28

An einem klaren, hellen Sonntag rund zwei Jahre nach Synges Amoklauf beschlossen Yuri und Mardina, einen Spaziergang zu den Erbauern in der Umgebung der Pfütze zu unternehmen. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, am Sonntag – nach Maßgabe ihrer Kalender – einen Ruhetag einzulegen. Und das einheimische Leben war eine Ablenkung für sie alle drei, einschließlich der KolE.

Also zogen sie ihre Stiefel an, packten Rucksäcke mit gefiltertem Seewasser und Nahrungsmitteln und nahmen Regenumhänge und Reishüte mit.

An diesem Vormittag prüfte die KolE die Flare-Muster auf Proximas breitem Antlitz besonders gewissenhaft. Yuri wusste, dass sie ihre Flare-Wettervorhersagen zu verbessern versuchte. Mardina und er hörten im Allgemeinen auf ihre Warnungen; in etwa sechzig Prozent der Fälle lag sie richtig. Doch an diesem Vormittag sprach die KolE keine solche Warnung aus, obwohl sie den Stern lange betrachtete.

Die KolE schlug einen anderen, längeren Weg ein als sonst. Sie hielt zunächst auf den Orientierungspunkt des Kuhfladens zu und passierte andere Oberflächenmerkmale, erodierte Sandsteinklippen, gesäumt von Granit- oder Basaltintrusionen. An einer davon hielt sie inne. Sie nahm mit ihren Greifklauen Proben von dem Gestein, dem Erdreich, den Lebensformen und drückte ihre Sensorkapsel gegen Gesteinsflächen. Außerdem besaß sie einen Bohrer, der sich wie ein Maulwurf in den Boden oder unter eine Gesteinsoberfläche grub; er bewegte sich unabhängig, zog aber ein Glasfaserkabel zur Datenübermittlung hinter sich her.

Mit all dem störte sie einen Drachen, der hinter der Klippe Schutz gesucht hatte; gereizt flatterte er davon. Es schien zumindest eine Gattung einzelgängerischer Drachen zu geben, die abseits der großen Schwärme der Wälder und Seen lebten und im Schutz isolierter Felsauswürfe wie diesem nisteten.

Mardina sah der KolE bei der Arbeit zu. »Du siehst aus wie ein Rover«, sagte sie nachdenklich. »Auf dem Mars oder dem Titan. Eins von diesen klapprigen Geräten, die sie von der Erde aus gesteuert haben. Die Jahr für Jahr ein paar Zentimeter pro Tag weitergekrochen sind.« Sie warf Yuri einen Blick zu. »Vielleicht erinnerst du dich noch an die. Oder hast sie im Museum gesehen.«

Yuri zuckte die Achseln.

»Eine treffende Analogie«, meinte die KolE. »Man könnte sagen, dass ich in mancher Hinsicht ein ferner Nachfahre solcher Sonden bin. Ich habe eine eigene Analysegarnitur, zu der beispielsweise ein Massenspektrometer gehört, sodass ich die Isotopenzusammensetzung von Luft- und Gesteinsproben sowie in Wasser gelösten Stoffen bestimmen kann. Außerdem habe ich eine behelfsmäßige Inkubationskammer eingerichtet, in der ich Proben arduanischen Lebens unter kontrollierten Bedingungen zu züchten versuche. In dieser Hinsicht imitiere ich die Viking-Sonden, die schon früh auf dem Mars und …«

»Wozu soll das gut sein?«, fragte Yuri in scharfem Ton. »Keine dieser Informationen wirst du jemals weitergeben können.«

»Eines Tages wird die Erde wieder mit Per Ardua in Kontakt treten, wenn auch frühestens in hundert Jahren, wie Major McGregor versichert hat. Ich werde bis dahin längst terminiert sein. Aber es gibt keinen Grund zu glauben, dass die Ergebnisse meiner Untersuchungen nicht erhalten bleiben; ich habe eine Reihe geschützter Speicher, und wenn man sie unter einem Steinhaufen oder einem anderen geeigneten Monument deponiert …«

Yuri lachte. »Ich errichte dir eine Statue.«

Die KolE schien nicht beleidigt zu sein. »In jedem Fall sind meine Untersuchungen von ihrem ganzen Wesen her langfristig angelegt. Ich bemühe mich nach Kräften, alles über die Geschichte des Lebens auf dieser Welt herauszufinden. Über seinen Ursprung und, falls vorhanden, seine Beziehung zum Sol-Leben; über die Schlüsselstadien seiner Entwicklung wie zum Beispiel das Auftreten von Fotosynthese, von mehrzelligem Leben …«

»Dann also eine große Statue. Jedenfalls bist du zu neugierig, was das arduanische Leben betrifft. Zu theoretisch. Du sollst uns nur helfen, es zu nutzen.«

»Empfindungsfähige künstliche Intelligenz ist wie alles Empfindungsfähige unsauber und unscharf; es ist schwierig, die Neugier im Zaum zu halten, sobald man einmal davon erfüllt ist. Das ist einer der Gründe, weshalb die im Zeitalter der Heldengeneration entstandenen großen KIs jetzt als illegal gelten würden. Tatsächlich haben die IRF und andere Weltraumagenturen von den für die Einhaltung der Gesetze über den Einsatz empfindungsfähiger Intelligenz zuständigen Behörden eine Sondergenehmigung erhalten, um KolEs wie mich für diese Expedition ausrüsten zu können. Und außerdem wurde ich darauf programmiert, Yuri Eden, ein Minimum von vierzehn Kolonisten zu unterstützen, deren Zahl mit Beginn der Geburten bald wachsen sollte. Ich habe also die Zeit, um neugierig zu sein.«

»Ach, bieten wir dir nicht genug Anregungen?«

»Es ist, als würde sich mein Geist ausdehnen, um die Leere zu bevölkern. Ist das eine normale Eigenschaft menschlicher Intelligenz?«

»Du hattest von Anfang an nur fünfundzwanzig Jahre«, sagte Yuri brutal, »und die Uhr tickt, stimmt’s? Dann schaltest du dich ab und verrostest. Und all die Pläne und Träume, die du unter dieser Kunststoffkuppel und in deinem sich ausdehnenden Geist hegst und pflegst, werden vergessen und für immer verloren sein.«

»Alle sterblichen Geschöpfe müssen sich dem Ende stellen. Es überrascht mich, Yuri Eden, dass du so mit mir sprichst. Liegt es daran, dass ich ein Kunstprodukt bin? Ich meine, etwas von Menschen Gemachtes. Ein Golem, gewissermaßen. Im Mythos sind solche Wesen nie ganz vollwertig, weil sie einen Schritt weiter von Gott entfernt sind als der Mensch. Siehst du mich so, Yuri Eden?«

»Ich sehe dich als Symbol für die blinden, dummen Mächte, die es für eine gute Idee hielten, mich und Mardina auf dieser fremden Welt abzuladen.«

»Aber ich bin ebenfalls ein Opfer dieser blinden Dummheit, wie du es ausdrückst. Was mich betrifft, so kann ich dir versichern, dass …«

»Halt die Klappe. Ich rede mit dir nur über diesen Kram, weil ich mich langweile.« Das zumindest stimmte.

»Es reicht, Yuri«, sagte Mardina. »Du kannst mit mir reden, wenn du willst, KolE. Also, wie kommst du mit deinem großartigen Projekt voran?«

»Mühsam. Die Geologie dieser Welt ist wirklich alles andere als hilfreich. Hier ist nichts alt, Mardina Jones. Und mit ›alt‹ meine ich: mehr als ein paar Hundert Millionen Jahre. Zumindest in der lokalen geologischen Einheit. Nimm dieses Stück Sandstein in meiner Greifklaue.« Sie hielt ihr die Probe hin. »Man sieht Schichten, die im Verlauf einiger weniger Millionen Jahre in einem verschwundenen Meer abgelagert wurden. Dann kamen die heftigen tektonischen Bewegungen, die sie emporhoben und die Schichten zerbrachen. Als diese dem Wetter ausgesetzt waren, kam eine Zeit der Erosion. Dann führten weitere geologische Turbulenzen zur Injektion von geschmolzenem Granit in die schwächeren Schichten; man sieht hier und hier Intrusionen. Doch selbst das Gestein, aus dem der ursprüngliche Sandstein entstanden ist – erodierte Relikte vulkanischer Produkte aus einer noch früheren Zeit –, war vergleichsweise jung, wie eine Datierung anhand von Spuren radioaktiver Elemente ergibt.«

Yuri schwirrte der Kopf von diesem Mischmasch geologischer Ereignisse. »Ich kriege das nicht richtig sortiert. Du meinst also, dass …«

»Dass die Oberfläche des Planeten nach geologischen Maßstäben jung ist«, beendete Mardina den Satz. »Wie bei der Venus. Richtig?«

»Ja«, sagte die KolE. »Die Oberfläche der Venus scheint alle paar Hundert Millionen Jahre einen globalen Erneuerungsprozess zu durchlaufen. Das Kraterverzeichnis zeigt das deutlich. Hier erfolgt die Erneuerung möglicherweise in einer Region nach der anderen und nicht auf der gesamten Oberfläche zugleich. Per Ardua ist offenkundig geologisch aktiv; wir haben mit eigenen Augen aktive Regionen gesehen, die Schlammlöcher, die Indizien für eine Hebung im Norden. Aber es ist eine ältere Welt als die Erde oder die Venus; Proxima ist älter als die Sonne. Vielleicht hat diese lokalisierte Aktivität, diese geologische Aufwallung etwas mit dem höheren Alter zu tun. Vielleicht wartet eine gegebene Region mehrere Dutzend oder mehrere Hundert Millionen Jahre auf solch ein Ereignis. Aber wenn es eintritt, ist es stark genug, um einen großen Teil aller Fossilienvorkommen zu vernichten, die ich hätte finden können.«

»Frustrierend«, sagte Mardina leise.

»Aber es gibt Wege nach vorn«, sagte die KolE. »Hauptsächlich durch das Studium der rezenten Biologie.«

»Der DNA.«

»Die arduanischen Lebewesen haben keine DNA. Aber ja. Eine vergleichende Studie ihres Genmaterials offenbart tief greifende Verwandtschaften. Ich kann bereits einen Stammbaum auf Grundlage des arduanischen genetischen Archivs erstellen. Mithilfe von Schätzungen der Mutationsraten sollte es mir bald gelingen, eine rudimentäre Chronologie vorzulegen. So ist zum Beispiel schon klar, dass die arduanischen Stromatolithen oder ihre Vorfahren den Stängelformen vorausgegangen sein müssen. Wann hat hier mehrzelliges Leben begonnen? Wann sind die ersten Geschöpfe mit Multistängel-Architektur entstanden, und wie sahen sie aus? Gibt es heute noch irgendwelche vergleichbaren Überlebenden? Und …«

»Ich finde trotzdem, du hast große Träume für eine kleine Landmaschine«, sagte Yuri.

Mardina unterdrückte ein Lachen.

»Es liegt in der Natur von Wesen mit Empfindungsvermögen zu träumen«, gab die KolE zurück. »Bei dieser Klippe hier bin ich mit meiner Arbeit fertig. Gehen wir weiter?«

Sie legten noch einmal eine Pause ein, um etwas zu essen, und gelangten schließlich ans Westufer des Sees.

Dies war das Reich der Erbauer, in der Randzone der großen Stängelbänke, die sich weit ins Wasser hinaus erstreckten, bis zu den Drachenschwärmen. Diesen Teil des Ufers hatte Mardina als »Kinderstube« bezeichnet, weil sich hier Familien mit ihren Jungen konzentrierten. Sofern man sie als Familien bezeichnen konnte. Jedenfalls war das Gebiet von den niedrigen, nestartigen Bauten übersät, die den Nachwuchs vor Proxima-Stürmen schützen sollten, wie die KolE jetzt aufgrund von Yuris tapsigen Erkundungen glaubte.

Und hier badeten heute junge Erbauer in Proximas Licht. Sie hatten sich in Gruppen von ein paar Dutzend oder mehr an jenen Stellen versammelt, wo die einheimischen Entsprechungen von Moosen und Flechten wuchsen, lauter Dreibeine, die sich auf ein Hinterbein stützten und so weit zurücklehnten, dass sie dem am Himmel hängenden Stern die Vorderseite zukehrten. Ihre drei Hauptstängel waren in den Flechten verwurzelt, und Yuri sah zahllose Fasern oder Ranken, die von den Stängeln in die Flechten hinabführten – oder vielleicht auch umgekehrt.

Während die KolE mit einem feinen Manipulatorarm Proben pflückte und mit ihren Sensoreinheiten die Umgebung abtastete, ging Mardina vor einer Ansammlung kleiner Erbauer auf die Knie, wobei sie darauf achtete, ihnen nicht das Licht wegzunehmen. »Wisst ihr, ich habe gesehen, wie sie geboren wurden«, sagte sie. »›Geboren‹ – so würde man es vermutlich nennen. Die drei Eltern – es sind immer drei – scharen sich aufrecht zusammen und ziehen gewissermaßen Stücke auseinander heraus. Stängel, besonders die zarten aus den dichten Kernsektionen. Die fügen sie dann zusammen wie einen Modellbausatz. Aber nach einer Weile gehen sie nicht mehr so methodisch vor. Sie geraten in Bewegung, kreiseln miteinander verbunden um das Neugeborene.« Sie schaukelte auf den Knien hin und her, ihr Körper schwankte sanft im Kreis und ahmte die Bewegung nach, die sie gesehen hatte. »Ein Tanz der Empfängnis, der Geburt. Irgendetwas zutiefst Biologisches. Und wenn sie sich trennen, ist da ein neues kleines Kerlchen.«

»Wow«, sagte Yuri. Mardina hatte ihm noch nie etwas von diesen Beobachtungen erzählt. »Erbauersex, hm?«

»Sofern man es sinnvollerweise als Sex bezeichnen kann.« Die KolE rollte rückwärts. »Es müsste vermutlich drei Geschlechter geben, nicht zwei. Ich habe keine Hinweise auf jene geschlechtliche Differenzierung gesehen, die man bei vielen Arten auf der Erde findet. Aber die merkwürdige sexuelle Begegnung, die du schilderst, ist eindeutig eine Methode zur Vermischung des Genmaterials der Eltern in den Kindern, zumindest auf der Ebene der Stängel.

Und das ist noch nicht alles. Seht euch an, wie sie Verbindungen zwischen ihrem Körper und der Flechtenschicht herstellen. Ich glaube, diese Erbauer haben gewisse Ähnlichkeit mit einigen der ersten Pflanzen auf der Erde. Diese Pflanzen hatten noch keine richtigen Wurzelsysteme ausgebildet. Stattdessen gingen sie eine symbiotische Beziehung mit Pilzen ein. Die Pilze versorgten die Pflanzen mit Nährstoffen und Wasser und bekamen dafür von den Pflanzen erzeugten Zucker. Ich glaube, wir haben es hier mit einer komplexen Symbiose zwischen den Erbauern und den Fotosynthese betreibenden Bakterien und Pilzen der Flechten zu tun.«

»Du meinst«, sagte Yuri, »die kleinen Kerlchen fressen gerade.«

»Ich habe auch Erwachsene beobachtet, die sich länger in solchen Flechtenschichten aufhielten. Aber die Jungen brauchen wahrscheinlich dringender Nährstoffe; ihre Stängel müssen noch wachsen. Also verbringen die Jungen mehr von ihrer Zeit eingestöpselt, um es mal so zu sagen. Andere arduanische Lebewesen wie die Drachen haben bestimmt ähnliche Verwurzelungsplätze. Wenn wir gründlich genug danach suchen, werden wir sie auch finden. Jedenfalls sind diese Mischwesen aus dem, was wir Pflanzen und Tiere nennen, nie pflanzenähnlicher als in solchen Momenten. Vielleicht löst sich ihr tierartiges Bewusstsein, ein Gefühl von Selbstwahrnehmung und Identität, für kurze Zeit in einem tieferen Grün auf …«

Mardina hörte nicht zu, erkannte Yuri. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf die jungen Erbauer gerichtet.

»Du magst die kleinen Kerlchen, stimmt’s?«, sagte er zu ihr.

Sie schaute defensiv drein. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn man sie nach ihren Gefühlen fragte, ebenso wenig wie er selbst. »Ach weißt du, ich bin keine edle Wilde«, gab sie jedoch zu. »Aber ich bin mit den alten Geschichten aufgewachsen – verstehst du? Von den gengas, den Geistern meiner Ahnen, die das Land durchdringen. Na ja, hier habe ich keine Ahnen, hier gibt es keine gengas für mich. Aber diese Erbauer – das ist ihre Welt. Sie ehren ihre Toten, das wissen wir. Vielleicht werden ihre gengas auf mich aufpassen. Ich weiß, das ergibt keinen Sinn …«

»Vorsicht«, sagte die KolE.

Sie hörten ein Klappern, als würde ein Beutel mit Essstäbchen geschüttelt. Yuri, der über Mardina und den Kindern stand, drehte sich um und sah, wie zwei ältere Erbauer auf sie zuwirbelten. Ihre Gliederstängel klapperten.

»Hey, immer mit der Ruhe, Leute.« Mardina stand auf. Sie drehte sich in ihrem orangefarbenen Overall im Kreis und schüttelte ihre Arme und Beine aus. »Wir schauen nur, wir tun den kleinen Burschen nichts zuleide.«

Die KolE rollte abrupt einen halben Meter zurück, nach Yuris Erfahrung ein sicheres Zeichen, dass sie überrascht war, und hob die Sensorkapsel an ihrem Arm hoch in die Luft. »Mardina Jones … Was machst du da?«

»Wonach sieht’s denn aus? Merkst du nicht, dass diese Burschen uns ermahnen wollen, nicht zu nah ranzugehen?«

»Du meinst, sie sprechen mit uns?«, sagte Yuri. »Mit diesem Tanz?«

»Mit dem Tanz, mit der Art und Weise, wie sie mit ihren Gliedmaßen klappern – keine Ahnung, ich spreche kein Erbauerisch. Ich versuche nur, sie zu beruhigen, das ist alles.«

Die Erbauer verlangsamten ihre Kreiselbewegung und wichen ein wenig zurück, verwurzelten sich aber nicht in der Flechtenschicht bei den Kindern. Stattdessen blieben sie am Rand des Flechtenbesatzes stehen, kreiselten langsam und passten offenkundig auf. Yuri glaubte, das Schimmern sich öffnender, auf unheimliche Weise menschlicher Augen zu sehen, in ihren Strukturen verborgener Augen-Blätter.

»›Ich spreche kein Erbauerisch‹«, wiederholte die KolE. »Und doch tust du es in gewissem Sinn, gar keine Frage. Faszinierend. Ich muss das eingehender erforschen.« Und dann erstarrte sie, die Kamera-Augen auf die Erbauer gerichtet, die Sensorkapsel in die Höhe gereckt.

Mardina hob ihren Rucksack auf. »Komm. Die KolE wird hier stundenlang hocken und vor sich hin beobachten. Du weißt ja, wie sie ist, wenn sie in diese Stimmung verfällt. Verschwinden wir von hier. Wir sollten die Erbauer nicht länger beunruhigen.«

»In Ordnung.« Yuri hob ebenfalls seinen Rucksack auf.

Schweigend gingen sie weiter, wieder ums Südufer des Sees herum, und ließen die KolE hinter sich zurück. Dabei hielten sie großen Abstand zu den Stängeln, den Erbauer-Lagern und den kuppelförmigen Nest-Unterständen.

Überall waren Erbauer unterwegs, eifrig beschäftigt mit ihren geheimnisvollen Aktivitäten; sie arbeiteten an eigentümlichen, nicht identifizierbaren Gebilden und tauchten manchmal sogar ins Wasser des Sees. Darin schwammen Unterwassergeschöpfe, hatte Yuri festgestellt, weitere Wesen aus vielen Stängeln, vielleicht die hiesigen Gegenstücke von Krebsen, Fischen oder Krokodilen.

Und am Rand des Wassers kamen die Erbauer in Paaren, Dreiergruppen und größeren Scharen zusammen, kreiselten und klapperten und summten umeinander herum. Yuri hatte ein solches Verhalten schon früher gesehen, jedoch nicht weiter darüber nachgedacht. Eine Fehlfunktion seiner Fantasie. Ja, dachte er, es war tatsächlich so, als sprächen sie miteinander. Er fragte sich, ob es jemals möglich sein würde, ihre »Worte« zu übersetzen. Wenn ja, würde die KolE es vermutlich herausfinden.

Sie kamen an einem Garten großer Stromatolithen mit breiten, mützenartigen Oberteilen über stämmigen Säulenfüßen vorbei, die riesigen, im Licht von Prox golden glänzenden Pilzen glichen. Eine Herde von Pflanzenfressern beackerte den Garten, kleine Geschöpfe diesmal, nicht größer als ein durchschnittlicher Erbauer, aber mit den üblichen stachelförmigen Fortsätzen, die sie ins ergiebige Innere der Stromatolithen stießen. Bei deren Größe konnte man sich kaum vorstellen, dass sie überhaupt etwas von diesen Nadelstichen bemerkten.

Dann stießen sie auf eine Ansammlung von Haufen am Südufer des Sees. Es waren große Haufen mit steilen Seitenwänden. Sie bestanden aus komprimierten, getrockneten alten Stängeln. Yuri sah eine ganze Reihe von Erbauern oben auf ihnen arbeiten; mit unablässigem, trockenem Geraschel zogen sie dicke Bündel von Stängeln hin und her.

»Sie bauen die Haufen um«, sagte er zu Mardina.

»Schon wieder. Und die Haufen haben bereits komplexe Formen.« Auf ihrer Tafel skizzierte sie mit energischen, selbstsicheren Handbewegungen den neuen Aufbau des nächstgelegenen Haufens. »Schau dir das an, Yuri. Betrachte ihn als Gebäude, als Bauwerk. Vergiss, dass es ein Haufen alter Stängel ist, ein Haufen toter Erbauer. Nimm an, er bestünde aus Beton …«

Es war eine komplizierte Konstruktion – Krümmungen, Wälle und Kanäle. Und es war nur einer von etlichen Haufen, die sich an diesem Teil des Seeufers entlangzogen. Yuri drehte sich um und versuchte herauszufinden, wie diese Gebilde in die Landschaft passten. Hinter Mardina und ihm, im Süden, ein Stück vom See entfernt, sah er einen flachen Kanal voller Geröll, vielleicht ein ausgetrocknetes Flussbett, das östlich am Stromatolithengarten vorbei zu einer salzverkrusteten Senke führte. Die Reihe der Haufen riegelte diesen Abflusskanal säuberlich gegen den See ab.

»Es ist so eine Art Damm. Das habe ich schon früher gedacht.«

»Hmm«, machte Mardina wenig überzeugt. »Kann sein. Er blockiert diesen trockenen Kanal im Süden. Aber es scheint ja schon auf der anderen Seite des Sees, am Nordufer, funktionsfähige Dämme zu geben. Sie blockieren die Zuflüsse, die vom Hochland zwischen dem See und dem Wald herunterkommen. Was hältst du davon?«

Er zuckte die Achseln. »Was soll ich davon halten?«

Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu den Erbauern hinüber. »Kommt darauf an, für wie intelligent man diese kleinen Burschen hält. Wir wissen, dass sie Unterstände für ihre Jungen bauen, wir wissen, dass sie miteinander kommunizieren, wir wissen, dass sie ihrer Toten gedenken. Haben diese ganzen Bauarbeiten um den See herum einen Zweck? So intelligent sie auch sein mögen, sie sind es jedenfalls auf andere Weise als wir, und das macht es schwer, sie zu verstehen. Vielleicht glauben wir nur, dass sie hier an einem großen Bauprojekt arbeiten, weil wir das täten.«

Während sie sich unterhielten, sah Yuri, dass sich das Verhalten der Erbauer änderte. Sie hatten ihre Arbeit an dem Haufen aufgegeben, strömten seine Flanken hinab und steuerten auf den Stromatolithengarten zu. Und im Kinderstubenareal im Westen führten erwachsene Erbauer die Jungen sanft zu den nestartigen Unterständen.

Mardina zeigte auf etwas. »Da kommt die KolE.«

Die KolE war von ihrer Konstruktion her auf Stabilität und Robustheit ausgelegt, nicht auf Geschwindigkeit. Trotzdem wirbelte sie eine Staubwolke auf, als sie um den See herum auf sie zuraste. Und sie rief ihnen mit übermäßig verstärkter, bellender Stimme zu: »Gefahr, Yuri Eden, Mardina Jones, Gefahr!« Sie deutete mit einem ausgestreckten Manipulatorarm nach oben, auf Proxima. »Flare-Alarm! Flare!«

Yuri drehte sich um und schaute zu dem Stern hinauf, beschirmte die Augen und kniff sie zusammen. Er sah, wie helle Flare-Gebiete miteinander verschmolzen. Gewaltige Craquelémuster flackerten wie Blitze über die ausgedehnte Oberfläche des Sterns. Kein Wunder, dass die Erbauer flüchteten.

»Scheiße«, sagte Mardina. »Das ist ein großer, und er kommt aus heiterem Himmel. Und wir sind weit vom Schutzraum entfernt.«

»Ich habe eine Idee.«

»Was für eine?«

Er zeigte nach Südwesten. Die meisten Erbauer vom See strömten kreiselnd, rotierend und Staub aufwirbelnd in diese Richtung. Sie steuerten direkt auf die großen Stromatolithen zu. »Wir folgen den Erbauern. Komm!«

Er lief voran. Als er sich flüchtig umschaute, um sich zu vergewissern, dass Mardina ihm folgte, sah er hinter ihr ein Flackern am nördlichen Horizont. Die riesigen Dreifachblätter der großen Waldbäume klappten wie Schirme zu.

Sie brauchten nur Minuten bis zu den Stromatolithen. Überall schlugen die Erbauer Löcher in die obere Kruste der großen Gebilde und zwängten sich hinein, schlängelten sich in die Schichten aus Bakterien und Schmodder im Innern. Yuri sah, dass sich jeder dieser behelfsmäßigen Eingänge auf der von dem zornigen Stern abgewandten Seite der Stromatolithen befand.

Als Yuri und Mardina eintrafen, war kein Erbauer mehr zu sehen. Sie blieben unter einem großen Stromatolithen mit einem Loch in der Schale stehen, das allemal groß genug für einen erwachsenen Menschen war.

Sie sahen sich an. »Was meinst du?«, fragte Yuri.

»Sie leben schon erheblich länger auf diesem Planeten als wir. Vertrauen wir ihnen.« Sie schob sich mit dem Kopf voran durch die Öffnung in der Schale des Stromatolithen und schaufelte ganze Hände voll schmierigem, graugrünem Zeug heraus, um Platz für sich zu schaffen. Bald war sie ganz im Innern des Stromatolithen verschwunden und grub sich noch tiefer hinein.

Yuri folgte ihr. Es war kein angenehmes Gefühl, sich in dieses schleimige Halbdunkel zu winden; er kam sich vor wie ein parasitärer Wurm, der sich in ein Gehirn fraß.

Und dann loderte draußen vor dem Loch in der Schale Licht auf, gleißend hell, als hätte jemand einen Schalter am Himmel umgelegt.