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An Angelias letztem Abend in der Menschenwelt umsorgte Dr. Kalinski sie liebevoll. So empfand sie es jedenfalls, wenn sie später daran zurückdachte.

Noch in Gestalt ihres schweren humanoiden Körpers, wurde sie zu einer Dinner-Party mit Dr. Kalinski, seiner Tochter Stef und Mitgliedern des Kontrollteams eingeladen, die sich während ihres zehnjährigen Fluges nach Proxima um sie kümmern würden: Leute wie Bob Develin und Monica Trant, kompetente Zwanzig- oder Dreißigjährige, allesamt Mitarbeiter staatlicher Weltraumbehörden, die nun in einer globalen UN-Organisation aufgegangen waren, der sich nur die Chinesen, ihre Verbundpartner und ein paar Sonderfälle wie Nordbritannien nicht angeschlossen hatten. »Nur«: Tatsächlich wurde die interplanetarische Raumfahrt zum großen Teil von dem neuen chinesischen Imperium dominiert. Sie unterhielten sich offen und locker, behandelten Angelia wie ein Mitglied der Crew, wie ein menschliches Wesen, taten manchmal sogar so, als wäre sie gar nicht da, was ihr paradoxerweise das Gefühl gab, noch willkommener und stärker einbezogen zu sein.

Sie erfuhr jedoch mehr über ihre Sorgen bezüglich der Mission, als Dr. Kalinski ihr zuvor erzählt hatte. Dass diese angesichts der Kernel-Entwicklungen der UEI schon vor dem Start in technologischer Hinsicht überholt sein könnte. Dass sie politisch in höheren UN-Kreisen nicht sehr populär war: Ihr haftete der Geruch der Heldengeneration an, deren Projekte vom massiven, verschwenderischen Einsatz von Technik geprägt und mit KIs von einer später rückwirkend für illegal erklärten Qualität des Empfindungsvermögens ausgestattet gewesen waren. Schließlich war Dr. Kalinski im Kielwasser dieser Generation und ihrer gewaltigen Werke aufgewachsen; vielleicht, so munkelte man, war er von ihnen beeinflusst.

Dr. Kalinski hatte sein Bestes getan, um sein Projekt gegen diese Kritik abzuschirmen. Ja, er hatte Ausrüstung in großem Maßstab benötigt, doch obwohl er ein Solarkraftwerk wiederverwendet hatte, an sich schon ein verhasstes Relikt des vergangenen heroischen Zeitalters mit seinen überheblichen, planetenumspannenden technischen Projekten, würden die von ihm eingesetzten Energien um Größenordnungen geringer sein als jene, die Dexter Cole nach Proxima geschleudert hatten. Was den Gewinn betraf, so verzichtete Dr. Kalinski auf jedwede finanzielle Belohnung außer dem Gehalt, das er von den akademischen Institutionen bezog, in deren Diensten er stand. Sämtliche patentierbaren Technologien würden diesen Institutionen gehören und von ihnen im Interesse der von den Vereinten Nationen regierten Steuerzahler, die sie finanzierten, ausgewertet werden. Und ja, Angelia war eine hoch entwickelte, empfindungsfähige KI; ohne intelligente Technologie an Bord konnte die Mission nicht erfolgreich durchgeführt werden. Sie war leidensfähig – das war der Preis der Empfindungsfähigkeit. Aber die Mission sei bestrebt, sie am Leben zu erhalten, sagte Dr. Kalinski; man werde sie lebendig und gesund nach Proxima Centauri bringen. Sie solle in Ehren gehalten und nicht misshandelt werden.

Aber die Mitglieder des Teams blieben vage, wenn sie Details erörterten, und Dr. Kalinski schaute Angelia nicht in die Augen – ebenso wenig wie der elfjährigen Stef, bemerkte Angelia. Offenbar gab es bestimmte Aspekte der Mission, über die man ihr und Stef nicht alles erzählt hatte.

Trotz solcher Spannungen war es ein wunderbarer, warmer letzter Abend für Angelia, an dem sie sich in der Runde bestens aufgehoben fühlte. Und als die Dinner-Party sich schließlich auflöste, kam Stef Kalinski zu ihr und nahm ihre Hand.

»Tut mir leid, wenn ich gemein zu dir war«, sagte Stef.

»Das warst du nicht.«

»Es ist halt ein bisschen schwierig für mich. Meine Mutter ist gestorben, sie war Französin …«

»Ich weiß.«

»Danach hatte ich Dad in Seattle ganz für mich allein. Und dann bist du aufgetaucht. Es ist, als …«

»Ja?«

»Als hätte ich plötzlich eine große Schwester.« Sie verzog ihr kleines Gesicht, während sie angestrengt nachdachte. »Als müsste ich meine ganze geschwisterliche Rivalität auf einen Schlag austragen.«

Angelia lachte. »Du bist sehr scharfsinnig. Und sehr selbstkritisch. Ich war nicht gekränkt. Ich bin froh, dass ich die Chance hatte, dich kennenzulernen.«

»Ja. Geht mir genauso.«

»Beneidest du mich um meine Reise, um das Abenteuer, das ich erleben werde?« Es war eine Reaktion, die sie bei mehreren Angehörigen des Bodenteams beobachtet hatte – zum Beispiel bei Bob Develin, einem Dreißigjährigen aus Florida, der einen großen Teil seiner Jugend als Helfer bei der Unterwasser-Archäologie des überschwemmten Cape Canaveral verbracht und vom Weltraum geträumt hatte.

Aber Stef schüttelte den Kopf. »O nein. Die Kernels – die will ich studieren, selbst wenn es in Dads Augen Betrug oder so was ist, sie zu benutzen.«

»Willst du nicht zu den Sternen fliegen?«

»Wozu? Sterne sind leicht zu verstehen …«

Vielleicht. Doch als Stef sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihre synthetische Schwester auf die Wange aus programmierbarer Materie zu küssen, fragte sich Angelia, ob selbst ein Kernel so kompliziert sein konnte wie ein elfjähriges Mädchen.

Das war das Ende des Abends. Dr. Kalinski brachte Angelia zu ihrem Zimmer, einem echten Raum für Menschen mit einem richtigen Bett und einem Wandspiegel und so weiter. Er strich ihr über die künstlichen Haare und sagte Gute Nacht. Sie legte sich voll bekleidet aufs Bett und ging in den Schlafmodus.

Als sie aufwachte, war sie im Weltraum, festgenagelt vom Sonnenlicht.