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Abseits der UN-Basis in der Markzone – wie man die substellare Zone mittlerweile nannte, jenes Gebiet von Per Ardua, das von der menschlichen Obrigkeit am stärksten kontrolliert wurde und nun ironischerweise einen Erbauer-Namen trug – waren Rover und andere Fahrzeuge noch immer selten, noch immer kostbar. Seit der Ad Astra war nie wieder ein Sternenschiff nach Per Ardua gekommen, und alle Großgeräte, die aus dem Sonnensystem importiert wurden, mussten in ihre Bestandteile zerlegt und durch die Luke transportiert werden, für gewöhnlich auf dem Rücken von Einwanderern. Aber Yuri Eden, Stef Kalinski und Liu Tao, das Führungs-Triumvirat der Gemeinschaft an der Mattock-Konfluenz, waren so ziemlich die reichsten und mächtigsten Menschen auf Per Ardua, abgesehen von dem lokal begrenzten UN-Einflussbereich in der Markzone selbst. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hatten sie mit beträchtlichem Erfolg den Reichtum und die Macht abgeschöpft, die mit dem nur in eine Richtung verlaufenden Einwandererstrom verbunden waren.
Also wurde ihnen bald ein Rover zur Verfügung gestellt.
Stef Kalinski fuhr schnell, ruhig und sicher auf die Markzone zu. Obwohl sie noch immer eine solch gedankenverlorene Intellektuelle war wie eh und je, stellte Yuri fest, dass es ihr gelungen war, sich hier auf dieser ganz anderen Welt einzufügen. Dank ihrer militärischen Ausbildung bei der IRF besaß sie analytisches Denkvermögen, Courage und praktische Fähigkeiten. Und sie fühlte sich erheblich wohler mit einer vier Lichtjahre dicken Schicht zwischen sich und ihrer unerwünschten »Zwillingsschwester«, vermutete Yuri – obwohl er selbst nach all dieser Zeit noch immer nicht recht wusste, ob er ihr das ganze abgedrehte Zeug glaubte, das sie ihm zögernd darüber erzählt hatte. Jedenfalls war Stef eine schweigsame, konzentrierte Fahrerin, selbst wenn sie es dem Rover überließ, eigenständig den richtigen Weg zu finden. Das war nicht unklug, denn Per Ardua, das sich noch immer von seinem vulkanischen Winter erholte, war unberechenbar.
Liu saß ebenfalls schweigend da und starrte auf die Straße vor ihnen, während sie nach Süden fuhren. Für ihn war die Fahrt eindeutig nur eine Phase, die er überstehen musste, bevor er sich wieder der Rettung seinen Tochter widmen konnte.
In der Stille hatte Yuri Zeit, aus dem Fenster auf seine in Veränderung begriffene Welt zu blicken.
Die teilweise geschotterte Straße stammte im Großen und Ganzen von jener Spur ab, die er, Mardina und die anderen vor all diesen Jahren auf ihrem Marsch nach Süden zum Substellarpunkt ausgetreten hatten, stromaufwärts am Verlauf des riesigen Flussnetzes entlang, dessen Wasser aus dem Hochland der Markzone nach Norden strömte und das nun aus nachvollziehbaren Gründen North River genannt wurde. Jahrelang hatte sich die Spur durch eine gefrorene Landschaft gezogen. Jetzt führte die Straße auf aufgetautem, aber festem Grund an Schmelzwasserseen vorbei und auf primitiven Brücken über reißende Nebenflüsse.
Die lange Kälte ging allmählich vorbei, die Decke aus Vulkanasche, die die Auswirkungen des Sternwinters noch verschärft hatte, löste sich endlich auf, und man stieß so weit südlich nur noch selten auf Eis. Der Winter hatte den Menschen das Leben zur Qual gemacht, insbesondere den völlig unvorbereiteten Neuankömmlingen auf dieser Welt.
Das arduanische Leben selbst war jedoch robuster und zweifelsohne an ein veränderliches Klima angepasst. Die KolE sagte, sie habe Schösslinge neuer Stängel beobachtet, die schon Wochen nach dem vulkanischen Ereignis unter der Ascheschicht emporgesprossen waren. Inzwischen beherbergten die unter dem Eis auftauchenden Seen schon neue Erbauer-Gemeinschaften mit ihren Kinderstuben, Haufen und Fallen. Die Erbauer wussten Bescheid, sagte die KolE; ihre Erinnerungen und Legenden, so glaubte sie, überspannten die Zyklen der weit zurückliegenden Vergangenheit. Yuri hatte seinen ganzen Einfluss geltend gemacht, um eine Art Sperrzone um den jilla herum einzurichten, den wandernden See, der ihn und Mardina nach Süden geführt hatte. Er wollte wissen, ob dieselben Erbauer den See jetzt wieder nach Norden verlegen würden, um den Zyklus von Neuem zu beginnen …
Was die Stromatolithen betraf, so schienen diese großen, träumenden Hügel den Winter kaum wahrzunehmen. Und die Mikroben im Tiefengestein, sagte die KolE, wo der größte Teil der Biomasse beheimatet sei wie auf jeder Gesteinswelt, hätten vermutlich überhaupt nichts davon bemerkt.
Die Nachwinterlandschaft von Per Ardua hatte sich jedoch im Vergleich zu früher dramatisch verändert. Sie war eine von Menschen geprägte, von Menschen und ihren Werken bevölkerte Landschaft geworden. Jetzt fuhr der Rover an Bauerndörfern vorbei, die die neuen Kolonisten mithilfe ihrer eigenen KolEs – vereinfachten, flexibleren modernen Maschinen – gegründet hatten. Ein Jahrzehnt lang waren Einwanderer an diesem einen zentralen Punkt in der Markzone aus der Luke gekommen, einem Durchgang von nur ein paar Metern Durchmesser, wie Öl, das aus einem Brunnen in der Wüste sickerte. Und von der Markzone aus waren sie in alle Richtungen über das geduldige Antlitz von Per Ardua ausgeschwärmt, nach Norden und Süden, Osten und Westen, aber vor allem waren sie den großen Flüssen gefolgt. Es war ein seltsames Kolonisierungsmuster, fand Yuri – und ein großer Kontrast zum Tüpfelmuster der ersten Gründergemeinschaften, die von den Ad Astra-Shuttles nahezu willkürlich an den verschiedensten Punkten abgesetzt worden waren.
Näher an der Markzone kamen sie durch einen dichter bevölkerten Industriegürtel. Hier gab es Stahlwerke, Schmelzhütten und Fertigungsanlagen, die am laufenden Band Werkzeug und Maschinen, Bagger und Bohrer produzierten, aus einheimischem Beton und Bauholz aus den Stängelwäldern errichtete Fabriken, gespeist von Flusswasser, das von glänzenden Rohrleitungen transportiert wurde. In diesem Gebiet hing bereits eine Wolke aus Kohle- und Holzrauch in der Luft, und an so manchem windstillen Tag lastete ein echter Smog auf den Fabriken, Aufbereitungsanlagen und Wohnungen in den Schlafsiedlungen unter dem unablässig senkrecht herunterbrennenden Licht von Proxima Centauri. Es gab ein ganzes Band solcher Siedlungen, die sich wie die bäuerlichen Gemeinschaften weiter draußen in einem groben Kreis um den zentralen Punkt der Markzone zogen, sich jedoch in der näheren Umgebung der großen Flüsse immer weiter nach außen vorschoben.
Es war ein erstaunliches Aufblühen nach nur wenigen Jahrzehnten menschlicher Anwesenheit auf dem Planeten, eine Entwicklung, die sich in den Jahren seit dem Beginn des großen Zustroms von Einwanderern stark beschleunigt hatte. Bald würde man Straßen und Eisenbahntrassen bauen, und die Speichen dieses riesigen, komplexen Rades der Kolonisierung würden sich noch viel weiter hinaus erstrecken, in Gebiete, die mit reichen Bodenschätzen wie Metallen und Uran aufwarten konnten, und zu den Flözen kohleähnlicher Lagerstätten, die man in unmittelbarer Nähe des Randwaldgürtels gefunden hatte. Ein Strom von Waren würde ins Zentrum zurückfließen, und auf der gesamten substellaren Seite von Per Ardua würde eine kontinuierliche integrierte Entwicklung beginnen.
Yuri und die Leute in seiner Umgebung hatten viel Geld gemacht, indem sie sich Rechtsansprüche auf Land sicherten, auf dem sich die neuen Siedler voraussichtlich niederlassen würden, und sie den Vereinten Nationen dann gegen Entschädigung abtraten. Jetzt beanspruchten sie eifrig riesige, weiter von der Markzone entfernte Gebiete, in denen es noch zu kalt und zu trocken war, als dass man sie schon für die Kolonisierung in Betracht gezogen hätte. Mit der Zeit – wenn sich das Wetter erwärmte – würden jedoch auch sie zurückverkauft werden. Niemand – weder die Neuankömmlinge selbst noch die UN-Behörde, die sie unter Kontrolle zu halten versuchte – wollte auf die zerlumpten Überlebenden von der Ad Astra hören, als diese sagten, es würde auf dieser Welt nicht immer so kalt sein. Yuri lernte mit zunehmendem Alter, dass es in der Natur des Menschen zu liegen schien, schließlich und endlich doch nicht auf die Alten zu hören, nicht aus der Geschichte zu lernen. Er hatte Geduld. Irgendwann würde Per Ardua sie alle zähmen.
Und in der Zwischenzeit wuchs Yuris Reichtum unablässig, teilweise in lokalen Anrechtsscheinen, teilweise in den von UN-Amtsträgern in der Markzone geführten Banken. Noch besser, die neuen Fabriken produzierten jetzt Waren, für die man sein Geld auch ausgeben konnte, von anständiger Kleidung – keine Uniformen irgendeiner Militärstreitmacht der Vereinten Nationen – über schickes Besteck und Geschirr bis hin zu Möbeln und Stoffen, ja sogar Luxusartikeln: Es gab Lachsfarmen in einigen Flüssen und Hühnerhöfe, in denen echte, lebendige Vögel mit schlagendem Herzen herumspazierten.
Man munkelte, dass es bald eine zivile Kommunalverwaltung und Wahlen geben sollte. Sogar eine zivile Justiz als Ersatz für die Militärtribunale der Vereinten Nationen. Doch als sie sich dem Zentrum und der direkt von den UN-Truppen kontrollierten Zone näherten, erinnerten sie immer mehr Dinge daran, dass diese Welt weiterhin eine mehr oder minder vom Militär kontrollierte Kolonie war, die von einer fernen, quasi-imperialen Macht regiert wurde – um das zu sehen, brauchte man nichts von einem Mädchen zu wissen, das festgenommen worden war, weil es einen chinesischen Vater hatte. Sie durchquerten ein Gebiet, das von ordentlichen Reihen durch Wege aus zerkleinertem arduanischem Basalt miteinander verbundener Zelte und Fertigbauten mit den deutlich sichtbaren Logos der UN, der IRF und der Friedenshüter beherrscht wurde. Die Markzone-Basis war im Grunde eine militärische Festung, das Hauptquartier einer Besatzungstruppe, die sich aus den bäuerlichen Gemeinschaften weiter draußen auferlegten Abgaben finanzierte.
Nun fuhren sie an Anlagen vorbei, die Yuri noch nicht kannte: Lager mit Wachtürmen und Stacheldrahtzäunen. Auch hier überall UN-Logos, selbst an den Türmen. Kinder hinter den Zäunen schauten ihnen mit leerem Blick hinterher, als der Rover vorbeirollte.
Liu reckte einen Finger zu dem Lager. »Da drin. In einem ihrer neuen Internierungszentren. Da wird sie sein, meine Thursday.«
»Noch nicht«, sagte Stef. »Ich habe das unterwegs überprüft. Sie halten sie noch im Hauptquartier der Friedenshüter weiter im Innern fest. Sie wissen, dass sie deine Tochter ist, Liu. Offenbar wollen sie einen Gründer nicht mehr verärgern als unbedingt nötig.«
»Vielleicht.« Er saß da und starrte hinaus, den Ellbogen auf dem Fenstersims. Die Finger seiner rechten Hand arbeiteten nervös, als würde er mit einer unsichtbaren Münze spielen. »Ich habe kein gutes Gefühl. Ganz und gar nicht.«
»Hey, immer mit der Ruhe«, sagte Yuri. »Wir kriegen das schon wieder hin, Liu. Da lässt doch bloß irgend so ein UN-Arsch den Obermacker raushängen …«
»Du hast keine Ahnung, Yuri. Keinen blassen Schimmer. Thursday October und ich … als ihre Mutter gestorben ist und dann auch ihre Großmutter, hatte sie nur noch mich. Du warst nicht da, als sie klein war. Du hast nicht mitgekriegt, wie wir gelebt haben …«
Das stimmte. Dank seiner zweifachen Passage durch die Luke hatte Yuri effektiv acht brutale Winterjahre übersprungen, die Liu und all jene, die er auf Per Ardua gekannt hatte, durchmachen mussten; sie hatten sich den Herausforderungen gestellt, hatten ihre Kinder großgezogen … Yuri, biologisch gesehen noch in den Fünfzigern, war nicht einmal mehr so alt wie sie. Dass er all ihre Triumphe und Schmerzen verpasst hatte, entwertete irgendwie seinen eigenen Verlust, seine unwiderrufliche Trennung von Beth. Wieder einmal waren alle Bindungen zerrissen worden.
Das hatte jedoch bewirkt, dass er Stef nähergekommen war, die ihr eigenes Leben hinter sich gelassen und mit ihm einen Zeitsprung nach vorn gemacht hatte. Stef fand immerhin Trost in der Wissenschaft, in der fremden Welt, in die sie unversehens geschleudert worden war, in der Erforschung der Geheimnisse der Luken und der von ihnen repräsentierten Technik. Aber Yuris Beziehung zu Liu und den anderen war nie wieder so geworden wie zuvor.
»Tut mir leid«, sagte er jetzt.
Liu sah ihn an, aus seinem eigenen privaten Käfig von Sorge und Ungewissheit heraus. »Wie auch immer.«
Die Nase des Rover hob sich ein wenig, und der Motor brummte; sie begannen mit der langen Auffahrt in das zerklüftete Hochland, das die Markzone kennzeichnete, den Scheitel von Per Arduas gefrorener Gesteinsflut. Unter den ewigen Wolken des Substellarpunkts kamen sie nun zu weiteren Strukturen, die man nach der Entdeckung der Lukenverbindung in den sich erholenden Wald gepflanzt hatte. Dieses Gebiet war für die Abfertigung der Einwanderer reserviert: Lager, umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen, die ersten Orte, zu denen man gebracht werden würde, wenn man durch die Luke kam. Hier wurden die Neuankömmlinge unter Quarantäne gestellt, untersucht und geimpft, dann bekamen sie ihre Grundausstattung einschließlich Kleidung und Startpaket mit lokalem Geld sowie eine elementare Ausbildung und Orientierung – oder sie wurden in ein Internierungslager verlegt, wenn mit ihrem Hintergrund etwas nicht stimmte. Yuri fragte sich manchmal, wie es wohl war, das verwirrende Mysterium des Raumtransports zum Merkur und einen geheimnisvollen transdimensionalen Sprung von einem Stern zum andern absolvieren zu müssen und auf einer fremden Welt zu landen – nur um nach alledem von der Familie getrennt, ausgezogen und in eine Duschkabine gesteckt zu werden.
»Ich hasse diese Lager«, sagte Liu, während sie durch die Zone rollten.
»Ich auch«, gestand Stef. »Ich habe mal ehrenamtlich in einem gearbeitet. Aber ich konnte das Weinen der Kinder nachts in diesen großen Schlafsälen nicht ertragen. Sie wussten nicht, wo sie waren, und hatten schreckliche Angst.«
Yuri sah sie an. »Aber du bist Wissenschaftlerin«, sagte er trocken. »Wir sind dabei, eine interstellare Spezies zu werden. Wir leisten Großartiges. Lohnt es sich nicht, dafür ein bisschen Schmerz zu ertragen?«
»Nicht, wenn Individuen auf dem Weg zu den Zielen einer Spezies leiden«, sagte sie. »Nein. Es muss eine bessere Methode geben, das Gewünschte zu erreichen. Vielleicht mit etwas mehr Geduld.«
Liu seufzte. »Aber selbst die Erbauer haben auf ihre Art Großartiges geleistet. Irgendwie haben sie die Luke gebaut. Zumindest sieht es so aus. Wir haben Spuren ihrer Fabriken und so weiter gefunden, stimmt’s?«
»Ja«, sagte Stef. »Aber sie haben auch ihre Kanäle gebaut. Die Karte in der Luke beweist es, auch wenn wir auf dem Planeten selbst noch keine Spur von ihnen entdeckt haben. Also, das war eine großartige Errungenschaft, die besser zum Wesen der Erbauer passt als so ein Tor zu den Sternen. Was wollten sie mit der Luke? Welchen Nutzen hat ein Planet wie der Merkur für einen Erbauer von Per Ardua? Und doch haben sie ihren Kanälen den Rücken gekehrt und ihre Luke gebaut, und dann … tja, was? Sie haben aufgegeben und sind wieder nach Hause gegangen, wie es scheint. Ebenso gut hätten sie mitten in der Markzone die kilometerhohe Statue eines Erbauers errichten können, die Nase zu Prox gereckt. Wäre auch nicht nutzloser gewesen.«
Das brachte Yuri zum Lachen. »Hübsches Bild. Obwohl sie keine Nasen haben.«
Stef blieb ernst. »Vielleicht ist es kein Wunder, dass die Erbauer so trübselig sind, wie die KolE behauptet. Irgendwie wissen sie, dass ihre Geschichte … komplett falsch ist. Und zwar wegen der Luke, wie es scheint. Ich bin nicht sicher, dass die Luke überhaupt etwas mit den Zielen der Erbauer zu tun hatte, mit ihrem eigenen Schicksal als Spezies. Schließlich benutzen wir nun fröhlich das Merkur-Ardua-Lukensystem, um diese Welt zu kolonisieren. Aber eins haben wir irgendwie vergessen: Wofür auch immer es erbaut worden sein mag, dafür ganz bestimmt nicht.«
»Wozu ist es dann da?«, fragte Liu.
»Ich weiß es nicht. Obwohl ich mich jahrzehntelang mit den entsprechenden Phänomenen beschäftigt habe. Obwohl die Luken schon zur Menschheitsgeschichte gehören.«
»Hm«, machte Yuri. »Tja, ich hoffe, wir leben lange genug, um die Antwort zu finden.«