57

Mardina fasste Beth und Yuri an der Hand und zog sie weg. »Zurück«, sagte sie. »Du auch, KolE.« Tollemache schenkte sie keinerlei Beachtung, aber Yuri sah, dass der Friedenshüter ebenfalls zurücktrat; dabei hielt er sein Sensorpaket auf die Luke gerichtet.

Und dann, mit einem noch tieferen Erbeben in der Erde, öffnete sich die Luke. Der Deckel klappte langsam und schwerfällig hoch, als wäre er links von Yuri mit einem Scharnier befestigt. Die Erbauer, offensichtlich lebendige Schlüssel im multiplen Schloss der Luke, rührten sich nicht; irgendwie wurden sie an Ort und Stelle gehalten, sodass sie auch nicht herunterfielen, als der Lukendeckel die Senkrechte erreichte. Er versperrte Yuri den Blick auf das, was darunter lag, aber Yuri sah, dass Licht herausströmte, ein bleicher, perlmuttfarbener Schein, der die Zweige der Bäume in der Nähe von unten beleuchtete. Und er spürte einen Schwall kälterer Luft, der aus der Luke kam.

Irgendwo flatterte ein erschrockener Drachen auf.

Als der Lukendeckel senkrecht stand, hörte er auf, sich zu bewegen. Es war eine riesige, offenkundig massive Scheibe, die auf ihrem Rand stand, mit einem unsichtbaren Scharnier befestigt.

Tollemache, der sein Aufzeichnungsgerät vor sich hielt wie eine Waffe, trat als Erster vor. Das strahlende Licht aus dem Boden beschien sein Gesicht und seine Hängebacken von unten. »Heilige Scheiße«, sagte er. »Kommt her und schaut euch das an. Aber seid vorsichtig.«

Die anderen gingen um den offenen Deckel herum. Beth runzelte die Stirn. »Vorsichtig? Weshalb?«

»Damit ihr nicht reinfallt.«

Irgendwie war Yuri ganz und gar nicht überrascht, als er sah, dass sich unter der offenen Luke eine Grube befand, ein schlichter Zylinder mit schmucklosen Wänden und ebenem Boden, vielleicht vier Meter tief. Das Licht kam aus keiner bestimmten Quelle; vielmehr leuchteten die Wände und der Boden allesamt in diesem grauweißen Licht. Ein Teil der Wand wurde allem Anschein nach von einer weiteren Luke unterbrochen, einer feinen, kreisrunden Rille mit einem Satz Furchenschlösser, diesmal für drei Erbauer. An der Wand gegenüber hing ein Schmuckgegenstand; er sah aus wie ein Wandteppich aus Stängelrindenstoff.

Und es überraschte ihn auch nicht, dass drei der Erbauer nun aus ihren Furchen auf dem Lukendeckel hüpften und in die Grube kletterten, wobei sie irgendwie an den nackten Wänden Halt fanden. Als sie unten waren, begannen sie, auf dem Boden freudig herumzukreiseln.

Die KolE streckte vorsichtig ihr Sensorpaket aus. Die vier Menschen spähten hinab. Licht fiel von unten auf ihre Gesichter.

»Dann ist es also real«, sagte Mardina. »Ich meine, es ist ein echtes Loch im Boden, kein optischer Trick. Schließlich sind die Erbauer ja reingeklettert.«

»Unmöglich«, erklärte die KolE rundheraus. »Meine geophysikalischen Untersuchungsergebnisse waren schlüssig. Dort ist kein Loch. Dort kann keins sein.«

»Trotzdem ist es da«, sagte Yuri.

»Vielleicht habe ich nicht fest genug aufgestampft«, meinte Beth spitzbübisch.

»Nein, daran liegt es nicht. Meine Analyse …«

»Ich nehme dich bloß auf den Arm!«

Yuri schmunzelte. »Wird gar nicht so leicht sein, da wieder herauszuklettern.«

»Ich habe eine Leiter im Rover.« Tollemache ging sie holen.

»Moment mal«, sagte Mardina. »Moment. Wieder herauszuklettern? Habt ihr ernsthaft vor, da hinunterzusteigen? In dieses unmögliche Loch?«

Beth sah ihre Mutter an. »Klar. Was sonst?«

»Es sollte einigermaßen ungefährlich sein«, erklärte die KolE.

Mardina drehte sich zu ihr um. »Was? Wie bitte? Ist das dein Ernst? Wie kannst du so was überhaupt sagen?«

Die KolE blieb ruhig. »Offensichtlich haben wir es hier mit einer Verzerrung von Raum und Zeit zu tun. Vielleicht gibt es irgendeine Maschinerie in der Öffnung der Grube – irgendwelche exotische Materie, oder eine riesige Gravitationsmaschine. Aber die Erbauer sind heil hinuntergekommen. Falls es Gefahren gibt, Gezeiteneffekte vielleicht, sind sie anscheinend nicht besonders stark …«

»Geben Sie mir die Leiter.« Beth nahm sie Tollemache ab und ließ sie ins Loch hinab. Die Leiter passierte die Lukenöffnung genauso problemlos wie zuvor die Erbauer, bemerkte Yuri. Dann kletterte Beth hinunter.

Tollemache beobachtete sie bewundernd. »Es wird mir ewig ein Rätsel sein«, sagte er leise zu Yuri, »wie etwas so Erbärmliches wie du, Eisjunge, etwas so Geiles wie das da hervorbringen konnte.«

»Fick dich«, sagte Mardina schlicht. Ihre Stimme war angespannt vor Nervosität.

Auf dem Boden der Grube stieg Beth von der Leiter, schaute nach oben, breitete die Arme aus und drehte sich um die eigene Achse. Die Erbauer kreiselten um sie herum; ihre Stängelgliedmaßen machten leise Kratzgeräusche auf den glatten Flächen. »Schaut mich an«, rief Beth. »Nicht mal ein krummes Haar. Kommt ihr nun runter oder nicht?«

Mardina blieb auf der Hut. Sie ließ ihre Tochter zuerst wieder herausklettern, nur um sicherzugehen, dass es möglich war, dass sie es nicht mit einer Falle zu tun hatten.

Dann folgte Tollemache Beth als Erster in die Grube. »Ich bin der Nächste. Das lasse ich mir auf gar keinen Fall entgehen.« Er achtete darauf, dass seine Kamera gut aufzeichnen konnte, wie er die Leiter hinabstieg. »Genau wie Dexter Cole. Ein kleiner Schritt für einen Menschen, wie er gesagt hat. Oder war das Cao Xi auf dem Mars?«

Beth prustete verächtlich in seine Kamera.

Mardina und Yuri wechselten einen Blick. »Ich gehe«, sagte Yuri. »Du wartest.«

»Kommt gar nicht infrage. Ich bleibe bei Beth.«

»Und ohne mich geht ihr beiden nirgendwo hin.«

»Wir können nicht beide gehen. Jemand sollte hier oben bleiben, falls …«

»Ich kann Hilfe holen, wenn es Probleme gibt«, sagte die KolE ernst. »Vielleicht kann ich sogar den Deckel blockieren, falls er herunterklappt. Dies ist ein Menschheitsabenteuer, Mardina Jones, Yuri Eden. Vielleicht sind die Menschen in gewissem Sinn deshalb zu dieser Welt gekommen.«

Mardina zog die Stirn kraus. »Was willst du damit sagen? Ach, zur Hölle damit.« Sie stieg die Leiter hinunter.

Yuri tätschelte den ramponierten Rumpf der KolE. »Bis später, Kumpel.«

Er spürte nichts, als er seinerseits in die Grube hinabstieg und von der Welt des Realen ins Reich des Unmöglichen überging. Kein Ziehen, keine Gezeiteneffekte, keine Wahrnehmungsverschiebung.

Als er unten ankam, befand er sich einfach nur in einem Loch mit glatten Wänden, zusammen mit den drei anderen. Sie sahen sich an, dann schauten sie sich um. Es gab genug Platz für sie alle wie auch für die kreiselnden, herumflitzenden Erbauer. Hoch oben sah Yuri den bewölkten Himmel von Per Arduas Substellarpunkt mit einem Kranz von Laubwerk, außerdem die Sensorkapsel der KolE, die über sie gehalten wurde, sie still beobachtete und alles aufzeichnete.

Mardina strich mit den Händen über die Wand. Im schimmernden Licht zeichneten sich die Knochen unter der Haut als Schatten ab. »Sie fühlt sich glatt an. Reibungsarm.«

Beth inspizierte den Wandteppich. »Sieht aus, als wäre er mit Stängelmark angeklebt.«

Yuri, Mardina und Beth blieben zusammen vor dem Objekt stehen. Vielleicht einen halben Meter im Quadrat, bestand es aus einem fein gewobenen Stängelrindenstoff und war auf einen Rahmen aus vier schlanken Stängeln gespannt, die von der Größe her einmal Erbauer-Gliedmaßen gewesen sein mochten. Es zeigte eine Scheibe aus dünnen braunen und blaugrauen Farbschichten, die vor einem wässrig-blauen Himmel hing, alles mit irgendwelchen Pigmenten aufgemalt. Bei genauerem Hinschauen entdeckte man eine große Zahl von Details, einen pelzigen Besatz am äußeren Rand des Kreises, einen kompakten grauen Nabel genau in der Mitte und feine blaue Fäden, die die Scheibe kreuz und quer überzogen und sich an dichten Knotenpunkten verbanden. Die Fäden erinnerten Yuri an ein Schaubild von Großkreis-Flugrouten.

»Es ist eine Karte, nicht wahr?«, fragte Beth. »Genau das, wonach es aussieht.«

Yuri zuckte die Achseln. »Was soll es sonst sein?«

»Eine Karte der ganzen Welt«, sagte Mardina verwundert. »So wie wir sie zeichnen würden. Die Welt, aus dem All gesehen, von Proxima aus. Das da in der Mitte ist der Substellarpunkt. Dort ist der Randwald. Schaut euch diese große Bucht an, die in den Hauptkontinent einschneidet – im Westen? Diese Karte ist das Werk von Erbauern.«

Yuri zögerte. »Ich habe noch nie gesehen, dass ein Erbauer eine Karte angefertigt hat. Aber sie kennen sich in der Landschaft aus, das wissen wir.«

Beth schien die Erbauer verteidigen zu wollen. »Die KolE scheint zu denken, dass sie das alles hier gebaut haben.«

»Hmm«, machte Mardina. »Aber diese Karte ist viel primitiver. Und sie klebt bloß an der Wand.«

Yuri nickte. »Die Erbauer haben also früher einmal Hightech-Anlagen wie diese geschaffen, mit Radioaktivität und schweren Elementen und anderem Scheiß. Später konnten sie dann nur noch eine Karte anfertigen und sie an die Wand kleben. Und jetzt können sie nur noch herumwirbeln und den Schlamm fernhalten – wenn wir es ihnen erlauben.«

Beth schaute beunruhigt drein. »Was hat das alles zu bedeuten, Dad?«

»Ich habe nicht den blassesten Schimmer, Süße.«

»Ich möchte wissen, wie alt sie ist«, sagte Mardina. »Die Karte. Wenn sie akkurat genug gezeichnet ist, könnten wir’s vielleicht anhand der Kontinentaldrift oder so erkennen.«

»Es dauert Jahrmillionen, bis man da einen Unterschied sieht. So alt kann sie nicht sein … oder?«

Mardina hob die Schultern. »Die einzigen Überreste einer hoch entwickelten industriellen Anlage, die die KolE da draußen gefunden hat, waren ein paar Bröckchen verunreinigten Erdreichs. Bis etwa ein Fusionsreaktor so weit zerfällt, würde es schon sehr lange dauern.«

Beth fuhr das Gewirr der Linien nach, das die Weltkarte überlagerte. »Was ist das?«

»Vielleicht Kanäle«, meinte Yuri. »Per Ardua sieht damit so ähnlich aus, wie man sich früher den Mars vorgestellt hat.«

Keiner von ihnen wusste, wovon er redete. Das war vor ihrer Zeit gewesen.

»Die Erbauer bauen keine Kanäle«, sagte Mardina.

»Jedenfalls haben wir keine gesehen. Aber sie betreiben viel Wasserwirtschaft. Sie verlegen Seen.«

»Nichts in dieser Größenordnung. Einige dieser Kanäle durchqueren ja sogar das Herz des Kontinents – sie müssen durchs Grundgestein geführt worden sein. Falls sie wirklich jemals existiert hätten, gäbe es noch Spuren von ihnen, selbst wenn auf dieser Seite der Welt mehrere Eiszeiten gekommen und gegangen wären. In der Ad Astra haben wir von der Umlaufbahn aus ein paar Vermessungen vorgenommen. Kanäle hätten wir entdeckt. Und auf dem Boden sind wir weit gegangen. Wir hätten die Dinger bemerkt, wir hätten sie ja überqueren müssen.«

»Dann ist die Karte falsch.«

»Oder vielleicht ist die Karte richtig«, sagte Beth. »Und die Welt ist falsch.«

Yuri starrte sie an. »Das ergibt keinen Sinn. Oder?«

»Euch entgeht hier noch etwas«, rief Tollemache.

Sie schauten zu ihm hinüber. Die drei Erbauer waren die reibungsarmen Wände hinaufgetanzt und ließen sich gerade in den drei gefurchten »Schlüssel«-Betten in der Wandluke nieder.

»Die zweite Luke«, sagte Yuri. »Verdammt. Habe ich ganz vergessen. Und die Erbauer werden sie gleich öffnen. Das ist jetzt noch so einer von diesen Entscheidungspunkten. Machen wir weiter, oder kehren wir um?«

»Ich bin zur Astronautin ausgebildet worden«, sagte Mardina angespannt. »Und eines, was uns gründlich eingetrichtert wurde, war, dass man Luken nicht einfach aufmacht, bloß weil sie da sind.«

»Na ja, aber wir sind hier nicht im Weltraum, Mom«, erwiderte Beth.

Die drei Erbauer nahmen ihre Positionen ein.

»Letzte Chance wegzulaufen«, sagte Tollemache.

Keiner von ihnen rührte sich. Die Entscheidung traf sich selbst. Mardina nahm Yuris und Beths Hände. Tollemache schien sich zu wappnen.

Mit einem leisen Seufzen schwang die Wandluke auf und nahm die mit ausgestreckten Gliedmaßen daliegenden Erbauer mit.