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Sie zwängten sich in den Rover, und die KolE folgte ihnen. Sie waren erst ein kurzes Stück gefahren, als sie im Scheinwerferlicht des Fahrzeugs vor sich auf dem Eis sahen, was Liu mit seinen alternden, aber immer noch scharfen Augen entdeckt hatte.
Eine Fahne, die schlaff an einem Mast hing. UN-blau.
Sie hielten abrupt, zogen sich an und stiegen erneut aufs Eis hinunter. Die Luft war bitterkalt, und ihr Atem dampfte. Sie standen alle drei nebeneinander, erhellt von den Scheinwerfern des Rover und der KolE.
Vor ihnen, deutlich sichtbar im Lichtschein der Scheinwerfer, war die Fahne und so etwas wie ein zusammengesacktes Zelt. Hinter dem Zelt fiel die Eisfläche ab, vielleicht in einen Krater. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, was das alles bedeutete.
Sie gingen vorwärts, über hartes, raues Eis. Die KolE folgte ihnen mit abgeblendeten Scheinwerfern. Die Fahne war an einem improvisierten Skistock befestigt, der im Eis steckte. Mit großen Augen gingen sie daran vorbei.
Beim Zelt hob Yuri eine steifgefrorene Klappe hoch. Im Licht seiner Taschenlampe sah er eine Leiche im Innern des Zeltes. Er trat zurück.
Wortlos ging Liu hinein, um sich die Leiche anzusehen.
Yuri und Stef wanderten durch das restliche Lager. Außer dem Zelt gab es einen Haufen verstreuter Ausrüstungsgegenstände auf einer gefrorenen Bodenplane, ein Paar Skier Marke Eigenbau, wie es schien, so etwas wie ein improvisiertes Eisfahrrad, einen Haufen Vorräte – und ein etwa ein Meter hohes Gerät mit einem Eingabetrichter, einem Ausgabefach, das wie eine Miniatur-Intensivstation aussah, und in winziger Schrift abgefassten Instruktionen auf dem Gehäuse.
»Was ist das?«, fragte Yuri. »Eine eiserne Kuh?«
»Nein«, sagte die KolE.
Liu rief sie zu sich.
Widerstrebend kehrten sie zum Zelt zurück, wo Liu über der Leiche stand. Es war ein Mann. Er trug nur eine uralte Militäruniform, keine Schutzkleidung. Es gab keinerlei Anzeichen von Verwesung. Aber schließlich musste er schon beinhart gefroren sein, erkannte Yuri, bevor die Bakterien in seinem Körper begonnen haben konnten, ihn zu verzehren – und auf Per Ardua gab es noch nichts, was einen menschlichen Leichnam verzehren konnte. Auf dieser fremden Welt waren selbst die Prozesse des Todes fremdartig.
Der Tote trug ein UN-Kreiszeichen am Ärmel. Ein eisiger Schimmer lag auf seinen Zügen. Er war gepflegt und glatt rasiert, sogar seine Haare waren gekämmt. Er sah aus wie ein Astronaut.
Stef musterte ihn. »Ich nehme an, er wollte in seiner Uniform sterben. Hm.«
Liu sah sie an. »Weißt du, wer das ist?«
»Ich weiß, wer es sein muss.«
»Dexter Cole?«, fragte Yuri. Der Pionier, der in den Jahrzehnten, die Yuri im Kälteschlaf verbracht hatte, auf einer irrwitzigen, selbst im Vergleich zu dem gewagten Unterfangen der Ad Astra unausgegorenen Solo-Mission nach Proxima gekommen war.
»Ja. Hier gibt es Dinge, die ihn identifizieren.«
Sie verließen das Zelt.
»Die Kolonisten haben immer geglaubt, dass Coles Geist auf Per Ardua umherstreift«, sagte Yuri. »Weißt du noch, Liu?«
»Ich schätze, da könnten wir recht gehabt haben.«
»Also, was ist mit ihm passiert?«
Liu zeigte auf einen Haufen Papiere, die er auf dem Eis gestapelt hatte. »Er hat ein Tagebuch hinterlassen. Und ein Videotagebuch. Aber da ist auch ein Brief, eine Seite lang.« Er hielt ihn mit seiner behandschuhten Hand hoch. »Die stichpunktartige Zusammenfassung. Offenbar wollte er sichergehen, dass wir die Botschaft erhalten. Er hat getan, was er tun musste. Das sagt er immer wieder. Ich schätze, er wollte nicht als Versager in Erinnerung bleiben. Oder als etwas noch Schlimmeres.«
»Er hat getan, was er tun musste?«, sagte Stef. »Was heißt das? Offensichtlich hat er das Prox-System erreicht. Er war der erste Mensch, der den interstellaren Raum durchquert hat, der erste, der auf Per Ardua gelandet ist. Dafür wird man ihn in Erinnerung behalten.«
»Ja«, sagte Liu. »Aber eigentlich war er hier, um den Planeten zu kolonisieren, vergesst das nicht. Das ist schiefgegangen – dem Brief zufolge. Er ist irgendwo hier auf der dunklen Seite, der gefrorenen Seite abgestürzt. Es gab keinen Fernmeldesatelliten, also konnte er nicht mal eine Nachricht nach Hause schicken, um Bescheid zu sagen, was passiert war. Ein großer Teil seiner Ausrüstung war zerstört. Er scheint diese ganzen Sachen hier behelfsmäßig hergestellt zu haben. Eine Art Ski-Fahrrad, mit dem er auf dem Eis herumfahren konnte. Alles andere hat er hinter sich hergezogen.«
»Er ist hierhergekommen, zum Antistellarpunkt«, sagte Stef. »Warum?«
»Er wollte, dass man ihn fand, oder jedenfalls seine Leiche. Er wusste, dass er es nicht zur Tagseite schaffen würde. Wohin sollte jemand auf der dunklen Seite sonst kommen? Wir sind schnurstracks hierhergefahren. Er wollte, dass man seine Geschichte erfährt. Und er wollte nicht für ein Ungeheuer gehalten werden.«
Yuri runzelte die Stirn. »Warum, zum Teufel, sollte jemand das denken?«
Liu versetzte dem Verarbeitungsgerät einen Tritt. »Das hier ist keine eiserne Kuh, und auch keine Nahrungsmaschine. Dexter Cole sollte der Vater einer ganzen Kolonie werden. So war es geplant. Er hatte eingefrorene menschliche Embryos dabei, hier in diesem Gerät, die er dann einen nach dem anderen auftauen, aufpäppeln und aufziehen sollte. Zwanzig kleine Kolonisten im Licht von Proxima, mit Cole als Paten. Das war die Vision.«
»Aber stattdessen …«
»Aber stattdessen hatte er sich im Dunkeln verirrt und war am Verhungern. Ja, er zog die Embryos auf. Er muss irgendwo Nährstoffe gefunden haben, um den Inkubator zu füttern – Thermalquellen, nehme ich an. Aber was er dann mit ihnen gemacht hat …«
»O Gott.« Stef kniete auf der Bodenplane neben der Maschine. Sie hob etwas auf – eine Ansammlung weißer Fragmente, die einem winzigen Erbauer-Haufen ähnelten, dachte Yuri. Knochen. Fingerknöchel vielleicht. Stef legte sie respektvoll wieder hin.
Yuri schaute auf die strengen, friedlichen Züge des Toten hinab und fragte sich, wie es am Ende um seinen Geisteszustand bestellt gewesen sein mochte, allein in der eisigen Dunkelheit mit seiner einzigen Nahrungsquelle, dieser grausigen Mahlzeit.
Liu zuckte die Achseln. »Was hättet ihr getan? Was würden wir alle tun? Die Kinder hätten hier sowieso nicht überleben können.«
»Das ist aber nicht das Einzige, was er hier getan hat«, sagte die KolE in ruhigem Ton. »Ich habe mir die nähere Umgebung angesehen. Dexter Cole hat sich nicht nur am Leben erhalten. Hier ist noch etwas anderes. Im Eis, meine ich. Er hat etwas gefunden.«
Sie sahen sich an. Dann eilten sie zur KolE hinüber, die am Rand der Senke im Eis stand.
Es war keine natürliche Formation; sie hatte keine Ähnlichkeit mit einem Krater. Es war eine Grube. Cole hatte eine Grube ins Eis gesprengt. Und auf deren Grund schien er mit einer Hacke oder dergleichen ans Werk gegangen zu sein. Er hatte eine Fläche aus einem grauen, metallartigen Material freigelegt – und eine feine, kreisrunde Rille mit einem Durchmesser von ein paar Metern.
»Dexter Cole war allem Anschein nach neugierig auf diese Stelle hier, den Antistellarpunkt, einen offensichtlich bedeutsamen Ort«, sagte die KolE. »Vielleicht besaß er noch ein paar Ausrüstungsgegenstände aus seinem abgestürzten Schiff. Kann sein, dass er mit Radar- oder Sonar-Echos Strukturen unter dem Eis entdeckt hat. Und Sprengstoff hatte er sicherlich auch dabei.«
Sie kletterten alle in die flache Senke hinunter. Die KolE rollte vorwärts und ließ ihr Licht über sie hinweggleiten.
»Eine Luke«, sagte Yuri. »Er hat nur eine weitere beschissene Luke gefunden, KolE!«
»Ja. Und diametral gegenüber der ersten, in der substellaren Markzone. Im Gestein dieses Gebiets verbirgt sich außerdem auch ein Kernel-Feld.«
»Was hat es mit diesen Luken bloß auf sich?«
Stef kniete sich hin und zeigte grinsend auf etwas. »Schaut. Handförmige Schlossfurchen. Wir können sie öffnen.«
Liu machte große Augen. Dann hielt er Coles einseitigen Brief hoch und überflog ihn rasch. »Cole schreibt, sie habe keinerlei Merkmale aufgewiesen, als er sie gefunden hat. Er hat sogar eine Skizze angefertigt. Schaut. Und er habe mit seiner Tafel Fotos gemacht, schreibt er. Keine Handmarkierungen.«
»Dann hat sie sich verändert«, sagte Yuri. »So wie die Luke auf der Tagseite, als wir damals reingestiegen sind.«
»Und die auf dem Merkur genauso«, ergänzte Stef.
Yuri sah sie an. »Was machen wir jetzt?«
Sie grinste. »Was denkst du?«
Liu wich mit erhobenen Händen zurück. »Moment mal. Ihr wollt in dieses Ding reinsteigen? Ohne mich.«
Die KolE surrte. »Ich halte es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, dass ihr völlig unvorbereitet seid, Yuri Eden.«
»Das hat uns vorher auch noch nie aufgehalten.«
»Stimmt. Aber es könnte sein, dass es auf der anderen Seite nicht einmal atembare Luft gibt. Denkt an den Merkur …«
»Wir gehen trotzdem.« Er grinste Stef an, die sein Lächeln erwiderte. »Wir sind fertig mit Per Ardua, oder? Fertig mit der Erde. Vor allem, wenn sie ihren Krieg hierherbringen.«
Die KolE stand reglos da. Ihre Scheinwerfer warfen Licht auf die Luke in ihrer Grube. »Ihr seid fest entschlossen.«
»Richtig.«
»In diesem Fall habe ich eine Bitte.«
»Nämlich?«
»Nehmt mich mit.«
Stef lachte kurz auf, verstummte dann jedoch wieder.
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Sie meint es ernst, oder?«, sagte Stef.
Liu schnaubte. »Das ist doch bloß ein besserer Traktor. Eine Landwirtschaftsmaschine.«
»Nicht nur«, sagte die KolE. »Ich bin ein empfindungsfähiges, neugieriges Wesen. Ich möchte ebenfalls erfahren, was jenseits dieser neuen Luke liegt. Und ich besitze einen Wissens- und Datenspeicher … Stell dir vor, was für ein nützlicher Begleiter ich sein könnte, Yuri Eden.«
»Aber wie, zum Teufel, willst du überhaupt durch die Luke kommen?«, fragte Stef. »Du bist nicht modular, wie deine moderneren Vettern, also kann man dich nicht in Einzelteilen durchtragen, und aus eigener Kraft schaffst du’s auch nicht. Du würdest gar nicht reinpassen.«
»Ich schlage vor, ihr nehmt meine Zentraleinheit heraus. Das würde genügen. Schnittstellen lassen sich später finden. Dazu würde sogar eine Tafel reichen.«
Stef sah Yuri an. »So machen wir’s, oder?«
Yuri grinste nur. »Ich schulde dir was für Mister Sticks, KolE. Zeig uns, wie man dich auseinandernimmt.«
Sie brauchten einen Tag, um sich vorzubereiten – um mehrere Schichten Kleidung anzulegen, Rucksäcke zu packen und Waffen auszuwählen.
Und um die Zentraleinheit der KolE auszubauen – sie gab ihnen selbst die erforderlichen Anweisungen, als würde sie ihre eigene Lobotomie beaufsichtigen – und sie behutsam in einem Rucksack zu verstauen, den Yuri auf der Brust trug. Es war, als trüge man ein Baby, dachte er, so wie Mardina und er die kleine Beth damals in selbst hergestellten Tragetüchern transportiert hatten.
Dann war es Zeit zu gehen. Der Impuls, den Planeten zu verlassen, den Stef und Yuri bei der Entdeckung der Luke sofort verspürt hatten, war auch nach einem Tag noch immer sehr stark.
Liu zögerte nach wie vor. »Seid ihr euch sicher? Ich bin noch nie durch eins dieser verdammten Dinger gegangen. Man könnte sonst wo landen, stimmt’s?«
»Das ist ja das Amüsante daran«, sagte Stef.
Yuri sah Liu an. »Wir sind sicher. Und bist du sicher, dass du hierbleiben willst?«
»Ja. Ich lasse es drauf ankommen, was die Vereinten Nationen betrifft. Außerdem habe ich nur dann eine entfernte Chance, Thursday October jemals wiederzusehen, wenn ich auf dieser Seite der Luke bleibe. Aber ihr beiden … Stef, wenn du das machst, wirst du deine Angehörigen nie wiedersehen. Deine Zwillingsschwester.«
Stef lachte nur. »Ein schwerer Verlust.«
»Und du, Yuri. Vielleicht besteht ja eine Chance, dass Beth …«
»Ich kenne Mardina. Und ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass ich Beth nie wiedersehen werde, komme, was da wolle.«
Liu nickte. »Also kannst du genauso gut weitergehen, was?«
»Durch eine weitere Tür, ja. Und dann durch die nächste. Was sollte ich sonst tun?«
»Ich werde ihnen erzählen, was aus euch geworden ist.«
Yuri grinste. »Vielleicht kommen wir ja zurück, um alles selbst zu erzählen.«
»Glaubst du wirklich?«
»Nein.« Er wandte sich an Stef. »Bist du bereit?«
»Jederzeit.« Sie zog ihre Fäustlinge aus und spreizte die bloßen Finger. »Beeilen wir uns. Es ist so kalt.«
»Allerdings«, sagte Yuri und zog seine eigenen Fäustlinge aus. »Fertig? Dann zusammen. Eins, zwei, drei …«
Als die Luke offen stand, sah sie genauso aus wie die zwischen der Markzone und dem Merkur, eine Grube unter dem Lukendeckel, eine weitere Tür in der Wand mit Einbuchtungen für ihre Hände, erleuchtet von einem unbestimmten, perlmuttfarbenen Licht.
Yuri und Stef kletterten an einem Seil hinunter, das Liu festhielt. Yuri bewegte sich vorsichtig, damit der KolE nichts passierte.
Die Tür in der Wand zu öffnen war leicht. Sie betraten die Zwischenkammer, genau wie in der Merkur-Luke, mit Türen auf beiden Seiten. Es war so warm darin, dass sie sofort anfingen, ihre Winterkleidung zu öffnen.
Sie sahen sich an. Die Tür zurück nach Per Ardua stand noch offen, aber Liu war bereits außer Sichtweite, an der Oberfläche jenseits der äußeren Kammer.
»Mach schon«, sagte Stef.
Yuri schloss die Tür. Dann gingen sie gemeinsam zur zweiten Tür hinüber und legten ihre Hände in die Kerben in deren Oberfläche.
Als die Tür aufging, taumelten sie beide. Die Schwerkraft hatte sich erneut verändert.
Jetzt gab es kein Zurück mehr, dachte Yuri.