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Die Wände, der Teppich schmolzen weg und gaben den Blick auf einen verwaschen blauen Himmel und saftiges grünes Gras unter ihren Füßen frei. Nur ihre drei Stühle blieben übrig, und Stef fragte sich, wie viel von Erdscheins schickem Raum ohnehin eine Simulation gewesen war.

Erdschein blieb sitzen, während Stef und Penny aufstanden und sich umschauten. Sie befanden sich auf dem Friedhof einer kleinen, offenbar sehr alten Landkirche. Über den Gräberreihen ragten verwitterte Grabsteine auf, manchmal auch modernere virtuelle Denkmäler, nickende Blumen, tanzende Figuren, Ausschnitte aus Hochzeitsalben oder Babyfotos, unterhalten von den Energien des üppigen Sonnenlichts.

»Wir sind nicht weit von Paris entfernt«, erklärte Erdschein. »Ich meine, dort ist die Quelle dieser Projektion. Früher hätte man im Norden den Smog der Großstadt als schmierigen Fleck am Himmel gesehen, aber den gibt es schon längst nicht mehr. Die Simulation basiert übrigens auf einer Live-Einspeisung.«

»Ich kenne diesen Ort«, sagte Penny. »Wir sind hierhergekommen, als Dad beerdigt wurde.«

»Ich war allein hier«, sagte Stef.

»Wie auch immer. Er wollte neben Mom begraben werden.«

»Die wiederum neben ihrer Mutter beigesetzt wurde«, sagte Erdschein. »Ihre Großmutter war Pariserin, darum sind wir hier … Friedhöfe ziehen mich an, wissen Sie. Es sind faszinierende, ergreifende Orte. Zeugnisse der menschlichen Sterblichkeit, der ich nicht unterworfen bin …«

»Obwohl auch du einmal menschlich warst«, sagte Penny.

Das überraschte Stef. »Wovon redest du?«

Penny lächelte trübselig. »Während du Nachforschungen über mich angestellt hast, habe ich, seit wir hierhergerufen wurden, Nachforschungen über unseren Gastgeber angestellt …«

Er sei ein weiteres Produkt des Zeitalters der Heldengeneration, sagte sie. »Erdschein ist die jüngste der Kern-KIs. Seine Brüder waren damals schon stark. Sie hatten sich als nützliche Stützen der großen, global und sehr langfristig angelegten Post-Klimaschock-Projekte erwiesen. Aber man befürchtete, dass die KIs, die schließlich nicht menschlich waren und auf einem vollkommen anderen Substrat basierten, die Sorge der Menschheit um ihr eigenes Wohlergehen nicht teilen, sondern stattdessen andere Pläne verfolgen würden. Also probierte man es mit einem neuen Ansatz zur Emulation ›humaner‹ künstlicher Intelligenz. Man suchte Freiwillige – oder vielmehr, die Superreichen der Heldengeneration konkurrierten um Plätze …«

»Es war ein Grünhirn-Experiment«, erklärte Erdschein. »Ich wurde als KI rekonstruiert, Major Kalinski. Mein Name ist – war – Robert Braemann. Ich bin in Nordbritannien aufgewachsen, wie es jetzt heißt. Man hat meinen Kopf geöffnet und aus den hundert Milliarden Neuronen, der Quadrillion Synapsen eine gewaltige Software-Suite auf dem höchsten Stand der modernen Technik entwickelt. Das geschah mithilfe von Nanosonden, die durch meinen Schädel krochen, sich vervielfältigten und ihre Ergebnisse übermittelten … Dabei wurde ich mehrmals aufgeweckt, um den Prozess zu überwachen. Ich, ich fühlte gar nichts.«

Stef runzelte die Stirn. »Man hat jedes organische Element von dir oder sogar dein Wesen nachgebildet. Und du behauptest immer noch, du seist du – wer immer du warst?«

Penny lächelte. »Da hast du den Finger auf das Paradox gelegt, Schwesterherz, das den meisten von uns Probleme bereitet, wenn man es mit einem Grünen Gehirn zu tun hat.«

»Nenn mich nicht ›Schwesterherz‹.«

»Ich erwog, mich Theseus zu nennen. Ich bezweifle, dass Sie die Zeit hatten, sich neben der Quantentheorie auch mit Plutarch zu beschäftigen, Major. Theseus’ Paradox ist Folgendes: Sämtliche Teile von Theseus’ Schiff, das Holz und die Nägel, wurden nacheinander ersetzt, bis es schließlich aus ganz neuem Material bestand. Ist es noch dasselbe Schiff? Es ist ein altes Dilemma.«

Stef dachte darüber nach. »Wenn man das Schiff durch seine Funktion definiert, ist es noch dasselbe. Oder wenn man es als Objekt mit einer Erweiterung in der Zeit ebenso wie im Raum betrachtet …«

»Ja, ganz recht. Interessanterweise gibt es verschiedene kulturelle Antworten auf das Paradox. So haben etwa die Japaner die Tempel in ihrem von Erdbeben gefährdeten Land aus Holz gebaut, damit man sie problemlos immer wieder aufbauen kann – aber der Tempel bleibt derselbe.« Er lächelte. »Ich habe meinen Übergang von japanischen Ingenieuren durchführen lassen. Ich wollte vermeiden, dass meine Ärzte von epistemologischen Zweifeln gelähmt würden, während ich mit geöffnetem Schädel dalag wie ein großer Becher Eiscreme.«

»Ja«, sagte Penny. »Tatsächlich haben sie aber nicht nur ein Gehirn ausgeschüttet, um dich zu erschaffen, nicht wahr, Erdschein? Er hatte neun Spender, Stef. Neun Elternteile. Stell dir das vor! So viel zum Grünhirn-Projekt; dadurch haben wir lediglich eine bessere Schnittstelle zu ihrer Unmenschlichkeit bekommen. Erdschein und seine Kumpels planen langfristig, und das ist gut. Aber ihre langfristige Vision dient letztendlich ihren Interessen, während sie gemütlich in ihren Bunkern hocken …«

»Ich habe Sie nicht hierhergebeten, um über meine Existenzberechtigung zu diskutieren«, sagte Erdschein. »Was immer Sie von mir halten, ich kann Ihnen nur versichern, dass ich auf gewisser Ebene noch menschlich genug bin, um nachfühlen zu können, was Sie in einem solchen Moment empfinden müssen.« Er zeigte auf etwas. »Das Grab Ihres Vaters ist gleich dort drüben.«

Sie fanden es sofort. Es war erst ein paar Jahre alt, ein bescheidener Gedenkstein neben dem jahrzehntealten Grab ihrer Mutter.

»Schon seltsam für uns beide, stimmt’s?«, sagte Penny. »An diesem Tag haben wir uns gegenseitig gestützt.«

»Nein«, sagte Stef. Sie wandte sich von ihrer Schwester ab.

Erdschein stand auf – die drei leeren Stühle hinter ihnen verschwanden abrupt – und kam zu ihnen herüber.

»Sag mir, was es hier zu sehen gibt, Erdschein«, bat Stef.

»Nein«, fuhr Penny dazwischen. »Sag uns zuerst, was du von uns willst.«

»Ich möchte, dass Sie meine Verbündeten sind«, sagte Erdschein schlicht.

»Warum?«

»Weil er Angst hat«, sagte Stef. »Das hat er uns erzählt. Aber Angst wovor?«

»Vor all dem.« Er machte eine Handbewegung. »Wie Sie angemerkt haben, denken wir KIs im Gegensatz zu euch Menschen – selbst ich, der ich mehr Ähnlichkeit mit euch habe als meine Geschwister – in langen Zeiträumen. Das ist ein gewichtiger Unterschied. Und wenn man den längsten Zeitraum nimmt, gibt es dann überhaupt etwas, wovor man keine Angst haben müsste? Wir sind Staubkörnchen, unsere Welten sind Staubkörnchen, die in einem Universum treiben, das aus unvorstellbarer Gewalt geboren wurde. In unserem kleinen Winkel des Universums ist es momentan relativ ruhig. Aber das war nicht immer so, und warum sollte es so bleiben? Was, wenn es unserer Welt, dem Universum insgesamt bestimmt ist, auch gewaltsam zu sterben, im Eis oder im Feuer zu vergehen? Dann hätte die Geschichte zumindest eine gewisse Symmetrie, nicht wahr?

Und wenn wir diese Gewalt selbst über uns bringen? Krieg ist der Wolf, der die Menschheit schon umschlichen hat, bevor unsere Ahnen von den Bäumen herabgestiegen sind. Obwohl es so gut wie unbemerkt geblieben ist, haben meine Kern-Brüder und ich hart daran gearbeitet, den Wolf des Krieges mit Verträgen, mit Worten zu fesseln, hauptsächlich indem wir Einfluss auf menschliche Organe wie die Vereinten Nationen und die Räte des chinesischen Großen Wirtschaftsverbunds ausgeübt haben. Und bisher ist es uns weitgehend gelungen. Dass wir hier im simulierten Sonnenschein stehen und dieses Gespräch führen, ist der Beweis dafür. Mittlerweile sind wir jedoch eine interplanetarische Zivilisation. Käme dieser Wolf jetzt auf freien Fuß und erhielte er die Chance, könnte er ganze Welten zerstören – das hätte er auch schon tun können, bevor wir auf eure Kernels gestoßen sind …

Aber die Kernels existieren, und damit ist nun ein neuer Faktor im Spiel, eine neue Zufälligkeit. Diese seltsame Entdeckung im Herzen des Sonnensystems, die Kernels, diese Luke, die nirgendwohin führt – nirgendwohin außer hierher, in eine stümperhaft veränderte Realität. Welche Macht hat die Kernels dort deponiert und die Luke geschaffen? Welche Macht pfuscht jetzt in unserer Geschichte herum? Wer ist sie? Was will sie? Wie werden wir damit fertig? Allein schon die Existenz dieser außerirdischen Spielsachen hat eine destabilisierende Wirkung – das ist Ihnen doch sicher klar? Und je deutlicher wir erkennen, welche Macht sie haben, desto destabilisierender wirken sie.«

»Du willst, dass wir mit dir zusammenarbeiten«, stellte Stef fest.

»Ich brauche Verbündete«, sagte Erdschein. »Wir brauchen sie, wir drei im Kern. Menschliche Verbündete. Ihr habt uns die Kernel-Physik vorenthalten; vielleicht ist das klug. In erster Linie müssen wir nun verhindern, dass diese neuen Entdeckungen einen verheerenden Krieg auslösen. Und wenn sich herausstellt, dass die Luken-Bauer wirklich die Macht besitzen, in unserer Geschichte herumzupfuschen …«

»Und du hast uns hierhergeholt, weil du Beweise dafür hast?«, mutmaßte Penny ein wenig ins Blaue hinein.

Er zeigte auf etwas. »Sehen Sie sich den Grabstein Ihrer Mutter an. Verstehen Sie Französisch? Lassen Sie mich übersetzen. Hier liegt Juliette Pontoin, geboren – nun, Sie kennen die Daten – eine versierte Chemikerin, Gattin von George Kalinski, geliebte Mutter von Stephanie Penelope Kalinski …«

Mutter von Stephanie Penelope Kalinski. Nicht von Stephanie Karen und Penelope Dianne. Nur ein Name. Ein richtiger Name.

Penny starrte auf den Stein. Sie war am Boden zerstört, das sah man. Sie hatte ein Stück ihrer Vergangenheit verloren, und Stef wusste, wie sich das anfühlte.

Stef wandte sich an Erdschein. »Noch so eine ausgefranste Ecke.«

»Ja. Sie sehen also, wir müssen zusammenarbeiten. In den kommenden Jahren. Wir müssen in Kontakt bleiben. Müssen uns neben unseren anderen Projekten auch damit beschäftigen.«

»Ja«, sagte Stef automatisch.

Penny schien so geschockt zu sein, dass sie nicht reagierte.

»Und wenn wir herausfinden, wer dafür verantwortlich ist …« Erdschein trat vor und schaute auf den Stein. »Ich bin überall. Und ich fange an, eure Schritte zu hören, ihr Luken-Bauer. Ich höre das Gras wachsen. Und ich höre euch.«