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In Erdscheins Bunker blieb alles ruhig. Als die schlimme Nachricht vom Himmel die Bildschirme füllte, arbeitete das Personal weiter an seinen Überwachungsgeräten und Tafeln, zeichnete auf und analysierte. Sir Michael King, der mit seinem Stock steifbeinig herumwanderte, ging zu den einzelnen Mitarbeitern und versicherte ihnen, dass sie gern eine Pause machen und Kontakt zu Angehörigen an der Oberfläche aufnehmen dürften, wenn sie wollten. Die meisten von ihnen blieben, wo sie waren, als könnten sie den größeren Horror irgendwie in Schach halten, indem sie mit ihrer Arbeit fortfuhren und sich an die Routine klammerten.

Nun zeigten die Bildschirme einen dunkler und dicker werdenden Smog, der den unerträglich grell leuchtenden Himmel verbarg.

King stürmte in Erdscheins Allerheiligstes. »Und wie geht es jetzt weiter? Wir hatten den Blitz – was kommt als Nächstes?«

»Massereiche Teilchen«, sagte Erdschein – oder zumindest die halbtransparente Partialversion, die der Primär bei seiner Flucht auf die Tatania zurückgelassen hatte. »Die Ozonschicht ist nicht mehr vorhanden. Die Erdoberfläche wird von ultravioletten Strahlen und Gammastrahlen gepeitscht. Grundlegende zellulare Funktionen des Lebens nehmen Schaden.« Die Projektion schaute nachdenklich drein. »Menschen werden gekocht. Tiere auch. Und jetzt kommt der kosmische Strahlensturm. Das wissen wir von den letzten noch funktionsfähigen Satelliten, die durch den Erdschatten vor dem Blitz geschützt waren. Die hochenergetischen Partikel werden Atmosphärenmoleküle wie Sauerstoff und Stickstoff zertrümmern und Stickstoffdioxid bilden. Ein Teil davon verbindet sich dann mit Wasser zu Salpetersäure – saurem Regen –, während der Rest in der Luft bleibt, um das Sonnenlicht zu blockieren, das …«

»Es ist ein Aussterbeereignis«, hauchte King.

»In der Tat. Als ob im Herzen des Sonnensystems eine Gammastrahlenexplosion stattgefunden hätte.«

»Und die Menschen?«

»Der Blitz wird die unmittelbarste Wirkung haben. Bald wird auch die Strahlung ihr Werk tun; diverse Krebserkrankungen werden die meisten Überlebenden der vorläufigen Bestandsregulierung dahinraffen.«

»Bestandsregulierung? Was ist das denn für ein beschissenes Wort? Und ihr, ihr Mistkerle? Ihr Kern-KIs?«

»Oh, wir werden in unseren tief unter der Erde verborgenen Schutzräumen überleben. Ich jedenfalls – in meinem zentralen Bunker, mit diesem Speicher als primärem Back-up und dem Partial, das ich mit Penny Kalinski in den Weltraum geschickt habe, als sekundärem.«

»Und dann?«

Erdschein zuckte die Achseln. »Irgendwann wird eine neue Sphäre des Lebens die Erde bevölkern. Vielleicht werden wir einen gewissen Einfluss auf die Zukunft haben. Ich selbst natürlich nicht. Ich bin ja geflohen …«

»Ich hätte große Lust, dir wehzutun.«

»Es ist nicht meine Schuld. Wir haben versucht, mithilfe des Weltenrats Frieden zu schaffen. Aber ich verstehe Ihre Gefühle.«

»Wessen Schuld ist es dann? Unsere? Die der Chinesen?«

»Vielleicht weder noch. Einige Berichte sind darüber aufgetaucht, wie all das angefangen hat – auf dem Mars, auf Ceres. Allerdings bezweifle ich, dass irgendwelche Historiker überleben werden, die die Abläufe umfassend rekonstruieren könnten. Ich lade so viel wie möglich in meine Partial-Zwillinge im tiefen Speicher und auf der Tatania hoch …«

»Irgendein Mistkerl hat auf den Abzug gedrückt, stimmt’s? Darauf läuft es doch letztlich hinaus. Ohne die paar Minuten abzuwarten, die es gedauert hätte, um eine Bestätigung von der Erde zu bekommen. Herrgott. Davor hat man im ersten Kalten Krieg immer Angst gehabt, weißt du. Dass der Kommandant eines Atom-U-Boots, ohne Kontakt zu seiner Regierung, die Sache selbst in die Hand nehmen würde.«

»Aber wir wissen noch immer nicht genau, was anschließend geschehen ist. Es hat fragmentarische Meldungen über Meutereien gefangener UN-Besatzungsmitglieder auf dem Nagel gegeben – und über Gegenmeutereien der Chinesen, noch während er auf den Merkur zustürzte. Am Ende hatte vielleicht niemand mehr die Kontrolle; kurz vor dem Einschlag war der Nagel selbst ein Kriegsgebiet. Niemand war mehr in der Lage, ihn abzulenken, selbst wenn ein entsprechender Befehl gekommen wäre. Wie angemessen, dass das Ende auf diese Weise kommt. Ein Krieg, den niemand wollte und von dem man glaubte, er ließe sich durch Sentimentalität eindämmen. Ein Krieg, der nicht von einem einzelnen Befehl ausgelöst wurde, sondern von Dummheit, Arroganz und mangelhafter Kommunikation.«

Seine Stimme klang ausdruckslos, und in seinen Worten lag kein Werturteil, dachte King; dank fehlender Verarbeitungskapazität und mangelnder Auflösung hatte er ein glattes Gesicht, wirkte statisch und wenig überzeugend.

Plötzlich erkannte King, dass er allein in diesem Raum war. Ganz allein. Er sprach mit niemandem. Er ging zur Tür. »Herrgott, ich brauche einen Drink.«