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Die Sitzung fand im großen Konferenzraum eine Etage unter dem Büro der Welt-Koordinatorin im Regierungsturm in Toronto statt. Es war eine Woche seit Sar-Says Festnahme vergangen und drei Tage, seit man ihn zur PoleStar zurückgebracht hatte. Der Zugang zur Erde war ihm nun für immer verwehrt.
Die Vernehmung von Gus Heinz und von Benjamin Ludnick war schnell über die Bühne gegangen. Die Ermittler mussten ihnen nur die Höchststrafe für ihr Verbrechen nennen, als sie auch schon auspackten. Und Heinz sang geradezu wie ein Vögelchen. Beide Männer sagten aus, sie seien durch die Höhe des von Sar-Say angebotenen Bestechungsgeldes verführt worden und durch seine Behauptung, dass die Broa die Erde sowieso finden würden – mit oder ohne ihre Hilfe. Der offizielle Bericht der Ermittlungsbeamten besagte, dass Sar-Says Angebot noch viel höher hätte ausfallen können: bis hin zum ganzen Planeten. Wegen Sar-Says Fähigkeit, die Leute mit fantastischen Belohnungen zu ködern, wurde er in eine andere Häftlingskategorie eingeordnet – in die höchste Gefahrenstufe.
Um sicherzustellen, dass er nicht wieder flüchtete, wurde ein kompletter Zug der Friedenstruppen zu seiner Bewachung abgestellt. Parsons Blauhelme hielten immer paarweise Wache und wurden turnusmäßig abgelöst, um zu verhindern, dass sie der gleichen Versuchung erlagen wie Heinz und Ludnick.
Zu den Personen, die zu dieser Dringlichkeitssitzung – geladen worden waren, gehörten auch die drei InstitutsDirektoren, ihre persönlichen Assistenten sowie ein paar Angehörige des Stabs der Koordinatorin und noch einige Kongressabgeordnete. Mark Rykand war zur Unterstützung seines Chefs anwesend. Und Lisa war wieder wegen ihrer speziellen Expertise eingeladen worden. Dieter Pavel war auch da, Dan Landon in seiner schneidigen Admiralsuniform und General Parsons von den Friedenstruppen.
Mark betrat den Konferenzraum, ging zu Dan Landon und schüttelte ihm die Hand.
»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Admiral.«
Landon lächelte. »Ich mich auch, Mark. Und Lisa ist so schön wie immer.
»Noch schöner.«
»Wie in den alten Zeiten. Demnächst können wir noch ein Klys’kra’t-Treffen veranstalten!«
Die beiden standen mit dem Gesicht zum Fenster, das sich vom Fußboden bis zur Decke erstreckte und von dem aus man einen Blick über ganz Toronto hatte. Beide wurden durch eine Stimme hinter ihnen aufgeschreckt: »Ich wäre dafür. Wo soll die Party steigen?«
Mark drehte sich um und sah Mikhail Vasloff hinter sich stehen. Er war so perplex, dass er vergaß, ihm die Hand zu geben, und nur einen Gruß stammelte.
»Weiß irgendjemand, weshalb wir überhaupt hier sind?«, fragte Vasloff dann in diesem lässigen Ton, den er in der Zwischenzeit geradezu perfektioniert hatte.
»Keine Ahnung«, erwiderte Mark. Erst später erinnerte er sich wieder, dass Dan Landon nichts gesagt hatte.
»Es muss wichtig sein. Die Koordinatorin hat mir sogar ihr Privatflugzeug geschickt. Ich muss sagen, an diese Art zu reisen könnte ich mich gewöhnen.«
»Ich wünschte, ich wäre so kommod gereist«, nuschelte Mark. »Lisa und ich haben uns für den Katzensprung nach Toronto in die Touristenklasse gequetscht.«
Bei der Nennung ihres Namens drehte Lisa den Kopf. Sie hatte sich gerade mit ein paar von Jean-Pierres Mitarbeitern unterhalten. Bei Vasloffs Anblick schaute sie genauso konsterniert, wie Mark es bei sich selbst auch vermutete.
Vasloff machte noch ein wenig Konversation, entschuldigte sich dann und ging zu Alan Fernandez, dem er auch die Hand schüttelte. Fernandez hatte seit Sar-Says Flucht wenig zu lachen gehabt. Die Medien hatten ihn nämlich zum Sündenbock erkoren, was er nach Marks Ansicht auch verdient hatte.
Bevor Mark weiter grübeln konnte, betrat Nadine Halstrøm den Raum, mit Anton Bartok und Tony Hulsey im Schlepptau. Auf ein Handzeichen der Koordinatorin nahmen die Honoratioren am langen Mahagonitisch Platz, während ihre Assistenten sich an der Peripherie platzierten.
Mark ging zu seinem Platz vor der sonnendurchfluteten Glaswand. Er genoss für ein paar Sekunden die Wärme im Rücken, bevor das Fenster verdunkelt wurde und die Deckenbeleuchtung anging. Hinter ihm sandte das Glas die niedrige Frequenz des für ein Anti-Abhörfeld typischen weißen Rauschens aus.
»Vielen Dank für Ihr Kommen«, sagte die Koordinatorin, nachdem alle Platz genommen hatten. »Der jüngste Aufruhr wegen Sar-Say hat meine Administration zu einer Strategie-Revision veranlasst. Da Sie alle involviert waren, wollten wir zunächst Ihnen unsere Entscheidung mitteilen, bevor wir uns an die Öffentlichkeit wenden.
Tony, wenn Sie das bitte übernehmen würden?«
»Jawohl, Madame Koordinatorin«, erwiderte Hulsey und wuchtete sich vom Sitz. »Ich muss Ihnen wohl nicht sagen«, wandte er sich an die Menge, »dass Sar-Says jüngster Fluchtversuch ganz Toronto und die hier Anwesenden in Aufruhr versetzt hat. Ich habe keine Nacht geschlafen, seit ich von diesem Ereignis erfahren hatte. Ich habe immer noch Albträume von ausländischen Horden, die in mein Schlafzimmer einfallen.
Und ich bin da auch nicht der Einzige. Das Kabinett tagt seit drei Tagen in einer Marathonsitzung. Ich vermag mich nicht zu erinnern, wann wir zuletzt vor einer so schwierigen Entscheidung gestanden beziehungsweise uns so schwer getan haben, eine zu treffen …«
»Machen Sie schon weiter, Tony«, sagte Nadine Halstrøm mit einer Stimme, die ihre Erschöpfung verriet.
»Jawohl, Madame Koordinatorin.« Er drehte sich um und ließ den Blick über die erwartungsvollen Gesichter um den Tisch schweifen. »Nach langer Debatte haben wir dennoch eine Entscheidung getroffen. Trotz vieler Gegenstimmen haben wir uns nun doch dafür entschieden, den Colorado-Springs-Plan zu unterstützen.
Ab sofort läuft die Operation Gibraltar-Erde!«
Nach Hulseys Ausführungen waren die Zuhörer zunächst baff. Mark, der direkt hinter seinem Chef saß, erkannte durch die Art und Weise, wie die Ohren sich bewegten, dass Hamlin lächelte. Lisa beugte sich zu ihm herüber und drückte ihm kurz die Hand. Ein paar andere Anwesende frohlockten.
Sie waren jedoch in der Minderheit. Die Mitteilung entlockte einigen Personen ein Stöhnen und Mikhail Vasloff ein vernehmliches Knurren. Alan Fernandez wirkte deprimiert. Marks und Dan Landons Blicke trafen sich – er schien ungerührt. Vielleicht war er vorab schon informiert worden.
Nadine Halstrøm wartete, bis die Leute die Nachricht verdaut hatten, bevor sie fortfuhr.
»Ich vermute, es gibt einige Einwände gegen diese Entscheidung«, sagte sie mit trügerisch sanfter Stimme. »Mikhail, warum fangen Sie nicht an?«
Vasloff rang um Fassung. Als sein puterrotes Gesicht die ursprüngliche Farbe zurückerlangt und er wieder zusammenhängend zu sprechen vermochte, fragte er: »Frau Koordinatorin, wie konnten Sie das nur tun?«
»Weil ich es tun konnte«, erwiderte sie kalt. »Sar-Says beinahe gelungener Fluchtversuch ist doch der Beweis dafür, dass ein Versteckspiel mit den Broa gerade keine praktikable Option ist.«
»Ich vermag nicht nachzuvollziehen, wie Sie zu dieser Schlussfolgerung gelangt sind.«
»Ich will Ihnen nur zwei Gründe nennen: Heinz und Ludnick.«
»Wie bitte?«
»Verstehen Sie denn nicht? Zwei Menschen wären bereit gewesen, die Menschheit für einen Judaslohn von je einer Milliarde Kredite zu verraten, und ohne große Skrupel, wie ich hinzufügen möchte. Eine Milliarde Kredite! Was glauben Sie wohl, weshalb Sar-Say gerade diese Summe genannt hat? Weil sie wahrscheinlich die größte Zahl ist, die ein Durchschnittsmensch sich noch vorzustellen vermag.«
»Der Pariser Plan hat das auch in Betracht gezogen, Madame Koordinatorin. Wir können solche Dinge in Zukunft unterbinden.«
»Wie denn, Gospodin Vasloff? Sar-Say hat gleich zwei willige Helfer gefunden, indem er nur einem einen Zettel zusteckte. Wie viele andere hätten sein Bestechungsgeld angenommen? Und wenn eine Milliarde nicht gereicht hätte, was wäre das Limit gewesen? Nein, dieses Vorkommnis beweist nur, dass die Vorstellung, wir könnten uns für immer zwischen den Sternen verstecken, reine Utopie war. Das ist ein Plan, mit dem wir uns auf Gedeih und Verderb den charakterlosesten und gierigsten Typen unter uns ausliefern.«
»Wieso töten wir ihn nicht einfach, Madame Koordinatorin?«, regte General Parsons an. Bei seinem geschäftsmäßigen Ton lief es Lisa kalt den Rücken herunter.
»Wir haben das in Betracht gezogen, General. Glauben Sie mir, wir haben das ernsthaft in Betracht gezogen. Leider würde die Tötung von Sar-Say unser Problem auch nicht lösen. Wenn sich nämlich herumspricht, was die Broa alles im Angebot haben, kommt irgendein Idiot vielleicht noch auf die Idee, auf eigene Faust nach ihnen zu suchen.
Nein, meine Damen und Herren. Wir sind durch unsere eigene Habgier verraten worden. Es gibt einfach zu viele Spinner auf diesem Planeten, als dass Verstecken eine praktikable Option wäre.
Um jeden Verrat auszuschließen, würden wir die Raumfahrt vollständig einstellen müssen – die Kolonien restlos räumen, die Kolonisten auf die Erde zurückbringen und zum Schluss unsere Sternenschiffe und die interplanetarischen Raumfahrzeuge zerstören.«
Direktor Landrieu nickte. »Ähnlich unserer Empfehlung, Madame Koordinatorin.«
»Ich weiß das, Jean-Pierre. Aber diese Technologie ist einfach zu geläufig, um den Geist wieder in die Flasche zu stopfen! Wir müssten ständig auf der Hut vor einem geheimen Sternenschiff-Projekt sein; und nicht nur für kurze Zeit. Für Jahrhunderte! Es wird einfach nicht funktionieren.
Fakt ist doch, dass wir einem nicht unbeachtlichen Prozentsatz unseres Volkes nicht vertrauen können. Manche würden uns des Geldes wegen verraten. Und andere sind schlicht und einfach verrückt. Wir können unsere Politik nicht einmal über diese Legislaturperiode hinaus planen, ganz zu schweigen für die nächsten tausend Jahre. Die einzige langfristige Lösung besteht darin, es jetzt mit dem Feind aufzunehmen, solange die Alternative des Untergangs noch voll präsent ist.«
Nadine Halstrøm schaute mit entschlossenem Blick in die Runde. »›Broa delenda est‹, meine Damen und Herren. Die Souveränität muss vernichtet werden, wenn wir jemals in Sicherheit leben wollen.«
»Na, Mark, wollen wir uns verpflichten?«, fragte Lisa. Es war Nacht außerhalb ihres Hotelzimmers, und sie hatten die Vorhänge offen. Das Licht war aber aus, denn sie lagen nackt im Bett. Nicht dass irgendjemand sie im hundertzwanzigsten Stock zu sehen vermocht hätte – oder dass es ihnen etwas ausgemacht hätte –, aber der Blick auf die Stadt war im Dunklen viel schöner.
Sie hatten sich in der ›Löffelchen-Stellung‹ aneinandergeschmiegt. Mark hatte die Arme um Lisa geschlungen und begrabbelte sie mit der linken Hand sanft und zärtlich, was bei ihr ein Kichern und ein sporadisches lustvolles Stöhnen auslöste. Sein rechter Arm war unter ihr eingeklemmt, sodass die Finger langsam taub wurden. Er wollte sie schon darum bitten, die Position zu ändern, empfand den Moment dann aber als zu schön, um ihn zu stören.
»Na, sollen wir?«, fragte Lisa erneut.
»Verzeihung«, erwiderte er. »Ich war von deiner Schönheit fasziniert. Sollen wir was?«
»Uns der Expedition zum Entsatz der Brinks-Basis anschließen?«
»Natürlich. Wir haben diesen ganzen Kuddelmuddel auch verursacht. Da ist es nur angemessen, wenn wir es bis zum Ende durchstehen.«
»Und wenn sie uns trennen?«
»Das können sie nicht. Gemäß den Bestimmungen dürfen Ehepaare in der Sternenforschung gemeinsam Dienst tun. Ich wüsste nicht, dass das in der neuen Weltraum-Marine anders sein sollte.«
Seine linke Hand verharrte auf einer Stelle, wo er ihren Puls zu fühlen vermochte. Er bemerkte die plötzliche Beschleunigung ihres Herzschlags.
»Ehepaare?«, fragte sie mit erstickter Stimme, als ob sie nicht genug Luft bekam. »Ist das ein Antrag?«
»Ja – falls du mich überhaupt willst«, erwiderte er.
Sie antwortete nicht direkt. Stattdessen führte sie die Verrenkungen aus, die erforderlich waren, um ihm ins Gesicht zu sehen und verwickelte sich dabei in die Laken. Beim Scharmützel mit dem Bettzeug entfuhren ihr Flüche, die nicht unbedingt damenhaft waren. Nachdem sie sich befreit hatte, presste sie ihren Körper der Länge nach auf seinen und sagte: »Würdest du das bitte wiederholen?«
»Lisa, möchtest du mich heiraten?« Nun war er atemlos.
Grüne Augen verschmolzen für lange Sekunden mit braunen, als ob sie die Ernsthaftigkeit seines Antrags zu ergründen versuchten. Dann, wie in Zeitlupe, senkte sie den Kopf zu ihm hinab und küsste ihn. Aus dem zunächst züchtigen Kuss wurde schnell ein leidenschaftlicher. Es dauerte dann ein paar Minuten, bis die beiden wieder gleichmäßig atmeten.
»War das nun ein ›Ja‹?«, fragte Mark, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte.
»Das war definitiv ein ›Ja‹«, erwiderte sie. Dann schwiegen sie für eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.