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Die Astronautin, Colonel Stef Kalinski, führte die gerade angekommenen Arduaner aus der Grube von den Sternen.
Einer nach dem anderen stiegen sie die kurze, fest angebrachte Leiter hinauf. Yuri kletterte als Erster nach oben; in der geringen Schwerkraft fiel es ihm leicht. Sobald er aus der Grube herausgekommen war, schaute er sich um und sah einen hochgeklappten, offenen Deckel, der genauso aussah wie der auf Per Ardua. Erstaunlicherweise wies die Außenseite des Deckels jedoch keine Erbauerkörper-Furchen auf, sondern Einbuchtungen für menschliche Hände. In diesem Moment fielen ihm die Erbauer ein, die sie gewissermaßen durch die Luke auf Per Ardua hierhergeführt hatten. Er schaute an seinen Begleitern vorbei in die Grube hinunter, aber die Erbauer waren nirgends zu sehen; vielleicht hatten sie die Gelegenheit genutzt, um nach Hause zurückzukehren. Er konnte es ihnen nicht verdenken.
Sobald alle draußen waren, führte Kalinski sie durch die Felsenhöhle zu einem Fahrstuhl. Die Kabine stieg ruhig, aber schnell nach oben – mehrere Hundert Kilometer weit, wie Kalinski ihnen lächelnd erzählte. Yuri glaubte das weder, noch glaubte er es nicht; er konnte es einfach nicht begreifen.
Als sie aus dem Fahrstuhl stiegen, schaute Yuri sich zunehmend verwirrt um und versuchte sich zu orientieren. Er befand sich unter einer Kuppel. Durchsichtige Deckenpaneele ließen das grelle Licht einer Sonne passieren, die mindestens doppelt so groß wirkte wie auf der Erde – nicht so groß wie Proxima, von Per Ardua aus gesehen, aber viel, viel heller, trotz der offensichtlich stark filternden Kuppelpaneele. Er sah offene Durchgänge zu transparenten Tunnels, die diese Kuppel zweifellos mit anderen auf der Oberfläche verbanden. Die Logik dieser Struktur war ihm vertraut; er kannte sie vom Mars her, wo er in die Kuppeln von Eden eingeschlossen gewesen war.
Die Kuppel selbst war vollgestopft mit wissenschaftlicher Whitebox-Ausrüstung, Computern und offenbar zur Atmosphärenkontrolle bestimmten Geräten, wie er sie vom Mars her in Erinnerung hatte. Das Innere kam ihm strahlend sauber, ja geradezu steril vor, wie ein Krankenhaus. Außer Colonel Kalinski in ihrer nachtschwarzen Astronautenuniform und den vier Neuankömmlingen von Proxima Centauri war niemand hier.
Beth schreckte vor dem strahlenden Sonnenlicht über ihr zurück. Und sie erbrach sich plötzlich, spuckte das reichhaltige Essen aus der substellaren Basis halb verdaut auf den sauberen Kuppelboden. Ein Servoroboter, höher entwickelt als alle anderen Modelle, die Yuri jemals gesehen hatte, kam herbeigehuscht, um das Malheur mit schnellen Saugbewegungen aufzunehmen.
»Verzeihung«, sagte Beth. Es klang bekümmert. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»Macht nichts«, sagte Kalinski. »Wollen Sie sich säubern? Wir können Ihnen natürlich frische Kleidung aus den Lagern besorgen …« Sie zögerte, horchte in ein Funkgerät an ihrem Ohr. »Die Verantwortlichen hier suchen noch nach einer angemessenen Reaktion auf diese Situation. Zunächst einmal soll ich euch zu den Wohnkuppeln bringen. Tut mir leid, dass alles so schlecht organisiert ist – wir sind nicht auf so etwas vorbereitet, wie ihr euch vorstellen könnt.« Ihr Akzent klang andeutungsweise amerikanisch, dachte Yuri, aber mit einem näselnden Beiklang, den er nicht recht einordnen konnte.
Mardina seufzte. »Das muss auch für Sie merkwürdig sein.«
»Ein bisschen. Aber schließlich bin ich wegen der Luke hier auf dem Merkur. Ich bin theoretische Physikerin. Seit der Entdeckung der Luke habe ich schon viele merkwürdige Dinge erlebt. Dass ihr vier zu Fuß von Proxima hierhergekommen seid – glaubt mir, das steht nicht mal ganz oben auf der Liste.« Sie grinste ein wenig kläglich, fand Yuri. »Aber ich bin natürlich froh, dass ich hier war und eure Ankunft miterlebt habe. Sobald ich die Bilder von eurer Luke auf Prox c gesehen hatte, die genauso aussieht wie diese hier auf dem Merkur, wusste ich, dass es so was in der Art sein musste.«
Yuri runzelte die Stirn. »In welcher Art?«
»Ein lichtschnelles Transitsystem. Wie eine U-Bahn. Ich meine, ihr seid fast mit Lichtgeschwindigkeit hergekommen, das haben wir schon festgestellt. Eine vierjährige Transitzeit. Ohne jede subjektive Zeitverzögerung – habe ich recht?«
»Eine lichtschnelle U-Bahn?«, fragte Yuri. »Von wem gebaut? Und warum?«
»Und ich tauche mitten in diesem kosmischen Wunder auf«, sagte Beth, »und kotze alles voll.«
Kalinski lachte und nahm Beths Hand. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Irgendwie kommt es mir passend vor … Wissen Sie, Beth Eden-Jones, Sie sind der erste Mensch, der auf Proxima c geboren wurde und zur Erde zurückgekehrt ist. Stellen Sie sich das vor.«
Mardina grunzte. »Sie wird berühmt werden.«
»Das wird sie wohl oder übel.«
Dieser Gedanke schien Tollemache zu gefallen. »Berühmt, hm?«
»O ja. Die Bilder, die ihr von dem Luken-Zwilling auf Proxima c geschickt habt, waren eine Sensation.«
Tollemache hob sein Sensorpaket. »Bilder, die ich damit aufgenommen habe. Hören Sie, ich muss mit Leuten sprechen.« Er überlegte. »Mit meinen Vorgesetzten. Mit einem Agenten, verdammt noch mal …«
Kalinski hob die Hand und zog ihre klingelnde Tafel aus dem Gürtel. »Tut mir leid, Sir, wir müssen das Gespräch auf später verschieben. Ich begleite euch zum Rover und dann zur Kuppel Z, wo wir alle die Dekon absolvieren werden.«
Mardina hob die Augenbrauen. »Dekontamination?«
»Ja. Diese Kuppel hier ist eine gesicherte Umgebung. Schon seit die Luke entdeckt wurde. Wir haben es hier mit einem außerirdischen Artefakt mit unbekannten Eigenschaften zu tun – das vermuten wir zumindest. Jedes Mal, wenn einer von uns beiden – ich oder meine Zwillingsschwester – hierherkommt …«
Beth schaute interessiert drein. »Zwillingsschwester?«
»Lange Geschichte. Jedenfalls muss ich dann auch durch die Dekon. Und jetzt seid ihr hier, und wer weiß, was für kleine Passagiere ihr von Proxima c mitgebracht habt? Anschließend steht euch dann ein Trommelfeuer von Befragungen und Untersuchungen durch Ärzte und Physiker bevor, fürchte ich … Wisst ihr, wir improvisieren hier einfach. Kann sein, dass die ganze Sache tagelang dauert. Tut mir leid.«
Tollemache grinste. »Der Preis des Ruhms. Herrgott, freue ich mich darauf, die Erde wiederzusehen.«
Yuri konnte zumindest erkennen, was er dachte. Mardinas Gesichtsausdruck hingegen war kompliziert, berechnend; Yuri wusste nicht so recht, was sie von dieser seltsamen Wendung der Dinge hielt.
Und Beth, die unter dem Licht eines fernen Sterns geboren, inmitten außerirdischer intelligenter Lebewesen aufgewachsen und auf Per Ardua furchtlos in eine außerirdische Grube gestiegen war, schaute geradezu entsetzt drein.