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»Sie haben sich Thursday geschnappt.«

Liu stand in einem teuren, aber schmutzigen Overall vor Yuris Schreibtisch; offenbar war er draußen auf den Feldern gewesen. Liu Tao war jetzt in den Siebzigern – körperlich fast zwei Jahrzehnte älter als Yuri, nach dessen jeweils vierjährigen Unterbrechungen des Alterungsprozesses in der Luke. Yuri hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen.

Zwölf Jahre nach Yuris Rückkehr vom Merkur waren sie beide reich, beide mächtig – aber nur auf lokaler Ebene, auf dieser kleinen Welt namens Per Ardua, und hin und wieder wurden sie daran erinnert, dass in ihrem Universum weitaus mächtigere Kräfte am Werk waren. Liu sprach davon, dass seine zweiundzwanzigjährige Tochter festgenommen worden war, wahrscheinlich wegen nicht viel anderem als dem Verbrechen, Halbchinesin zu sein. Er sah so hilflos aus wie wohl auch an jenem Tag, als sein chinesisches Raketenflugzeug vom Himmel gefallen war – in eine von den Vereinten Nationen kontrollierte Enklave auf dem Mars.

Yuri berührte eine eingebaute Tafel in der Platte seines Schreibtischs – altes Mahagoni, von der Erde importiert und von Menschen durch die Luke vom Merkur getragen, unglaublich teuer. »Stef? Ich denke, du solltest mal reinkommen.«

»Bin schon unterwegs.«

»Setz dich, Liu.«

»Verdammt, Yuri …«

»Setz dich. Stef kommt gleich. Irgendwie kriegen wir das schon wieder hin.«

Stef Kalinski betrat das Büro. Sie verströmte den starken Geruch von Erbauerstängeln; neben ihren anderen Projekten versuchte sie, mehr Details über die weit zurückliegende Vergangenheit der Erbauer herauszufinden und in Erfahrung zu bringen, was sie mit den exotischen Technologien der Luke zu tun hatten. Stef, selbst in den Sechzigern, war noch immer eine Multitaskerin und ließ sich manchmal nur mit Mühe dazu bewegen, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Doch sobald sie den offensichtlich erregten Liu dort stehen sah, war er das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. »Sagt mir, wie ich helfen kann.«

Yuri ging zur Kaffeekanne und schenkte drei Becher randvoll ein. Es war arduanischer Kaffee, angebaut und verarbeitet an der Mattock-Konfluenz. Yuri importierte zwar gern einmal Luxusgüter von der Erde, kaufte aber in der Regel lokale Produkte. »Liu sagt, Thursday sei verhaftet worden.«

Stefs Augenbrauen schossen nach oben. »Was? Von wem? Von den Vereinten Nationen, nehme ich an …«

Liu unterbrach sie. »Von den Sicherheitskräften in der Markzone.«

Yuri versuchte, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. »Was hat sie getan, einen Ziegelstein nach ihnen geworfen? Sie haben die Truppe dort doch reduziert.«

»Nicht verhaftet.« Liu konnte kaum noch an sich halten. »Eingesperrt. Sie haben sie in eins ihrer Lager gebracht.«

»Ah. Ach du Scheiße.«

Die Internierungslager waren eine neue, unerfreuliche Entwicklung, ein Nebeneffekt des Krieges, der sich im Sonnensystem zusammenbraute.

Seit Yuri und Stef Kalinski vor zwölf Jahren gemeinsam durch die Luke in einen vulkanischen Winter zurückgekehrt waren, hatte sich das Klima auf Per Ardua schrittweise gebessert – zum Glück, weil unmittelbar nach ihnen schon die ersten Einwanderer von der Erde eingetroffen waren. Doch in letzter Zeit hatte sich die politische Lage daheim offenbar verschlechtert. Der Strom von Menschen, die durch die Luke kamen, hatte sich zum Rinnsal abgeschwächt, weil die Ressourcen des inneren Systems für den sich verschärfenden interplanetarischen Konflikt eingesetzt wurden und nicht mehr dafür, Emigranten zwischen den inneren Planeten hin und her zu fliegen. Viele der hier auf Per Ardua stationierten UN-Soldaten waren sogar ins Sonnensystem zurückbeordert worden.

Einige ihrer für den Kalten Krieg typischen scharfen Sicherheitsmaßnahmen hatten die Vereinten Nationen jedoch nicht nur zu Hause, sondern auch hier auf Per Ardua eingeführt. Und wie es schien, waren immer noch genug Soldaten da, die Zeit übrig hatten, um Liu Taos Tochter aufzugreifen.

Yuri grunzte. »Keine Ahnung, was die mit ihren Internierungslagern hier auf Per Ardua erreichen wollen. Das ist unser Land, unsere Welt. Es ist wie eine Paranoia-Infektion, die sich durch die Luke verbreitet. Je eher der letzte UN-Soldat seinen jämmerlichen Arsch durch die Luke zwängt, umso besser.«

»Ja und genau solche Sprüche haben Thursday wahrscheinlich in Schwierigkeiten gebracht«, erwiderte Liu. »Sie hat sich einigen dieser Jugendbewegungen angeschlossen. ›Ardua den Arduanern‹ – ihr wisst schon. Bei Thursdays ethnischem Hintergrund ist jede derartige Aktivität gefährlich. Wir müssen sie da rausholen, Yuri.«

»Natürlich. Wir drei fahren zusammen in die Markzone und kommen nicht ohne sie zurück. Okay?«

Liu schien weder erleichtert noch beruhigt, aber zumindest dankbar für die Unterstützung zu sein – und dafür, dass er etwas unternehmen konnte. »Ich fahre.«

»Kommt gar nicht infrage. In deinem Zustand bringst du uns nur alle um. Stef, besorg uns einen Rover.«

Stef nickte. Doch als die drei steif dastanden – drei alte Leute, die sich bei jeder Bewegung ihres Alters bewusst waren –, sagte Stef leise zu Yuri: »Du solltest keine Versprechungen machen, von denen du nicht genau weißt, dass du sie auch halten kannst. Schlechte Angewohnheit, Yuri …«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich kenne die UN und die IRF wesentlich besser als du. Mach dich auf das Schlimmste gefasst.«