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Zur allgemeinen Überraschung verabschiedete das Parlament die Gesetzesvorlage der Koordinatorin für die Gründung dreier unabhängiger Institute in Rekordzeit – was eindrucksvoll unter Beweis stellte, dass selbst der Gesetzgeber zügig in die Gänge kommen kann, wenn die Angst ihm im Genick sitzt.

Die Standorte der drei Institute wurden unter Berücksichtigung traditioneller Gegebenheiten ausgewählt. Die Gruppe, die den Auftrag hatte, den Gibraltar-Erde-Plan auszuarbeiten, wurde zur Sternenforschungs-Akademie in Colorado Springs abgeordnet, während das Vasloff-Plan-Institut an der Universität von Paris untergebracht wurde. Das unabhängige Broa-Forschungs-Institut sollte mit dem Exobiologie-Zentrum von Harvard zusammengelegt werden.

Zwei Wochen nach den Anhörungen in Toronto fanden Mark Rykand und Lisa Arden sich in einem Raum im alten Trakt der Sternenforschungs-Akademie wieder. Ihre neue Unterkunft war nicht viel größer als das Abteil an Bord der Ruptured Whale; zuvor war es die Unterkunft von vier Kadetten gewesen, die in weniger ›luxuriösen‹ Unterkünften einquartiert worden waren.

Mark brauchte ein paar Tage, um sich an die pittoreske Architektur der Akademie zu gewöhnen, die eine ›modernistische‹ Mogelpackung war. Schließlich erschloss sich ihm jedoch die dem Stil innewohnende Ästhetik, einschließlich der wuchtigen Pyramide aus Stahl und Glas, die die Kadetten-Kapelle darstellte. In Lisas Augen war die Architektur aus dem 20. Jahrhundert aber einfach nur hässlich.

Um ihre Insel der Nostalgie strebte der Rest der Akademie in Gestalt futuristischer Türme gen Himmel. Die Akademie war deshalb als Standort für das neue Institut ausgewählt worden, weil die meisten Wissenschaftler den Gibraltar-Erde-Plan favorisierten.

Das Vasloff-Plan-Institut sollte aus ähnlichen Gründen in Paris eingerichtet werden. Denn die Franzosen hatten sich seit einem halben Jahrtausend fremden kulturellen Einflüssen verschlossen. Diese Einstellung war ihnen gewissermaßen angeboren und durch den islamistischen Kreuzzug in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts – wobei der Felsen von Gibraltar um ein Haar von einem nuklearen Sprengkopf getroffen worden wäre – noch verstärkt worden.

Der erste Monat in Colorado Springs war mit organisatorischen Aufgaben ausgefüllt, einschließlich der Einstellung von Hochschulprofessoren, Wissenschaftlern aus der Privatwirtschaft, Konstrukteuren und Offizieren von der kleinen irdischen Weltraumtruppe. Jedem Neuankömmling musste eine Unterkunft, ein Büroraum und ein Arbeitsplatz in einem von einem Dutzend Studiengruppen zugewiesen werden. Sie mussten darüber hinaus über die Expedition zur Sonne der Voldar’ik und den Kenntnisstand der Menschheit in Bezug auf die Broa informiert werden.

Diese letzteren Aufgaben oblagen Mark und Lisa. Einmal wöchentlich gaben sie für die Neuankömmlinge einen vierstündigen Orientierungskurs, wobei sie den öden Stoff durch Anekdoten auflockerten. Die restliche Zeit standen sie für ›Konsultationen‹ zur Verfügung, was bedeutete, eine Flut von Fragen von jeder Studiengruppe zu beantworten. Viele dieser Fragen wurden mehrmals gestellt, aber es hatte auch wenig Zweck, den Fragesteller auf die bereits veröffentlichten Antworten zu verweisen. Jeder wollte die Informationen aus erster Hand von jemandem hören, der die Souveränität mit eigenen Augen gesehen hatte.

Die wöchentliche Vorlesung war eine Einführung in die Geschichte der Souveränität, der broanischen Physiologie und Psychologie – eigentlich Sar-Says Physiologie und Psychologie – sowie über die bekannten physikalischen Grundlagen des broanischen Raums. Die Antwort auf die Frage ›Was wissen wir über den broanischen Raum?‹ lautete leider: ›nicht viel‹.

Mark erklärte den Fragestellern, das Problem bestünde darin, dass jemand, der über Sternentore reiste, sich kaum für die physikalische Position der Sterne im Universum interessierte. Ihn interessierte nur die Folge der Tore, die für einen Sprung von System A nach System B benutzt werden mussten. Ihre Karten hatten deshalb Ähnlichkeit mit U-Bahn-Netzplänen. Sie vernachlässigten die astronomischen Aspekte und zeigten stattdessen die Abfolge von Sprung-Punkten, wobei auf eine Korrelation mit den tatsächlichen Positionen der Sterne am Himmel verzichtet wurde.

Und es dauerte auch nicht lange, bis die Arbeitsgruppe Astronomie dieses Defizit an Astrogationsdaten zum dringendsten Problem des Instituts erklärte. Doch die anderen Arbeitsgruppen hatten auch ihre ›dringendsten Probleme‹, und alle hofften sie, dass entweder Mark oder Lisa für Durchblick sorgen würden, wenn sie ihnen nur genügend Löcher in den Bauch fragten.

Dieses ›Sperrfeuer‹ von Fragen warf bei Mark wiederum die Frage auf, ob es denn klug gewesen war, Klys’kra’t so schnell zu verlassen, nachdem sie die Wahrheit über Sar-Say herausgefunden hatten. Wenn sie nämlich vor ihrer Flucht den Daten-Handel abgeschlossen hätten, wären sie nun im Besitz einer vollständigen astronomischen Datenbank.


»Heute hat schon wieder eine Demonstration stattgefunden«, sagte Lisa zu Mark, nachdem er den wöchentlichen Orientierungskurs beendet hatte. Die beiden hatten sich nebeneinander in die winzige Küche gequetscht und bereiteten das Abendessen zu.

»Wo denn?«

»In Toronto, wo sonst? Dem Vernehmen nach soll eine Million Menschen für ›Frieden‹ demonstriert haben, aber anhand der Bilder, die ich gesehen habe, scheinen es nur 200 000 gewesen zu sein.«

»Vasloff scheint ein Händchen dafür zu haben, die Leute auf seine Seite zu bringen, was?«

»Kein Wunder. Er ist in jeder Nachrichtensendung und Talkshow im Internet präsent. Mit der Verbreitung von Angst und Schrecken kann man anscheinend Quote machen.«

Mark drehte sich um, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann hielt er sie nur fest. »Es gibt etwas, das wir bedenken sollten, mein Schatz.«

»Was denn?«

»Dass er höchstwahrscheinlich recht hat. Vielleicht schicken wir die Menschheit wirklich auf ein Himmelfahrtskommando.«

»Sag doch nicht so was«, sagte sie unwirsch und gab den Kuss zurück, diesmal auf den Mund.

»Und wieso nicht?«

»Weil das nur die Illusion von Sicherheit vermittelt. Unser Ansatz führt zu tatsächlicher Sicherheit.«

»Oder zu unserem Untergang.«

Sie nickte. »Oder zu unserem Untergang. Beides ist aber besser als das Schicksal, das Sar-Say uns zugedacht hat.«

Mark lief es eiskalt den Rücken hinunter. Als man ihn an Bord der Ruptured Whale mit seinen Plänen für die Erde konfrontiert hatte, hatte Sar-Say ganz unverblümt gesagt, was Dienerschaft für die Broa bedeutete. Vielleicht hatte er sie derart einschüchtern wollen, dass sie freiwillig kapitulierten. Dann hatte er sich aber verrechnet! Seine Beschreibung des Lebens unter den Oberherren hatte sie in ihrer Entschlossenheit eher noch bestärkt, anstatt sie zur Aufgabe zu bewegen. Und doch – obwohl der Plan, sich den Broa zu widersetzen, von ihm stammte, verspürte Mark dennoch manchmal leise Zweifel.

»Wie war eigentlich dein Tag?«, fragte Lisa, als sie sich aus seinem Griff befreite, um Sellerie für den Salat klein zu schnippeln.

»Der gleiche Trott. Ich habe nun schon zum sechsten Mal den gleichen Vortrag gehalten, man hat mir die gleichen Fragen gestellt, und ich habe die gleichen Antworten gegeben.«

»Wir haben es bald geschafft. Die Belegschaft des Instituts ist fast vollständig. Sobald alle eingewiesen sind, ist Feierabend mit den ›Orientierungskursen‹.«

»Mach dir doch nichts vor. Sobald das Personal vollzählig ist, werden wir massenhaften Besuch von VIPs bekommen. Und rate mal, wem die Ehre zuteil werden wird, sie herumzuführen?«

»Auch das noch!«, stöhnte sie in gespieltem Entsetzen. »Das kann doch sicher irgendein Dödel aus der PR-Abteilung übernehmen.«

Er rührte die Spaghetti um, die auf etwas köchelten, das man früher als eine ›Warmhalteplatte‹ bezeichnet hätte, und sagte dann: »Ich habe Neuigkeiten für dich, meine Liebe. Die Dödel, die sind wir!«


Dr. Octavius Brainard war ein großer, schwergewichtiger Mann mit graumeliertem Haar. Er arbeitete als Physiker am Stanhope College und war ein Mitglied des Teams, das die Anwendung außerirdischer Technologie bei der Eroberung der broanischen Heimatwelten durch die Menschen studierte.

Er schaute aus einer luftigen Höhe von zwei Metern auf Mark herab und sagte mit dröhnender Stimme: »Sie haben recht, junger Mann. Die Beschaffung der Sternentor-Technologie ist eine Voraussetzung für unseren Angriff. Ohne sie ist die Logistik völlig unmöglich!«

Mark fragte sich, weshalb dieser Umstand nicht für jeden offensichtlich war. Zumindest war er für diejenigen offensichtlich, die die jahrelange Reise zum Krebsnebel unternommen und noch einmal ein Jahr für den Rückflug gebraucht hatten.

Die beiden konkurrierenden Sternenreisetechnologien hatten ihre Vor- und Nachteile. Der Sternenantrieb verlieh der Menschheit den Vorteil der Beweglichkeit. Sie vermochten sich frei zu bewegen. Wo die Überwindung eines Lichtjahres mit Höchstgeschwindigkeit kaum mehr als eine Stunde dauerte, musste man für die Bewältigung von 7000 Lichtjahren aber ganze 9000 Stunden veranschlagen. Das war eine lange Transportstrecke für die Megatonnen an Nachschub, die für einen siegreichen interstellaren Krieg erforderlich waren.

Bei Reisen via Sternentor spielte der Aspekt der Entfernung indes keine Rolle. Die Entfernung zwischen zwei Toren betrug praktisch null, was bedeutete, dass der Sprung von einem System ins andere ebenfalls in Nullzeit erfolgte.

Am Ende einer jahrelangen Reise noch einen Krieg zu führen wäre einfach zu anstrengend gewesen, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Wenn die Erde sich gegen die Broa behaupten wollte, musste man vorgeschobene Operationsbasen an der Peripherie der Souveränität einrichten und für einen kontinuierlichen Nachschub sorgen. Und zu diesem Zweck brauchten sie eigene Sternentore.

Brainard fuhr fort: »Das Problem besteht natürlich darin, in den Besitz dieser Technologie zu gelangen und sich mit seiner Funktion vertraut zu machen. Irgendwelche Vorschläge?«

»Ich wiederhole meinen ursprünglichen Vorschlag – dass wir ein Tor aus irgendeinem entlegenen System stehlen und es dann nachbauen.«

Brainard nickte. »Könnte funktionieren, wäre aber auch riskant. Denn die Broa werden vermutlich ziemlich heftig auf den Diebstahl eines Tors durch Schiffe reagieren, die es anscheinend überhaupt nicht brauchen.«

»Da ist was dran«, pflichtete Mark ihm bei. »Es hätte gerade noch gefehlt, dass wir ihnen den Eindruck vermitteln, sie hätten Konkurrenz bekommen.«

»Es gäbe da noch ein anderes Szenario«, sagte Brainard nachdenklich. »Vielleicht können wir die Technologie selbst entwickeln, ohne riskante Beutezüge für broanische Tore zu unternehmen.«

»Halten Sie das denn für möglich?«

»Es ist zumindest vorstellbar. Wir wissen, dass das Tor existiert. Wir haben auch die Messwerte fürs Sprungfeld, das Ihr Leute bei der Flucht aus dem Voldar’ik-System erzeugt habt. Wir sind vielleicht in der Lage, die Technologie auf der Grundlage unserer aktuellen Physikkenntnisse zu entwickeln.«

»Halten Sie das wirklich für möglich?«

»Ich werde mit dem Direktor über die Bildung einer separaten Arbeitsgruppe sprechen, die aus den besten Physikern besteht, die wir gewinnen können. Doch selbst wenn wir die Technologie aus eigener Kraft entwickeln, müssen wir sie mit Bedacht einsetzen. Gravitationswellen, Sie wissen schon.«

Mark nickte. Über Gravitationswellen wusste er Bescheid. Wenn ein Schiff in ein Ende eines Sternentor-Paars einflog, verschwand es aus dem Normalraum. Und am anderen Ende materialisierte es wieder im Normalraum. Dazwischen existierte es nicht. Die Diskontinuitäten verursachten an beiden Enden Gravitationswellen. Eine war eine ›negative Welle‹, die durch das plötzliche Verschwinden von Masse erzeugt wurde. Und die andere war eine ›positive Welle‹, die durch die plötzliche Materialisation am anderen Ende des Sprungs verursacht wurde.

Genauso wie die Erde Mittelpunkt einer expandierenden Blase aus Radiorauschen war, war jedes Sternentor der Mittelpunkt seiner eigenen expandierenden Blase aus Gravitationswellen. Die Souveränität war mit Sternentoren und Schiffen gespickt, die kreuz und quer durch den Raum hüpften. Das bedeutete, dass sie mit Gravitationswellen förmlich gesättigt war, von denen manche schon tausend Jahre alt und kaum noch nachweisbar waren und andere mit ›jugendlichem Elan‹ sich ausbreiteten.

Das waren die normalen Wellen. Es gab aber noch andere, stärkere Gravitationswellen. Diese entstanden, wenn ein Schiff am Beginn seiner Reise in ein Sternentor einflog und im offenen Raum wieder materialisierte. Es war ein solcher, durch einen Energiestrahl ausgelöster Einwege-Sprung gewesen, der Sar-Says Frachter zusammen mit seinem Verfolger ins Neu-Eden-System verschlagen hatte.

Wenn die Menschheit das Geheimnis des Sternentors gelüftet hatte, würde sie ihre Tore nicht in unmittelbarer Nähe broanischer Sterne benutzen dürfen. Das bedeutete, dass die vorgeschobenen Basen der Menschheit mindestens 100 Lichtjahre von der Souveränität entfernt sein mussten. Sonst würden die Broa die von den Menschen erzeugten Gravitationswellen entdecken und aus ihrem Schlaf der Ahnungslosen erwachen.