29
Die New Hope wurde wieder von der absoluten Dunkelheit der Überlichtgeschwindigkeit umfangen, während sie zu einem außerirdischen Sternsystem in den Händen des Feindes unterwegs war. Der Stern hieß Etnarii in der Sprache der Einheimischen. Der Planet hieß Pasol, und die Bewohner waren die Ranta. In der annähernden Übersetzung bedeuteten die drei Begriffe: ›Sonne‹, ›Welt‹ und ›das Volk‹.
Das Etnarii-System beherbergte eine einzelne bewohnte Welt, die überwiegend von Landwirtschaft geprägt schien. Die Energie-Signatur der Welt machte nur ein Zehntel von Harlasanthenar aus, und ihr geringer Stellenwert im strategischen Konzept der Broa äußerte sich auch darin, dass das System nur ein einziges Sternentor besaß.
Alle wichtigen Planeten im broanischen Hoheitsgebiet hatten ein halbes Dutzend Sternentore oder mehr – sagten zumindest Sar-Say und die Strategische Planungsgruppe. Sie waren die Drehkreuze der Souveränität, die ›Straßenkreuzungen‹. Wie im Gamma-System, das selbst ein Mittelzentrum darstellte, trafen Schiffe über Sternentore ein und nahmen dann direkt Kurs auf ein anderes Tor, das sie zum nächsten Stern in der Kette bringen würde – wobei sie keinen Zwischenstopp einlegten oder mit den Spezies Kontakt aufnahmen, deren System sie gerade durchquerten.
Also hing der Himmel voller Schiffe, die ständig zwischen den Toren kreuzten. Im Gamma-System waren die Intervalle zwischen der Ankunft der Schiffe kürzer als die Zeit, die sie für den Transit zwischen den Toren Babylon, Ninive und Tyrus benötigten. Daher waren immer mehrere Sternenschiffe gleichzeitig im System, wobei jedes ein anderes Ziel verfolgte.
Im Etnarii-System gab es nur einen Eingang und Ausgang. Etnarii war eine Sackgasse. In der ganzen Zeit, wo die Delta-Expedition den Ort schon beobachtet hatte, war kein Schiff ein- oder abgeflogen. Und für über einen Monat hatten sie sich sogar gefragt, ob das System überhaupt Sternentore besaß – obwohl man eine von ihm ausgehende Gravitationswelle entdeckt hatte. Schließlich wurde das Tor durch einen gründlichen Infrarot-Scan des Himmels lokalisiert: Es hing etwa in der Orbitaldistanz zu Jupiter auf der entgegengesetzten Seite von Etnarii.
Die Ranta waren eine humanoide Spezies und den Menschen ähnlicher als die meisten hiesigen Arten. Sie hatten sich entweder direkt aus Vögeln entwickelt, oder die Pseudosäugetiere ihrer Welt waren aus einer Art Vogel mit einem flaumigen Gefieder hervorgegangen. Ihre Größe wurde auf drei Meter geschätzt – wobei solche Schätzungen nie zuverlässig waren, wenn man sich nur auf ein Videobild stützte. Ihre Leiber waren nach menschlichen Begriffen spindeldürr – sie hatten lange Storchenbeine und längliche Rümpfe, an denen zwei lange Arme mit jeweils drei Gelenken hingen.
Die Köpfe waren gefiedert, wie auch die anderen freiliegenden Körperpartien; sie trugen ponchoartige Kutten, die den Körper zum großen Teil verhüllten. Die Gesichter hatten allerdings keine Ähnlichkeit mit Vogelgesichtern. Zwei Augen waren hoch oben in einem runden Kopf platziert, was für eine gute räumliche Sicht bürgte. Die Nüstern waren zwei vertikale Schlitze, die sich im Takt der Atmung erweiterten und verengten. Die Münder waren ebenfalls vertikal ausgerichtet und zwischen den Schlitzen positioniert, was dem Gesicht eine längliche Anmutung verlieh. Die Ohren waren ausgefranst, als ob sie nach dem Vorbild eines Farnblatts modelliert worden wären, aber die inneren Windungen schienen durchaus der Form des menschlichen Ohrs zu entsprechen.
Die Deckfedern waren bunt – eine Bestätigung, dass die Ranta die Fähigkeit des Farbensehens hatten. Das Farbspiel war zum Teil so kontrastreich, dass die Alien-Soziologen es als Balzgefieder bezeichneten … wie bei den irdischen Pfauen.
Die Stimme eines Ranta drang aus der Öffnung für die Nahrungsmittelaufnahme, wie es auch bei den menschlichen Stimmen der Fall war. Mit welchem Apparat auch immer sie Töne erzeugten, er schien nicht variabler zu sein als ein menschlicher Sprechapparat. Also dürfte die Kommunikation mit ihnen auch kein Problem sein. Ihre Sprache war nicht sehr komplex; weil die Vorläufer-Expedition aber nur zwei Monate Zeit für ihr Studium gehabt hatte, waren die Experten und Computer dennoch nicht in der Lage gewesen, mehr als nur ein paar Wörter zu übertragen.
Die aufregendste Entdeckung der Delta-Expedition war jedoch, dass die broanische Sprache für die Kommunikation im System überhaupt nicht relevant war. Man interpretierte das so, dass es hier keine Residentur der broanischen Meister gab. Obwohl es dafür natürlich auch noch andere mögliche Erklärungen gab: Vielleicht war der Meister gerade im Urlaub, oder er kommunizierte nur über von Boten zugestellte Pergamentrollen, oder er war einfach nicht sehr gesprächig.
Freilich waren solche Spekulationen müßig, bis sie wirklich einen Kontakt herstellten. Im Moment schlossen sie nur aus der fehlenden broanischen Kommunikation auf die Abwesenheit von Broa im System.
Per Saldo schien das System für einen Routinebesuch durch eine Gruppe von ›Händlern‹ von einer entfernten Welt auf der anderen Seite der Souveränität bestens geeignet.
Auf Klys’kra’t hatten sie sich als Vulkanier ausgegeben – orangehäutige und blauhaarige Zweibeiner vom Planeten Shangri-La. Auf Pasol würden sie sich als Trojaner von der Handelswelt Troja einführen.
Sie würden sich auch hier wieder tarnen. Ob solche elementaren Vorsichtsmaßnahmen wirklich notwendig waren, war Gegenstand einer temperamentvollen Debatte, nachdem die Besatzung sich darauf verständigt hatte, wie ein waschechter Trojaner aussehen müsse.
»Unbehaart?«, fragte Lisa ungläubig, als Mark es ihr sagte. »Ich soll mir das schöne Haar abschneiden, dessen Pflege und Styling mein ganzer Lebensinhalt ist?«
»Nicht nur das Haar auf dem Kopf. Wir sollen uns auch die Augenbrauen zupfen, die Haare an Armen und Beinen abrasieren und sogar unser ›Du-weißt-schon-was‹-Haar.«
»Ich nehme an, diesmal sollen wir uns blau färben!«
»Getigert«, erwiderte er. »Jeder von uns wird ein individuelles Muster aus schwarzen und gelben Streifen auf einer braunen Grundierung tragen. Die Lippen werden schwarz und die Ohrläppchen rot angemalt. Das ist zwar nicht viel, aber vielleicht doch so bizarr, dass man uns nicht als die Besucher von Klys’kra’t identifiziert.«
Sie sagte für eine Weile nichts und lächelte dann schelmisch. »Ich glaube, Tiger-Streifen sind auch ganz chic, und eine Kontrolle, ob wir uns auch überall gründlich rasiert haben, könnte ebenfalls lustig werden.«
»Ich werde dich vielleicht ein paarmal kontrollieren müssen«, sagte er anzüglich.
»Dito«, antwortete sie.
Auf der Brücke der New Hope herrschte wieder eine ziemliche Anspannung, während sie sich auf den Ausbruch am Rand des Etnarii-Systems vorbereiteten. Es war sechs Stunden her, seit die vier Schiffe der Expedition sich in sicherer Entfernung vom Zielsystem gesammelt hatten. Außer der New Hope waren noch die Q-Schiffe Avenger und Allison präsent – das eine ein Typ-Sieben-Frachter, das andere ein Massengutfrachter – sowie das Fusionsschiff Chicago. Die drei anderen Schiffe sollten sich in der Oort’schen Wolke verstecken und nur im Notfall auftauchen. Dann würden, je nach Erfordernis, entweder die Q-Schiffe wie aus dem Nichts im System erscheinen, nach Pasol fliegen und ihren Kameraden beistehen, oder die Chicago würde aus der Deckung kommen und ihnen zu Hilfe eilen.
Wobei ›Hilfe‹ eventuell auch ein Bombardement des Planeten aus dem Weltall umfasste, um zu gewährleisten, dass gefangen genommene menschliche Agenten nicht nach ihrer Herkunft befragt wurden.
Die ganze Brückenbesatzung war maskiert – jeder mit einem markanten schwarz-gelben Streifenmuster, das die kahlen Köpfe, Gesichter, Hälse und Hände zierte. Das waren die einzigen Körperteile, die aus den hautengen gelben Schiffsanzügen ragten. Bei näherer Betrachtung hätte man festgestellt, dass die Querstreifen jeden Zoll der Haut bedeckten außer den Handflächen und Fußsohlen. Zwei Besatzungsmitglieder – ein Mann und eine Frau – hatten sich während der Vorbereitungen für die Maskerade geradezu als Meister der Körperbemalung erwiesen.
Die Schiffsanzüge waren menschliches Standard-Design, aber die in broanischer Schrift über der rechten Brusttasche eingestickten Namen waren imaginär. Captain Harris war Hass Vith (was Mark Rykand später mal vor lauter Aufregung vergaß), Mark selbst war Markel Sinth, und auch alle anderen trugen ähnliche Quatsch-Namen, die in keinem menschlichen Wörterbuch verzeichnet waren. In dieser Nähe zur Zielwelt waren sämtliche Anzeigen im Schiff auf die broanische Punkt-und-Schnörkel-Schrift umgestellt worden, damit die Besatzung sich daran gewöhnte. Nirgendwo in den allgemein zugänglichen Sektionen des Schiffs – in denen keine Waffen und den Broa unbekannte Maschinen versteckt waren – fand sich auch nur ein Hinweis auf den wahren Ursprung des Schiffs. Selbst die astronomischen Daten im Bordcomputer waren so modifiziert worden, dass sie ein Sol-ähnliches Sternsystem in tausend Lichtjahren Entfernung von Etnarii und in entgegengesetzter Richtung zur Heimatsonne suggerierten.
Ein paar der kreativsten Köpfe der Erde hatten jahrelang nach der besten Tarnung für die ersten Kontakt-Missionen gesucht. Viele dieser Experten waren nun in der Brinks-Basis stationiert und arbeiteten weiter daran, dass auch nicht das kleinste Detail die Existenz der Erde oder ihre Position verriet.
Nicht dass sie versucht hätten, sich als eine andere Spezies zu verkleiden. Das wäre unmöglich gewesen. Selbst wenn die Verkleidung durch Prothesen optimiert worden wäre, hätten die Bio-Scanner, die sie auf ansteckende Krankheiten untersuchten, diese ›Anbauteile‹ als eindeutig synthetisch entlarvt. Das hätte die Neugier der Prüfer geweckt. Ein paar Körper-Modifikationen hätte man wohl noch mit modischen Gimmicks zu erklären vermocht, aber es hätte bei den Aliens dennoch kritische Fragen aufgeworfen.
Also waren sie trotz der Enthaarung und der bunten Bemalung immer noch Menschen. Die Verkleidung sollte den Feind verwirren; allerdings auch nicht in dem Maß, dass sich die Frage aufdrängte, weshalb die Besucher überhaupt maskiert waren.
Die andere Expedition, die ebenfalls von der Brinks-Basis entsendet worden war, hatte sich auch verkleidet – aber anders. Wenn zwei Trojaner gleichzeitig in zwei verschiedenen Systemen auftauchten, würde das vielleicht nachträglich Verdacht erregen. Der Plan sah also vor, sich wie Phantome anzuschleichen, den Auftrag auszuführen und sofort wieder zu verschwinden.
Leider bestand ein Risiko, von dem man bisher noch nicht wusste, wie man es ausschalten sollte. Jedes Schiff, das durch ein Sternentor ins Etnarii-System einflog, erzeugte eine Gravitationswelle. Beim Sternenantrieb war das aber nicht der Fall. Die einzige Möglichkeit, eine Ankunftswelle zu erzeugen, bestand also darin, das System zu ermitteln, zu dem das Etnarii-Tor führte, mit Überlichtgeschwindigkeit in dieses System zu reisen und von dort wieder nach Etnarii zu springen, als wären sie ein regulärer broanischer Verkehrsteilnehmer.
Vor Klys’kra’t hatten sie darauf gewartet, dass ein broanisches Schiff durch das Tor in ein anderes System sprang, um sich an das Schiff dranzuhängen. Die Prämisse war, dass der Beobachter der Gravitationswellen vielleicht übersah, dass zwei Schiffe eine einzige Welle verursacht hatten.
Falls sie irgendwelche Sternenschiffe im Etnarii-System bemerkten, würden sie den gleichen Trick noch einmal versuchen; vorausgesetzt, sie vermochten sich rechtzeitig in Position zu bringen. Und wenn das System leer war, würden sie einfach reingehen und es darauf ankommen lassen müssen.
»Alle Mann – Ausbruch beendet!«, ertönte Marks Durchsage im ganzen Schiff. Seine Worte hallten ihm selbst in den Ohren, sodass er auf dem Boden eines Brunnens zu stehen schien.
»Wo sind wir, Astrogator?«, fragte Captain Harris.
»Im Zentrum der Oort’schen Wolke, Sir. Genau dort, wo wir hin wollten.«
»Irgendwelche Trümmer in Gefahrenreichweite?«
»Wir überprüfen das gerade, Sir«, erwiderte Emily Sopwell, die Sensoren-Bedienerin. Sie tastete den umgebenden Raum mit dem Kommunikationslaser ab, wobei sie darauf achtete, dass er nicht die Peripherie des Planeten beziehungsweise des Sterns bestrich.
Diesmal waren sie in einer Tangentialbewegung zu Etnarii aus dem Überlichtbereich gefallen, sodass sie den vor ihnen liegenden Raumsektor nun in der Gewissheit zu sondieren vermochten, dass man ihre Anwesenheit nicht bemerken würde.
Eine halbe Stunde nach dem Ausbruch meldete Ensign Sopwell: »Ich habe eine Laserboje, Captain. Es ist die Chicago .«
»Wie weit noch?«, fragte der Kapitän.
»Ich würde sagen, sechs Millionen Kilometer, Sir.«
»Nicht schlecht, wenn man bedenkt, wie weit wir seit dem Rendezvous gekommen sind«, sagte Harris mehr zu sich selbst. »Astrogator, stecken Sie einen Kurs zum Treffpunkt ab.«
»Aye, aye, Sir.«
In diesem Fall würden sie die nötigen Kurskorrekturen vornehmen, um zum großen Fusionsschiff aufzuschließen. Sie hatten von der Flotte den Befehl erhalten, sich nach dem Ausbruch sofort bei der Chicago zu sammeln, und das würden sie nun auch ausführen.
Zwei Tage später gingen sie am riesigen Zylinder längsseits. Er war mit Geschütztürmen, Laserwaffen und Teilchenbeschleunigern übersät. Um den Umfang des Schiffs zog sich ein Ring aus Halbkugeln – die Silos mit den startbereiten Überlicht-Raketen.
Etwa hunderttausend Kilometer hinter der Chicago standen zwei weitere Laserbojen. Die Rächer und die Allison nahmen ebenfalls Kurs auf den Treffpunkt.
»Captain Styles hat Ihnen eine Nachricht geschickt, Captain«, meldete der Offizier von der Wache. Styles war der Kommandant der Chicago.
»Lesen Sie sie vor.«
»Er lässt Sie grüßen, Sir. Er bittet Sie und die Bodentruppe zum Essen und einer Einsatz-Vorbesprechung an Bord des Fusionsschiffs.«
»Und wann?«
»19:00 Uhr, Sir.«
»Geben Sie ihm Bescheid, dass wir kommen werden.«