1

Die Morgensonne war schon ein Drittel des Wegs am Himmelsgewölbe emporgestiegen, als das silberfarbene Torpedo-Auto in Sichtweite des Bodensees kam. Das spitznasige Fahrzeug jagte durch eine schweizerische Landschaft mit malerischen ›Dörflis‹ inmitten grüner Weingärten und schoss unter Missachtung der Schwerkraft mit weiten Sätzen durch die Trasse der gestaffelten elektromagnetischen Beschleunigungsringe. Mit 500 km/h hinterließ das Auto beim Durchgang durch die feuchte Sommerluft einen Kondensstreifen.

Im Innenraum des Autos kuschelten Mark Rykand und Lisabeth Arden sich auf einem breiten Sitz aneinander und sahen die Welt draußen am Fenster vorbeiziehen. Nach mehr als drei Jahren im Raum übten die Grün-, Braun-und Blautöne der Erde eine Faszination aus, für die keiner von ihnen auf Anhieb eine Erklärung parat gehabt hätte.

»Schau mal, Mark, da liegt der See!«, sagte Lisa beim Anblick der blauen Weite, die mit einer Traube weißer Segel garniert war. Lisa war eine niedliche Blondine mit grünen Augen und einem Stupsnäschen. Sie hatte einen Mund wie Julia Roberts und Grübchen, wenn sie lächelte. Die dauerhafte Bräune war nach dem dreijährigen Aufenthalt im Vakuum verblasst, und es war wieder der natürlich blasse Teint zutage getreten, der den Frauen von den britischen Inseln nun einmal zu eigen ist.

»Wird jetzt nicht mehr lange dauern«, erwiderte er und streichelte ihre Wange. Mark hatte eine durchschnittliche Körpergröße, einen sandfarbenen Haarschopf und ein Lachen, das immer etwas schief geriet. Seine kräftige Statur hatte an Bord des Schiffs einen leichten Muskelschwund erlitten, obwohl er dreimal wöchentlich im beengten Fitnessraum in der Technischen Abteilung trainiert hatte. Trotzdem war der Körper noch immer ›knackig‹ und zeigte auch nicht den Bauchansatz, den er mit aller Macht zu unterdrücken versuchte.

Auf der anderen Seeseite erschien streiflichtartig die Pyramide aus Glas und Stahl des Sternenforschungs-Hauptquartiers, bevor die von Beschleunigungsringen gekrönte Linie der Pylonen hinter einem niedrigen Hügel abtauchte. Der Anblick erinnerte ihn an das letzte Mal, als er diese besondere Reise unternommen hatte.

Es war jedoch keine schöne Erinnerung.


Für Mark hatte das Abenteuer beziehungsweise die Odyssee vier Jahre zuvor begonnen, als er eines Tages spät in der Nacht von einer Party zurückkehrte und eine Notfall-Nachricht auf dem Telefondisplay in seinem Apartment blinkte. Mark rief die Nachricht ab und schaute in die Augen eines Fremden.

Der Mann identifizierte sich als Offizier vom Dienst im Sternenforschungs-Hauptquartier in Deutschland und bat um sofortigen Rückruf. Ein Anruf von der Sternenforschung konnte indessen nur eins bedeuten – Jani war etwas zugestoßen!

Mark hatte seine Schwester zuletzt vor einem Vierteljahr im Raumfahrtzentrum White Sands gesehen, als er sie zu ihrer letzten Mission für die Sternenforschung verabschiedet hatte. Jani hatte die ganze Zeit, während sie aufs Zubringerboot zum Schiff warteten, gescherzt und gelacht. Dann hatte sie ihm noch von der Passagierbrücke aus zugewinkt, und ihre wilde kupferrote Mähne hatte im Wind geflattert.

Er musste gleich zwei Anwahlversuche unternehmen, so stark zitterten ihm die Hände. Und dann dauerte es nur noch ein paar Sekunden, um seinen Verdacht zu bestätigen. »Es tut mir leid, Herr Rykand«, eröffnete der Offizier vom Dienst ihm. »Ihre Schwester ist vor drei Wochen auf einer Mission im Neu-Eden-System bei einem Unfall ums Leben gekommen.«

Trauer schlug über Mark zusammen wie eine Woge aus schwerem Schlick. Diese Trauer war jedoch in Argwohn umgeschlagen, als der Beamte sich nicht in der Lage sah, ihm nähere Einzelheiten bezüglich des Todes von Jani mitzuteilen. Nach einer schlaflosen Nacht buchte er einen Suborbital-Flug nach Zürich und fuhr von dort mit ebendiesem Torpedo-Auto nach Meersburg zum Hauptquartier der Sternenforschung.


»Was ist denn, mein Schatz?«, fragte Lisa und schmiegte sich an ihn. Sie wunderte sich über seine plötzliche Schweigsamkeit. Der Duft ihres blonden Haars und die vertraute Wärme ihres weichen Körpers riss Mark wieder aus seinen Gedanken.

»Ich habe mich nur ans letzte Mal erinnert, als ich diese Strecke gefahren bin.«

»Ach so«, erwiderte sie und drückte ihm die Hand. Nachdem sie sich geliebt hatten, tauschten sie in der Dunkelheit ihrer Kabine oft im Flüsterton Intimitäten aus – wie Liebespaare es seit undenklichen Zeiten getan haben.

Sie sprachen manchmal auch über die Tragödie, durch die Mark in ihr Leben getreten war.


Nachdem er zu der Schlussfolgerung gelangt war, dass die Sternenforschung ihn belog, recherchierte Mark in den Informationsnetzen nach Meldungen über die Magellan. Er war auch nicht überrascht, als er von der Rückkehr des Sternenschiffs zum Sonnensystem erfuhr. Wie sonst hätte die Sternenforschung Kenntnis von Janis Tod erlangen sollen?

Was ihn jedoch überraschte, war die Position der Magellan. Das Schiff lag nicht etwa an der Hochstation, dem ›Sprungbrett‹ für Sternenschiffe der Sternenforschung. Vielmehr hatte sie an PoleStar angedockt, dem umlaufenden Spiegel des Wetterdirektorats, der den dunklen nördlichen Regionen im Winter Licht spendete.

Nachdem der Keim des Zweifels erst einmal gesät worden war, wuchs er sich alsbald zu einer mächtigen Eiche des Verdachts aus. Zum Glück war Mark auf seiner Suche nach Antworten nicht ohne Ressourcen. Seitdem seine Eltern bei einem Luftauto-Unfall ums Leben gekommen waren, hatte Mark sein Erbe verprasst und dem Müßiggang gefrönt. Die Nächte schlug er sich hauptsächlich im Cattle Club um die Ohren und dezimierte die Schnapsvorräte. Und bei einem dieser Saufgelage brütete Mark schließlich einen Plan aus, um die Wahrheit über den Tod seiner Schwester herauszufinden.

Gunter Perlman war ein berühmter Solarregatta-Segler, und Mark war hin und wieder bei ihm mitgesegelt. Indem er sich bereit erklärte, die Frachtkosten zu übernehmen, bewog er Gunter dazu, mit seiner Jacht zur Polarbahn zu fliegen – angeblich zu dem Zweck, vor der nächsten Mond-Regatta noch ein neues Sonnensegel zu testen.

Mark verging schier vor Ungeduld, während er und Gunter die eisigen Pole abwechselnd unter der Steuerkapsel der Jacht vorbeiziehen sahen. Gleichzeitig richteten sie ständig das Segel neu aus, um aus der kreisförmigen Bahn in eine schräge Ellipse zu wechseln.

Endlich erschien die Raumstation auf ihrem Bildschirm. Und dann wurde das Funkgerät lebendig: »Raumjacht, hier spricht die Magellan. Sie nähern sich einem Sperrgebiet. Identifizieren Sie sich!«

Gunter entgegnete, dass er von keinem Sperrgebiet in diesem Sektor wüsste. Daraufhin entspann sich eine kurze Diskussion, in deren Verlauf er schließlich einen Notfall meldete. Dann trat Perlman den Rückzug an und neigte das Segel, um den langen spiralförmigen Abstieg zurück in den niedrigen Orbit einzuleiten, während Mark einen Raumanzug anzog und die Luftschleuse verließ.

Er hatte sich kaum von der Jacht entfernt, als sein Helm mit der Aufforderung zu stoppen widerhallte. Weil er aber nicht antwortete, schickte das Sternenschiff drei Raumfahrer aus, um ihn abzufangen. Ein tödliches Katz- und Maus-Spiel folgte.

Ob durch Glück oder Können – auf jeden Fall gelang es Mark, das Stationshabitat noch vor seinen Verfolgern zu erreichen. Er landete auf der Hülle und verbarg sich im Irrgarten aus Wärmeaustauschern, Funkantennen und anderen Auswüchsen. In der Deckung dieses Dickichts strebte er einem Punkt direkt unter dem nahe gelegenen Sternenschiff entgegen. Von dort wollte er zur Magellan springen und – sobald er an Bord war – unter Berufung auf seinen Status als einziger Verwandter von Jani Antworten verlangen. In der Hoffnung, welche zu bekommen, bevor er in Handschellen abgeführt wurde.

Er erreichte die Magellan nie. Während er sich einen Weg um das Habitat herumbahnte, stieß er auf ein erleuchtetes Sichtfenster. Er versuchte das Hindernis zu umgehen, wobei sein Blick in die Kabine fiel. Was er dort sah, lenkte ihn von seinem eigentlichen Ziel ab.

Die unter ihm liegende Kabine war mit Lisa Arden besetzt. Die Stationskontrolle hatte sie mit der Meldung, dass ein Eindringling sich auf der Hülle herumtrieb, unter der warmen Dusche hervorgeholt und sie angewiesen, ihr Sichtfenster einzutrüben. Tropfnass und ohne Handtuch stieß sie sich in der Mikrogravitation durch die Kabine ab, um der Anweisung Folge zu leisten. Sie erreichte das Sichtfenster ein paar Sekunden später.

Als Mark ihrer ansichtig wurde, glaubte er eine Vision zu haben: die der Kleidung und Schwerkraft ledigen Brüste, der Schimmer der nassen Hüften. Der Anblick hätte ihn unter normalen Umständen in den Bann gezogen. Stattdessen verlor er schlagartig das Interesse an Lisa, als er ihren Begleiter erblickte.

Das Wesen war etwa anderthalb Meter groß und mit einem braunen Pelz bedeckt. Aus dem kugelförmigen Kopf ragten zwei runde Ohren, die dem Geschöpf die Anmutung einer Comicfigur verliehen.

Zuerst hielt er es für einen Affen. Doch ein Blick in diese großen gelben Augen genügte, um zu erkennen, was die Sternenforschung da verbarg.

Aus der erleuchteten Kabine schaute ein Alien zu ihm herauf, in dessen Blick sich eine genauso hohe Intelligenz spiegelte wie die von Mark.


Plötzlich wurde es dunkel um das Torpedo-Auto, als es in den Tunnel einfuhr, der sie unterm See hindurchführen würde. Es knackte in Marks Ohren, als das dahinrasende Auto die Luftsäule vor sich komprimierte wie ein Korken, der in einen Flaschenhals gedrückt wurde.

Eine halbe Minute später flutschte das Auto auf der deutschen Seite des Sees wieder aus dem Tunnel heraus. Es erklomm einen niedrigen Hügel, auf dem in akkuraten Reihen Weinstöcke angepflanzt waren. Auf dem Kamm drehten die Beschleunigungs-Pylonen dann in einer sanften Biegung nach Meersburg ein.


Kapitän Landon von der Magellan war fuchsteufelswild geworden – es war einem um seine Schwester trauernden Bruder gelungen, so tief in seinen Sicherheitsbereich einzudringen, bis er dem größten Geheimnis im Sonnensystem von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Weil man Mark aber auch nicht einsperren und für immer unter Verschluss halten konnte, tat man das Naheliegende. Man weihte ihn in die Sache ein und verpflichtete ihn dann für die gesamte Dauer der Mission.

Die Magellan hatte gerade Neu-Eden umkreist, als der Großvater aller Gravitationswellen die Hülle durchdrungen hatte. Kurz darauf entdeckten Sensoren zwei unbekannte Raumschiffe, von denen eins das andere mit Energiestrahlen beharkte. Unter Beschuss und anscheinend unfähig, das Feuer zu erwidern, suchte das passive Mitglied des Duos Zuflucht beim nahe gelegenen Planeten.

Zu der Zeit kam das Scout-Boot Nummer drei der Magellan vom Mond von Neu-Eden zurück. Die Position des Pfadfinders brachte ihn ein paar tausend Kilometer näher an die Duellanten heran als die Magellan selbst. Jani Rykand, die Pilotin des Pfadfinders, berichtete, dass auch sie die Gravitationswelle gespürt hätten, und übertrug Szenen des Kampfs, bis sie selbst in die Gefechtszone gerieten. Als das kleinere unbekannte Raumschiff sich Scout Drei schließlich auf die geringste Entfernung angenähert hatte, schoss es einen Energiestrahl gegen den Scout ab und pulverisierte im nächsten Moment das Boot und die acht armen Seelen an Bord.

Während er mit eigenen Augen ansehen musste, wie seine Besatzungsmitglieder ermordet wurden, suchte Dan Landon verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Schiff zu verteidigen, das – bis auf ein paar Jagdgewehre und leichte Maschinengewehre – unbewaffnet war. In seiner Not schickte er dem Angreifer eine interstellare Nachrichten-Sonde entgegen.

Nachrichtensonden sind Miniatur-Sternenschiffe und wie ihre größeren Brüder nicht konzipiert, tief im Schwerefeld eines Planeten zu operieren. Die Sonde verschwand also im Hyperraum und tauchte dann als expandierende Schuttwolke wieder im Normalraum auf.

Diese Wolke raste mit 60% der Lichtgeschwindigkeit frontal auf den Angreifer zu. So schnell, dass das menschliche Auge nicht zu folgen vermochte, wurde das kleinere der beiden UFOs in eine Kugel aus glühendem Plasma verwandelt, die sich gegen die Dunkelheit des Raums abhob.

Da sein Peiniger nun zerstört war, stellte das größere UFO die erratischen Flugmanöver ein und ging in den freien Fall über. Kapitän Landon schickte ihm einen seiner überlebenden Scouts hinterher. Als die Mannschaft des Pfadfinders das aufgegebene Schiff enterte, fanden sie luftlose Gänge vor, die mit den Leichen von zwei verschiedenen Arten von Aliens angefüllt waren. Und sie fanden auch noch einen einzigen Überlebenden, der eine dritte Art verkörperte. Der Überlebende hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit einem irdischen Affen.


Lisa Arden war ins Projekt involviert worden, als sie von ihrer Linguistik-Professur an der Multiversität von London zum PoleStar-Habitat abgeordnet worden war. Nachdem sie in der Polarbahn angekommen war, wurde ihr bedeutet, dass sie einen Weg finden sollte, mit dem Überlebenden ins Gespräch zu kommen.

Der Name des Überlebenden war Sar-Say, und obwohl sie eigentlich beabsichtigte, seine Sprache zu lernen, erwies er sich als ein gelehriger Schüler und lernte seinerseits Standard. Schließlich begannen sie gebrochen und mit vielen Missverständnissen zu kommunizieren. Sar-Say gab sich als Angehöriger einer Rasse namens ›Taff‹ aus. Er sagte, dass er ein Händler sei und nicht wisse, weshalb man sein Schiff überhaupt angegriffen habe. Innerhalb weniger Wochen verbesserten sich seine Sprachkenntnisse bis zu dem Punkt, wo Lisa befand, dass sie über die ›Ich Tarzan, du Jane‹-Phase hinaus waren. Zumal sie unter starkem Druck von der Erde stand, den immer dickeren Fragenkatalog zu beantworten. So geschah es, dass Sar-Say und Lisa zur ersten von vielen Befragungen zusammentrafen.

Und dann erzählte Sar-Say ihnen von den Broa.