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Die UEI-Konzernzentrale am Stadtrand von Solstice wirkte von außen verhältnismäßig bescheiden, schlichte Glasbaustein-Architektur, nach Süden zur tief stehenden Sonne ausgerichtet. Nachdem Stef jedoch ins Innere des Gebäudes geleitet worden war, sah sie unterirdische Erweiterungsbauten; prächtige Treppenhäuser wie aus der Titanic führten zu weitläufigen unterirdischen Hallen hinab.

Sir Michael Kings Büro lag allerdings über der Erde, irgendwo nahe beim Zentrum des Komplexes. Es war ein schöner, heller Tag, und die Büros mit ihren Glaswänden wurden vom schräg einfallenden Licht der arktischen Sonne erfüllt. Ein Assistent brachte Stef zu einem großen, luftigen Raum, in dessen Zentrum ein einzelner Schreibtisch mit Blick auf einen Teich stand, eine spiegelglatte Fläche, die das klare blaue Licht des Himmels zurückwarf. King persönlich saß hinter dem Schreibtisch, stellte sie fest, als sie näher kam. Er war jetzt Ende fünfzig, korpulent, mit dichtem, schneeweißem Haar – berühmt und unverwechselbar. Seitlich von ihm saß ein anderer Mann scheinbar entspannt auf einem Stuhl, eine hochgewachsene, schlanke, unauffällige Gestalt. Sie hatten beide Getränke vor sich stehen.

Auf dem Weg zum Schreibtisch führte sie der Assistent über einen Ozean aus dickem blauem Velours-Teppichboden mit dem UEI-Logo. Stef folgte ihm mit steifen Schritten, bemüht, den Druck der Schwerkraft und die Müdigkeit zu verbergen. Es half nicht, dass sie den zentralen Teich umrunden musste. In seinem klaren Wasser schwammen Fische, sah sie im Vorbeigehen, große Karpfen, wie es schien, geschmeidige goldene Geschöpfe, die unablässig ihre Kreise zogen. Außer ihnen war nichts im Teich, keine Farnwedel, kein Schilf. Sie waren wie eine virtuelle Abstraktion, dachte Stef.

Beide Männer erhoben sich, als sie näher kam, der Besucher mit geschmeidiger, ein wenig unnatürlicher Anmut, Michael King schwerfällig, die Hände auf der Tischplatte. Sie sah, dass er einen Kilt trug. Der Assistent blieb schweigend und diskret neben ihr stehen.

»Major Kalinski«, sagte King. Er streckte ihr die Hand hin, und sie schüttelte sie.

»Schön, Sie wiederzusehen, Sir Michael.«

»Zum Teufel, nennen Sie mich einfach Michael. Alle bringen meine Titel durcheinander, seit King Harold mich zum Than ernannt hat. Wissen Sie, ich bin eine von nur drei Personen, die sowohl vom König von Angleterre in Versailles als auch von King Harold von Nordbritannien in den Ritterstand erhoben worden sind. Ich, ein Aussie! Aber schließlich beanspruchen beide, Staatsoberhaupt dessen zu sein, was von Australien noch übrig ist … Ach, übrigens, gefällt Ihnen der Kilt? Den habe ich zu meiner Amtseinsetzung in Edinburgh getragen. Bin sehr froh, dass Sie gekommen sind. Ich habe noch einen weiteren Besucher, wie Sie sehen.« Er musterte sie jetzt eingehend, als wäre er gespannt auf ihre Reaktion. »Major Kalinski, darf ich Sie mit Erdschein bekannt machen.«

Erdschein.

Stef, schockiert von der unerwarteten Vorstellung, streckte eine Hand aus, zog sie dann aber verwirrt zurück. »Verzeihung.«

Der Erdschein-Avatar lächelte sie an. Hochgewachsen, solide, mit dezentem Anzug und kragenlosem Hemd, wirkte er wie ein gut aussehender fünfzigjähriger Angehöriger der politischen Klasse. Am Revers trug er eine seltsame Brosche, eine Scheibe aus Granit, in die konzentrische Furchen mit einem einzelnen Schrägstrich im Zentrum graviert waren. Er sprach mit einem sanften britischen Akzent. »Bitte entschuldigen Sie sich nicht.« Er streckte beide Hände zum Schreibtisch aus und nahm sein Glas – aber seine Finger gingen durch Kings Tumbler, wo sie sich für kurze Zeit in eine flimmernde Pixelwolke auflösten. »Manchmal benutze ich Androiden-Gestalten aus programmierbarer Materie, aber ich ziehe die holografische Form bei Weitem vor, wenn die Bandbreite ausreicht. Natürlich hängt alles von den Umständen ab.«

Stef bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Also hatten die Spaßvögel in Verne recht gehabt, mehr als sie ahnten. Ihr wurde klar, dass sie keine Ahnung hatte, welche labyrinthischen Denkprozesse hinter dieser Fassade des lächelnden Politikers abliefen. Warum war Erdschein hier? Warum war sie hier?

»Wie Sie gerade gesehen haben, Major, ist Erdschein in Wirklichkeit gar nicht hier bei uns«, sagte King. »Sofern er überhaupt irgendwo ist, befindet er sich in einem gewaltigen Computer-Komplex unter Fort Chipewyan, mitten im Herzen des Kanadischen Schildes – ein geologisch so stabiler Standort, wie man ihn nur finden kann. Geschützt in seinem Bunker, wo er sich von der Erdwärme ernährt, während Schichten von Replikatoren aus dem Rohgestein neue Komponenten für ihn bauen. Und mit zahlreichen Back-ups überall auf dem Kontinent …«

»Wohingegen Sie, Michael, hier ein so bescheidenes Leben führen in Ihrem gläsernen Versailles.«

King lachte ungezwungen. »Ich bin ja auch kein Silizium-Halbgott wie du. Aber ein Händler, und ich muss die Kunden und Investoren beeindrucken. Setzen Sie sich, alle beide, bitte. Übrigens, gefallen Ihnen die Fische, Major Kalinski?«

»Sind sie künstlich? Irgendwelche Roboter …«

»Nein, nein. Aber sie sind gentechnisch manipuliert, sodass sie Fotosynthese betreiben. Sie brauchen nichts als Licht und irgendwelche aufgelösten Nährstoffe im Wasser. Eine neue Initiative der UEI, Fotosynthese betreibende Tiere, eine neue Möglichkeit, das Sonnenlicht noch effizienter zu nutzen. Man muss natürlich aufpassen, wegen der post-heroischen Schutzgesetze. Der Teich ist eine extreme Umgebung für sie, aber er zeigt ihre Natur auf verblüffende Weise, finden Sie nicht?«

»Es muss ein bisschen langweilig für sie sein. Für die Fische.«

Er rieb sich das Kinn. »Ja, kann sein. Daran hatte ich nicht gedacht. Haben den ganzen Tag lang nicht viel zu tun, während sie in ihrem kleinen Becken herumschwimmen. Genau wie du, hm, Erdschein? Ich sollte aber was für sie tun, da haben Sie recht, Major. Vielleicht setze ich eine von diesen kleinen Schatztruhen rein. Machen Sie sich eine Notiz, Briggs.«

»Ja, Sir.«

»Oh – wo bleiben meine Manieren? Möchten Sie etwas trinken, Major? Ich habe da etwas ganz Besonderes für Sie beschafft. Briggs?«

Der Assistent hob eine Art Zauberstab, und eine Sektion des Schreibtischs öffnete sich. Ein Tablett mit einer Auswahl von Limonaden stieg empor, viele in antik aussehenden Dosen im klassischen Design, wenn auch wohl kaum aus Aluminium.

Sie schüttelte den Kopf. »Oh, für mich nichts, danke.«

King saß da wie ein begossener Pudel.

»Ich denke, Sie sollten sich einen Ruck geben, Major«, sagte Erdschein sanft. »Er hat sich damit große Mühe gemacht.«

»Das stimmt«, sagte King. »Ich weiß noch, wie Sie auf dem Merkur gesagt haben, die Limo sei immer abgestanden. Jetzt sitzen Sie auf dem Mond fest, und ich schätze, da oben ist es genauso, stimmt’s? Ich bin nicht dazu gekommen, nach einer Lösung für das Problem zu suchen. Aber ich dachte mir, wenn ich Sie schon hierherschleife, könnte ich wenigstens …«

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich nach all dieser Zeit noch daran erinnern.«

»Ich habe es Ihnen damals erklärt, nicht wahr? Menschen sind alles in diesem Leben. Kontakte. Man muss sie pflegen. Muss sich die Namen ihrer Hündchen merken …«

»Aber ich bin nicht mehr elf Jahre alt, Sir Michael.«

Erdschein lachte laut auf.

King grinste. »Sie sagen, was Sie denken, hm? Daran kann ich mich auch noch erinnern. Also, verdammt noch mal, wenn Sie lieber was anderes hätten …«

»Nein, nein.« Stef nahm eine zuckerfreie Limonade. Sie schmeckte saurer als erwartet, rief jedoch einige Erinnerungen wach.

King beobachtete sie scharf. »Versetzt einen in die Zeit zurück, als man noch klein war, stimmt’s? Sie hatten eine seltsame Kindheit, nicht wahr? Ich weiß noch, dass Sie Ihre Mutter schon sehr früh verloren haben. Und Ihr Vater war immer abgelenkt durch seine Arbeit, nehme ich an.«

Sie schüttelte den Kopf. »In gewisser Weise. Aber ich verstehe. Jetzt bin ich abgelenkt. So abgelenkt, dass ich gar keine Familie habe.«

»Tut mir leid, was aus ihm geworden ist. Der Prozess und all das.«

Sie zuckte die Achseln. »Das ist Vergangenheit.«

»Ich fühle ebenfalls mit Ihnen«, sagte Erdschein. »Schließlich bin ich selbst ein Relikt der sogenannten Heldengeneration. Man würde mich zweifellos einsperren, wenn man könnte.«

King zwinkerte Stef zu. »Glauben Sie mir, man hat es versucht.«

»Können wir jetzt zu dem Grund kommen, weshalb Sie mich herkommen ließen?«, fauchte Stef.

King machte ein überraschtes Gesicht, dann lachte er. »Zur Sache, hm? Sie waren schon immer ungeduldig, daran erinnere ich mich auch. Sie sind sogar während des Countdowns zum Start dieses ersten Jumbos unruhig geworden, der I-One, nicht wahr?«

»Nicht unruhig. Ich war nur erheblich weniger an einer großen, doofen Schwermaschine interessiert als an den Kernels, die sie angetrieben haben.«

»Ja, die Kernels. Die Objekte, deren Erforschung Sie schließlich Ihr Leben gewidmet haben.«

»Genau genommen, der ihnen zugrunde liegenden Physik, ja. Und Sie haben mich herkommen lassen, um darüber zu reden, richtig? Hören Sie, Sir Michael, ich bin zwar keine Völkerrechtsexpertin, aber ich weiß, dass die Kernel-Wissenschaft vor den Kern-KIs geheim gehalten werden soll.« Sie zögerte und sah Erdschein an. »Nichts für ungut«, sagte sie unbeholfen.

»Ach herrje, kein Problem.«

»Das stimmt natürlich«, sagte King. »Und du weißt, warum, nicht wahr? Weil wir euch nicht vertrauen, Erdschein. Wir müssen mit euch zurechtkommen. Ich muss mich … wie oft, alle zwei Wochen? … mit dir treffen. Aber wir mögen euch nicht und trauen euch auch nicht. Ihr hockt in euren Nestern, euren gehärteten Bunkern im Grundgestein, verbunden mit allen wichtigen Systemen der Welt. Du und deine Verwandten auf den anderen Kontinenten, Ifa und der Erzengel.«

»Oh, keine Verwandten. Rivalen vielleicht«, sagte Erdschein milde. »Manchmal Gefährten …«

Stef hatte den deutlichen Eindruck, dass sie schon zu lange zusammenarbeiteten, dass King unter der Last der Pflicht litt, dieser seltsamen alten künstlichen Entität Bericht zu erstatten. Sie waren wie zankende Akademiker in einer verkrusteten Institution, dachte sie.

»Verstehen Sie, womit wir es hier zu tun haben, Major?«, wandte sich King nun an Stef. »Die großen kontinentalen KIs, die Kern-KIs, wie man sie nennt, sind schon in prä-heroischen Zeiten entstanden. Sie gingen aus einem globalen Netz transnationaler Unternehmen hervor, einem Netz, das kollektiv einen großen Teil der Weltwirtschaft kontrollierte. Innerhalb dieses Netzes bildeten sich Knoten stärkerer Verbindungen und umfassenderer Kontrolle heraus: ›Super-Entitäten‹, wie die Wirtschaftsanalytiker sie nannten. Die befanden sich noch immer auf der Ebene der menschlichen Kultur. Aber unterhalb dieser korporativen Super-Entitäten bündelten sich notwendigerweise starke KI-Kapazitäten. Dann kamen die Forderungen nach Sicherheit für Kernprozessoren und Datensicherungen, nach besonders geschützten, durch robuste Kommunikationsnetze verbundenen Zufluchtsstätten. Nun, sie haben bekommen, was sie wollten.« Er grinste reuevoll. »Damals hielt man das für eine gute Idee.«

»Die frühen Mitglieder des Kerns waren von grundlegender Bedeutung für die großen Projekte der Heldengeneration«, sagte Erdschein. »Und ungeheuer intelligent.«

»Aber sie waren nicht menschlich«, erwiderte King in strengem Ton.

»Die Kernels«, sagte Stef im Versuch, wieder zum Thema zu kommen. »Es muss eine immense Anstrengung gekostet haben, den Kern-KIs die Kernel-Wissenschaft vorzuenthalten.«

King nickte grimmig. »In der Tat. Es war ausgesprochen hilfreich, dass die Kernels auf dem Merkur gefunden und nicht näher an der Erde als auf dem Mond erforscht wurden. Und dass man die Gefahr sofort erkannte.«

»Welche Gefahr?«

»Dass wir verstehen würden«, sagte Erdschein, »was ihr nicht versteht.«

»Was verstehe ich nicht?«, fragte Stef kalt.

»Die wahre Physik. Zum Beispiel die vereinheitlichten Theorien, die man unter anderem Quantengravitation nennt. Sie sind für euch noch immer so quälend außer Reichweite wie eh und je, wie schon seit Jahrhunderten. Ihr kennt sie nur von ihren Grenzen, von Niedrigenergie-Näherungen wie die Relativität oder die Quantenphysik her. Als wollte man die Struktur eines Diamanten erfassen, indem man eine einzelne Kante untersucht. Die Realität weiter zu erkunden übersteigt eure technischen Fähigkeiten; gründlichere Berechnungen anzustellen übersteigt euren Intellekt. Tatsächlich habt ihr aus der Spielerei mit den Kernels, die quantengravitatives Spielzeug sind, mehr gelernt als durch all euer Theoretisieren in den zweihundert Jahren seit Einstein.«

Stef machte ein finsteres Gesicht. »Du meinst also, für einen schlichten Menschen wie mich könnte es zu schwer sein, die Quantengravitation jemals zu verstehen.«

»Aber nicht für mich«, sagte Erdschein. »Möglicherweise. Weshalb die Kleingeistigen und noch Kleinherzigeren, wie Sir Michael hier, die Kernels vor uns geheim gehalten haben. Was könnten wir erreichen, wenn wir solches Wissen besäßen?«

King sah Stef an. »Sie haben den größten Teil Ihres Erwachsenenlebens fern der Erde verbracht, Major. Sehen Sie, womit wir uns hier unten herumschlagen müssen? Mit so einem Mist, Tag für Tag, Jahrzehnt für Jahrzehnt …«

Und Stef sah es tatsächlich, sie sah eine fundamentale Dichotomie zwischen den beiden Zweigen der Menschheit, wie sie sich in der neuen Zeit herausbildeten. Die Raumfahrer schauten nach draußen, waren expansiv, erkundeten physisch das Universum. Die Erdverwurzelten dagegen steckten in diesem Schwerkraftschacht fest, beherrscht von Lasten der Vergangenheit wie diesen schrecklichen alten, unzerstörbaren KIs, die in ihren Löchern im Boden hockten. Plötzlich sehnte sie sich danach, im All zu sein, zurück auf dem Mond – überall, nur nicht hier auf diesem alten Planeten, diesem Museum der Schrecken.

»Weshalb haben Sie mich herkommen lassen?«

»Wir möchten, dass Sie zum Merkur gehen, Major Kalinski«, sagte King. »Oder vielmehr, wieder zum Merkur zurück. Ich werde Sie persönlich zu den Kernel-Flözen begleiten, wie man sie mittlerweile nennt.«

Und da war die Gelegenheit, die sie sich bei ihrer Anreise erhofft hatte, auf dem ganzen Weg zur Erde. Aber sie war verblüfft. »Warum? Was soll ich dort?«

»Das werden Sie sich mit eigenen Augen ansehen müssen, Major. Wir haben etwas gefunden.« Er warf Erdschein einen Blick zu. »Etwas so Wichtiges, von solch langfristiger Bedeutung für die Menschheit, dass uns meiner Ansicht nach nichts anderes übrig bleibt, als diese Kern-KIs darauf aufmerksam zu machen. Denn wenn die Mistdinger zu etwas nütze sind, dann dazu, über Langzeitperspektiven nachzudenken. Und wir brauchen jemanden wie Sie, eine Kernel-Physikerin. Wir wissen nicht, was wir von der Sache halten sollen. Wir hoffen, dass Sie zumindest sachkundige Vermutungen darüber anstellen können.«

»Worüber denn?«

»Über etwas Seltsames«, sagte Erdschein.