe des Ziels in den Normalraum zurück, wo sie auf dem Pfad des feindlichen Schiffs in unzählige Schrapnells zerplatzten.
Zwischen den vielen Sensorbaugruppen befanden sich Felder aus halbkugelförmigen Kuhlen, die in den Felsboden von Sutton getrieben worden waren. In jeder Senke stand eine startbereite ÜR.
Außerdem waren alle Schiffe noch mit einer weiteren Verteidigungskomponente ausgestattet worden, über die man sich aber in Schweigen hüllte. An der Hülle jedes Schiffs war eine Kernsprengladung angebracht worden. Wenn ein Schiff gekapert zu werden drohte, hatte der Kapitän die Order, den Selbstzerstörungsmechanismus auszulösen.
Sternenschiffs-Kapitän war der begehrteste Job in der neuen Weltraum-Marine und derjenige mit den strengsten Auswahlkriterien. Führungsstärke wurde ohnehin vorausgesetzt, aber man musste auch den Mut haben, sich selbst zu vernichten, wenn es gar keinen anderen Ausweg mehr gab.
Das war auch einer der Gründe, weshalb die meisten Kapitäne graues Haar hatten.
»Toll! Hier hat sich seit unserem Abflug aber viel getan, nicht wahr?«, fragte Lisa Mark, als das Beiboot des Schiffs auf das kreisförmige Muster der Sensorbaugruppen und Raketenbatterien zuflog, die aus der schwarz-braunen Ebene über der Brinks-Basis sprossen.
Die beiden waren auf der einzigen Sitzbank vorne im Landungsboot der New Hope angeschnallt, wobei Marks Knie dem Piloten beinahe die Nieren quetschten. Der Kopf des Piloten füllte ihr Sichtfeld aus, aber sie erkannten das Ziel trotzdem, wenn sie an seinen Ohren vorbei durchs vordere Sichtfenster linsten. Ein Dutzend weiterer Passagiere war nebeneinander in den langen Rumpf gepackt und vermochte nur durch faustgroße Sichtfenster hin und wieder einen Blick auf den luftlosen Mond zu werfen.
»Sie hatten schließlich auch genug Arbeitskräfte«, sagte Mark. »Ich wundere mich sowieso, dass wir nicht schon eine Kuppel-Stadt mit hängenden Gärten vorfinden.«
»Das wäre nett«, sagte seine Frau wehmütig. Militärische Bauten hatten drei Prioritäten: Funktion, Funktion und nochmals Funktion. Man würde nicht einmal ein Blümchen auf ein Schott malen; es sei denn, dieses Kunstwerk hätte sie bei der Zielansprache unterstützt.
Der Pilot richtete das Boot in einem Winkel auf, der sie ihrer Ansicht beraubte, und schaltete die Steuertriebwerke ein. Sie landeten in einer Staubwolke, die sich in der niedrigen Gravitation nur langsam wieder setzte. Bisher hatte man bei einer Landung auf Sutton seinen oder ihren Raumanzug anlegen und dann zur nächsten Oberflächen-Luftschleuse hoppeln müssen. Diesmal aber nicht.
Sofort nach der Landung fuhr ein langer Arm aus und packte das Boot direkt hinterm Cockpit. Er hob es lautlos an, wie eine Katzenmutter ihr Junges hochhob, schwenkte es über eine offene rechteckige, von Flutlichtern erhellte Grube und setzte es dann dort unten ab.
Die Grube war kaum größer als das Boot. Mit einem leichten Ruck wurden sie auf dem Boden abgestellt. Der Arm löste sich und zog sich zurück. Und dann verschwand der Himmel, als ein massives Dach die Grube abschloss.
Das Boot wurde von einem Schwall einströmender Luft herumgestoßen und in einen Expansionsnebel gehüllt. Der Pilot behielt die Instrumente für ein paar Sekunden im Blick und sagte schließlich: »Alle verlassen das Boot. Der Letzte schließt die Luftschleuse.«
Lisa und Mark lösten den Beckengurt und warteten, bis die anderen den schmalen Gang geräumt hatten, bevor sie ihre Reisetaschen an sich nahmen und ihnen folgten. Mark tat wie geheißen und betätigte das Bedienelement, mit dem die Luftschleuse geschlossen wurde. Dabei wurden sie von einer Lautsprecherstimme aufgefordert, sich zu beeilen, denn die Pumpen waren schon wieder im Begriff, die Luft aus der Kammer zu saugen.
Sie eilten zu einer kleinen Luftschleuse, die in die Felswand eingelassen war. Diese war gerade mal groß genug, dass sie beide sich hineinzuquetschen vermochten. Die Außentür schloss sich, und dann waren sie in einem Stahlgehäuse eingesperrt, das kaum größer war als ein Sarg.
»Sehr lauschig«, sagte Mark und genoss das weiche und warme Gefühl, als er Lisa in die Arme nahm.
Seine Frau schmiegte sich lasziv an ihn. Bevor sie den Körperkontakt noch zu intensivieren vermochten, gab die innere Tür eine Reihe von Klickgeräuschen von sich und zog sich dann in ihre Führung zurück. Zum Vorschein kam eine grinsende Truppe von ›Vakuum-Heinis‹, die den ins Gestein gehauenen Tunnel säumten. Es gab mehrere Pfiffe, als das Paar sich entwirrte.
»Zu Hause ist es doch am schönsten!«, sagte Mark und ließ Lisa den Vortritt beim Verlassen der Schleuse. Er folgte mit den zwei Reisetaschen.
Lisa rümpfte das Näschen und drehte sich zu ihm um. »Was stinkt denn hier so?«
Er atmete die Luft des Stützpunkts ein. »Ich tippe auf frische Farbe und Körpergeruch«, erwiderte er. Eins stand jedenfalls fest: Von allen Verbesserungen, die in der Brinks-Basis stattgefunden hatten, waren die Luftreiniger nicht betroffen.
»Ich glaube, dass Sie recht haben«, sagte der Leitende Wissenschaftler Alfred Bastion bei der Lektüre des Kurzberichts der Mission der New Hope nach Gamma.
»In welcher Beziehung, Sir?«, fragte Mark.
»Die verdammten Gravitationswellen waren entlang der Achse des Tors fokussiert. Kein Wunder, dass wir weniger als erwartet entdeckt haben.«
»Aber die Welle, die man im Neu-Eden-System entdeckt hatte, war gleichförmig. Das ist inzwischen überprüft worden, indem man direkt vor der expandierenden Wellenfront in den Unterlichtbereich zurückgefallen ist und sie an einem Dutzend Punkten kartografisch dargestellt hat.«
»Die Welle vor Neu-Eden war sehr stark und ist durch einen Einwege-Sprung verursacht worden. Es gab kein Sternentor am Bestimmungsort, um die Welle zu fokussieren. Ich fürchte, dass wir unsere Strategie von einem einzigen Datenpunkt extrapoliert haben. Die jüngsten Beobachtungen, die Sie gemacht haben, zwingen uns zu einer Neubewertung der ganzen Sache.«
»Neubewertung?«
»Alles«, erwiderte der Physiker. »Wo Sie noch dazu gezeigt haben, dass wir nicht einmal wissen, wie weit die Erde überhaupt von der Peripherie der Souveränität entfernt ist.«
»Ich vermag Ihnen nicht zu folgen.«
Bastion schaute, als ob er in einen faulen Apfel gebissen hätte.
»Nach der erstmaligen Entdeckung von Sternentoren und Gravitationswellen haben wir eine Berechnung angestellt. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gelangt, dass – weil Gravitationswellen sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten – die Souveränität nicht näher an Sol sein könne als die Anzahl von Jahren, seit die Broa ihre Tor-Technologie entwickelt hatten. Also eine beachtliche Entfernung.
Diese neuen Daten legen jedoch nahe, dass vielleicht sogar in unmittelbarer Nachbarschaft von Sol ein von Broa besetzter Stern existiert – nur dass sein Tor eben so ausgerichtet ist, dass wir es nicht erkennen.«
»Da kommt richtig Freude auf«, sagte Mark nachdenklich.
»Tatsächlich«, erwiderte Bastion geistesabwesend. Er beschäftigte sich bereits mit der Frage, welche anderen schlimmen Konsequenzen es vielleicht noch hatte, dass Sternentore Gravitationswellen fokussierten.
»Glückwunsch zu Ihrer Arbeit in Gamma«, sagte Dan Landon. Lisa hockte auf der spillrigen Vorrichtung, die die Ingenieure lachend als einen ›Besucherstuhl‹ bezeichneten. Er wäre selbst unter ihrem Federgewicht zusammengebrochen, wenn hier die höhere irdische Schwerkraft geherrscht hätte.
»Vielen Dank, Sir. Ich bedaure nur, dass wir keinen Kandidaten für den nächsten Kontakt gefunden haben.«
Der Admiral zuckte die Achseln. »Negative Daten sind auch Daten. Zumindest wissen wir nun, welches System wir meiden müssen.«
»Ja. Harlasanthenar scheint ein broanisches Drehkreuz oder vielleicht sogar ein Mittelzentrum zu sein. Wir sollten uns von dort lieber fernhalten.«
»Werden wir auch. Zum Glück waren die anderen Expeditionen ergiebiger. Ich glaube, dass wir zwei Welten gefunden haben, die eine sichere Kontaktaufnahme ermöglichen. Wie würde es Ihnen und Mark gefallen, sich eine von ihnen vorzunehmen?«
»Sir?«
»Sie haben durch den Besuch auf Klys’kra’t einschlägige Erfahrungen. Und was noch wichtiger ist, Sie sind wahrscheinlich unser bester Experte für die Broa und ihre Sprache. Wir brauchen diese planetarische Datenbank dringend. Würden Sie noch einmal einen Versuch wagen?«
»Jawohl, Sir. Wir würden es liebend gern noch einmal versuchen.«
»Es könnte aber gefährlich werden.«
»Aus dem Überlichtbereich in eine Oort’sche Wolke zu fallen ist gefährlich, Admiral. Im Vergleich dazu müsste das eine Kleinigkeit sein. Wir tauchen auf wie Kai aus der Kiste, feilschen ein wenig, um den Schein zu wahren, und geben ihnen dann für die Datenbank, was sie wollen. Anschließend machen wir uns wieder vom Acker.«
»Sie werden in etwa einer Woche den Marschbefehl erhalten. Die New Hope wird aber Geleitschutz durch ein Fusionsschiff und ein paar Q-Schiffe bekommen. Falls Sie in Schwierigkeiten kommen, werden sie versuchen, Sie rauszuhauen.«
»Auch auf die Gefahr hin, dass die Tarnung auffliegt, Admiral?«
Er nickte. »Immer noch besser, als Ihre Gefangennahme und Sezierung zu riskieren.«
Lisa schauderte beim Wort ›Sezieren‹. Sollten die Broa sich jemals Fragen nach ihrer Herkunft stellen, wäre das aber wohl noch das Mindeste, womit sie rechnen musste. Deshalb hatte – außer dem Selbstzerstörungsmechanismus des Schiffs – jedes Mitglied einer Bodenerkundung auch eine Selbstmordpille dabei. In den einschlägigen Romanen hatte der Spion immer einen mit Zyanid gefüllten hohlen Zahn. Nicht nur dass so ein Ding ziemlich bruchempfindlich war, es würde auch von Bio-Scannern registriert und bei der Gastgeber-Rasse Fragen nach dem Zweck aufwerfen.
Wenn Landon die Reaktion bemerkte, sah man es ihm zumindest nicht an. »Gibt es sonst noch etwas, worüber wir sprechen müssen, Leutnant?«
»Ja, Sir. Ich hatte unterwegs eine Idee, durch die wir unsere Erkundungen vielleicht viel effizienter gestalten könnten.«
»Lassen Sie hören.«
Sie erläuterte ihm ihre Idee, dass ein Schiff sich in ein broanisches System schlich und durchs lokale Sternentor sprang. Nach diesem ersten Sprung wären sie ein x-beliebiges Schiff, das irgendwohin unterwegs war.
Sie vermochten von Tor zu Tor zu springen und die Positionen von Dutzenden Sternen zu kartieren. Und die Verweildauer im Normalraum zwischen zwei Toren vermochten sie zu nutzen, um die Einheimischen ein wenig auszuspähen.
Landon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück – einem identischen Exemplar ihrer Sitzgelegenheit.
»Klingt interessant. Schreiben Sie es auf und legen Sie es der Strategischen Planungsgruppe vor. Sie sollen es sich einmal anschauen. Wenn sie es befürworten, werden wir es versuchen.«
»Jawohl, Sir.«