63

Kalinski führte sie in eine Luftschleuse und von dort auf direktem Wege in einen Rover, der mehr oder weniger denen ähnelte, die Yuri vom Mars gewohnt war. Sobald sie alle angeschnallt waren, nahm Kalinski links auf dem Fahrersitz Platz und erteilte einer Bord-KI mit leiser Stimme Anweisungen.

Der Rover löste sich von der Kuppel und rollte davon. Dabei erhaschte Yuri einen Blick auf einen anderen Rover, der auf die Luken-Kuppel zusteuerte; Gesichter lugten durch die Fenster heraus. Vielleicht weitere Wissenschaftler, für den Fall, dass es weitere Neuankömmlinge geben würde. Und Friedenshüter wahrscheinlich. Das wäre eine typische Reaktion.

Sie holperten über eine unebene, durch felsiges Terrain gehauene Straße. Die winzigen Fenster blickten nach unten, sodass man den Horizont nicht sehen konnte, geschweige denn den Himmel mit dieser riesigen, unheilvollen Sonne. Aber das Licht wurde von exponierten Felswänden und den wenigen menschlichen Artefakten – Wegmarkierungen, Schilder, kleine Messstationen – schmerzhaft zurückgeworfen.

Kalinski drehte sich zu ihren Passagieren um. »Normalerweise fahre ich gern selbst. Aber ich dachte, mit einer so wertvollen Fracht sollte ich lieber kein Risiko eingehen.«

»Danke«, sagte Mardina mit spöttischem Lächeln.

»Ach, komm schon, Mom«, sagte Beth. »Colonel Kalinski ist sehr nett zu uns.« Sie schien ihre Teilschwerkrafts-Übelkeit überwunden zu haben und schaute sich lebhafter um. »Durch diese komischen kleinen Fenster kann ich nicht viel sehen. Ist das wegen der Sonne?«

»Ja«, sagte Kalinski. »Wissen Sie viel über den Merkur, Beth?«

»Bleibt die Sonne an einer Stelle am Himmel, wie auf Per Ardua?«

Kalinski griff den Namen auf. »Per Ardua. Das ist Prox c. Okay. Nein, der Merkurtag dauert zwei Drittel eines Merkurjahres. Das hat mit Gezeitenresonanzen zu tun und führt dazu, dass die Sonne, vom Boden aus gesehen, sozusagen am Himmel umherwandert, erst nach Westen, dann nach Osten. Das ganze Muster wiederholt sich alle zwei Merkurjahre. Das sind einhundertsechsundsiebzig Erdtage.«

»Soweit ich gesehen habe, steht die Sonne hier ziemlich hoch«, sagte Tollemache.

»Das stimmt. Wir sind nah am Äquator, und es ist die lokale Mittagszeit – oder Hochsommer. Die größte UN-Basis befindet sich am Nordpol, auf Borealis Planitia, wo es ewigen Schatten und Eis gibt. Das hier ist das Caloris-Becken, ein riesiger Einschlagskrater. Deshalb ist der Boden so ein Trümmerfeld. Es ist schwierig, hier zu operieren, und wir hätten wohl gar keine ständige Basis an diesem Ort, wenn die Kernel-Flöze nicht wären und man hier nicht die Luke gefunden hätte. Die Arbeit war mit allen möglichen technischen Herausforderungen verbunden.«

Yuri sah, dass sich auf dem verwüsteten Boden draußen etwas bewegte: riesige Kakerlaken mit großen, schillernden Flügeln, wie es schien. Aber es waren Menschen, Astronauten oder Über-Tage-Arbeiter in Anzügen, die segmentierten Rüstungen in leuchtendem Silber glichen. Die Flügel breiteten sich vom Rücken her weit aus. Als der Rover näher kam, richtete sich einer von ihnen auf und winkte. Hinter der goldenen Helmkuppel war kein Gesicht zu erkennen. Yuri winkte verwirrt zurück.

Dann blitzte es vor den Fenstern so grell auf, dass der ganze Innenraum des Rovers erhellt wurde. Beth schreckte zusammen und rieb sich die Augen.

»Verzeihung.« Kalinski betätigte einen Touchscreen, und Abdeckungen schlossen sich über den Fenstern. »Blitzlichter. Ich habe euch ja gesagt, dass es Lecks geben würde. Eure Gesichter sind bestimmt schon im ganzen inneren System zu sehen. Diese Burschen müssen gut bezahlt werden, wenn sie die Disziplinarstrafen riskieren.«

Der Rover wurde langsamer, und Yuri hörte einen dumpfen Aufprall an dem undurchsichtigen Rumpf, als hätte das Fahrzeug irgendwo angedockt. Binnen Sekunden öffnete sich die Luke erneut. Sie führte zu einem hell erleuchteten Tunnel.

»Da wären wir«, sagte Kalinski. »Kuppel Z. Ich muss auch durch die Dekon, weil ich in der Luke war und Kontakt mit euch hatte. Wir müssen uns leider ausziehen. Eure Kleidung wird gereinigt, ihr bekommt sie später zurück. Männer dort entlang, Frauen hier entlang, mir nach …«

Am anderen Ende des Tunnels warteten schwer bewaffnete Friedenshüter in Schutzanzügen auf sie.

Bei Yuri und Tollemache dauerte es vier Tage voller Duschen, Wärmebäder, Untersuchungen ihrer Körperflüssigkeiten, Ganzkörperscans, geschmackloser Mahlzeiten, Befragungen diverser Art und Phasen unruhigen Schlafs, bis die Ärzte schließlich den Mundschutz abnahmen und ihnen die Hand schüttelten. »Es war eine einzigartige Erfahrung, meine Herren. Vielen Dank.«

»Ihr könnt mich mal kreuzweise«, sagte Tollemache. »Wo ist meine Hose?«

Wie sich herausstellte, erhielten sie ihre Kleidung nicht zurück – schon allein, weil die Stängelrindenstofffetzen der Kolonisten die ersten Proben arduanischen Lebens waren, die den Wissenschaftlern im Sonnensystem seit den spärlichen Proben, die die Ad Astra Jahre zuvor mitgebracht hatte, auf direktem Wege in die Hände gefallen waren. Es standen sogar Anthropologen parat, erfuhr Yuri, die es gar nicht erwarten konnten, die Handarbeiten der sich herausbildenden menschlichen Gemeinschaften von Proxima c eingehend zu studieren.

Tollemache bekam eine neue Friedenshüter-Uniform. Yuri fiel auf, dass sie bulliger wirkte als das alte Modell, mit gehärteten Polstern an Schultern, Hals, Ellbogen und Knien und einem für Waffen geeigneten Allzweckgürtel mit Taschen und Schlaufen. Offenbar war das Bewahren des Friedens im heutigen Sonnensystem ein gefährlicherer Job als früher. Yuri seinerseits erhielt einen orangefarbenen Overall wie denjenigen, den er bekommen hatte, als er auf dem Mars aus dem Kryo-Tank geholt worden war. Manche Dinge änderten sich nie.

Man brachte sie in eine Art Salon mit gepolsterten Sofas, einer Bar, an der es Erfrischungsgetränke und Kaffee gab, und einem großen, gegen die Sonne beschatteten Aussichtsfenster mit Blick auf die zerklüftete Oberfläche des Merkurs. Hier wurden sie endlich mit Mardina, Beth und Colonel Kalinski wiedervereint. Mardina kippte bereits literweise Kaffee in sich hinein; sie machte dort weiter, wo sie in der Markzonen-Basis auf Per Ardua aufgehört hatte. Sie trug eine elegante schwarz-silberne Astronautenuniform. Beth hingegen hatte einen orangefarbenen Overall an, wie ihr Vater.

Beth umarmte Yuri. Aber sie lösten sich befangen voneinander – sie waren in fremdartige Kleidung gehüllt und rochen sogar falsch. Yuri rang sich ein unsicheres Lächeln ab.

Er holte sich eine Limonade, die in der geringen Schwerkraft seltsam sprudelte; auf dem Mars hatte er nie Limonade getrunken. »Also, achtundzwanzig Jahre, nachdem ich auf dem Mars aufgewacht bin …«

»Zweiunddreißig«, sagte Kalinski leise. »Ihr Sprung durch die Luke hat weitere vier Jahre gedauert, vergessen Sie das nicht.«

»Scheiße. Und nun stecke ich wieder in einem Overall, wie ein Sträfling.«

Beth kam zu ihm und hängte sich bei ihm ein. »Mach dir nichts draus, Dad. Ich bin auch ein Sträfling.«

»Ja. Der Unterschied ist, dir steht die Uniform.«

»Und ich habe immer noch das hier.« Sie strich über das Tattoo, das ihr halbes Gesicht bedeckte. »Das konnten sie in ihrer Dekon nicht wegschrubben. Aber stell dir vor, sie haben mir angeboten, es gleich hier zu entfernen. Weil ich dann besser reinpassen würde.«

»›Reinpassen‹. Wo denn?«

»Auf der Erde«, sagte Mardina unverblümt.

Beth strich erneut über ihr Tattoo. »Ich bin nicht von der Erde. Ich bin von Per Ardua.«

»Ganz recht, Schätzchen.« Yuri küsste sie auf die Wange. »Wir kriegen das schon irgendwie hin.« Er betrachtete Mardina in ihrer IRF-Uniform. »Überrascht mich, dass du dieses Ding anziehst. Die IRF hat dich auf Per Ardua sitzen lassen.«

Sie sah ihn fest an. »Aber ich bin nicht auf Per Ardua geboren. Das war mein Beruf, Yuri. Das war ich, und das bin ich. Ich bin nach wie vor Offizierin der IRF, hat man mir erklärt. Obwohl sie sich noch nicht darüber im Klaren sind, welchen Rang ich habe; genau genommen bin ich ehrenhaft aus dem Dienst ausgeschieden, als sie mich bei Proxima zurückgelassen haben.«

Tollemache nickte. »Angeblich soll es Gehaltsnachzahlungen geben. Also machen Sie denen ruhig mal ein bisschen Dampf, Jones. Auch wenn wir das Geld wahrscheinlich nicht brauchen – wir werden ja alle ein Vermögen mit dieser Geschichte verdienen.« Er grinste und kippte irgendeinen Fruchtsaft hinunter. »Was haben wir für ein Schwein! Ich wette, diesen Arschlöchern Brady und Keller kommt die Galle hoch, wenn sie davon hören. In ungefähr vier Jahren, schätze ich«, sagte er nachdenklich. »Gut. Dadurch kann ich so viel wie möglich rausholen, bevor ich mit ihnen teile.«

Yuri sah ihn angewidert an. »Wirklich sehr charmant, Tollemache.«

Er lachte nur. »Man muss seine Chancen in diesem Leben nutzen.«

»Gutes Argument«, sagte ein Neuankömmling, ein kleiner, alter, fülliger Mann, der geschäftig hereingeeilt kam. »Ihre Luke, Friedenshüter Tollemache, könnte eine Chance für uns alle sein – eine entscheidende Gelegenheit für die Zukunft zweier Sonnensysteme und für das gesamte Schicksal der Menschheit.« Er war vielleicht in den Achtzigern und trug einen Geschäftsanzug mit schmalen Revers, eine Art Krawatte und glänzende Schuhe aus Lederimitat. Ihm folgte ein weiterer Mann, hochgewachsen, ernst, dünn wie die Stängelgliedmaßen eines Erbauers, in einer gut geschnittenen Astronautenuniform mit Offiziersstreifen am Oberarm.

Kalinski trat mit professionellem Lächeln vor. »Schön, Sie zu sehen, Sir. Ich möchte Sie miteinander bekannt machen. Das ist Sir Michael King …«

Ein pummeliger Geschäftsmann, wie er im Buche stand. Er zwinkerte Kalinski zu. »Ihre Schwester lässt Sie grüßen, Stef.« Dann trat er vor und schüttelte allen die Hand; sein Griff war überraschend fest, der Händedruck eines Arbeiters. »Ich bin Präsident und Vorstandsvorsitzender von Universal Engineering, Inc. Wir sind als Hauptauftragnehmer für die Entwicklung der Ressourcen des Merkurs im Interesse der Staaten und Völker der Vereinten Nationen zuständig.« Er musterte Yuri. »Sie sind der Bursche aus dem Eis, stimmt’s? Rip Van Winkle. Wie nennen Sie sich – Yuri Eden? Nun, ich bin derjenige, dessen Unternehmen nicht nur das Schiff gebaut hat, mit dem Sie zum Mars geflogen sind, sondern auch die Ad Astra, die Sie nach Proxima Centauri gebracht hat. Was sagen Sie dazu?«

»Danke«, sagte Yuri trocken.

»Und ich bin selbst gerade mit einem Jumboschiff vom Mars gekommen, sofort nachdem ich von eurer Ankunft erfahren hatte. Das ist mein engster Mitarbeiter auf dem Merkur«, sagte King und deutete auf den hochgewachsenen Mann im Astronautenanzug.

»Colonel Jim Laughlin, IRF.« Er gab ihnen seinerseits die Hand. »Kommandant der Basis hier in Caloris. Wie Sie sehen, bin ich IRF-Offizier, aber ich bin auch im politischen Auftrag der Vereinten Nationen tätig und letztendlich dem Sicherheitsrat unterstellt.«

»Mein Mannschaftskamerad«, sagte King. Er tat so, als würde er Laughlin ein paar Boxhiebe verpassen. »Oder mein Sparring-Partner. Wir kommen prima miteinander klar.«

Laughlin hob schweigend die Augenbrauen; offenbar war er Kummer gewohnt.

King breitete die Arme aus. »Kommt. Setzt euch. Trinkt noch etwas. Colonel Kalinski, regeln Sie das? Habt ihr Hunger?«

»Wir sind in der Dekon schon ordentlich gefüttert worden«, erwiderte Mardina.

»Womit denn, mit Bariumspeisen? Haha. Hören Sie, ich weiß, es ist hart. Uns ist klar, was ihr durchgemacht habt.«

Beth ließ sich von Kalinski ein Glas Wasser geben. »Sir Michael King?«

»Ja?«

»Was wollen Sie?«

Mardina brach in schallendes Gelächter aus. Selbst Laughlin unterdrückte ein eisiges Grinsen, sah Yuri.

King hatte offenkundig Humor. Er nahm grinsend auf einem Sofa Platz und sah die Gruppe an. »Gute Frage, junge Dame. Nun, mein Kollege und ich, wir sind hier die Chefs. Wir fällen die Entscheidungen, auf die es ankommt. Okay? Wie bei allen Menschen gibt es auf der Erde Leute, die auch an unseren Fäden ziehen, aber hier unten fällen wir die Entscheidungen. Und letzten Endes werden wir Entscheidungen fällen müssen, die …«

»Die uns betreffen«, sagte Tollemache.

»Und die Folgen Ihres Erscheinens in der Luke«, sagte Laughlin bedächtig. »Das für uns ein ebenso großer Schock war wie für Sie. Es ist gerade erst ein paar Tage her. Wir versuchen noch, die Implikationen zu verdauen. In politischer, ökonomischer, sozialer, technologischer und wissenschaftlicher Hinsicht. Obwohl eine derartige Möglichkeit, wie ich gestehen muss – dass die Luken ein Transitsystem sind –, schon in einem Aufsatz von Colonel Kalinski skizziert wurde.«

»Tatsächlich war es ein Aufsatz meiner Zwillingsschwester«, bemerkte Stef Kalinski steif.

»Das war eine gewisse Hilfe. Ich bin sicher, Colonel Kalinski hier wird Ihnen alles über die spektakulären wissenschaftlichen Möglichkeiten erzählen.«

»Aber große kosmische Fragen gehen eher über meinen Horizont«, warf King ein, »wie auch über den meiner politischen Herren und Meister – und den der UEI-Aktionäre. Die erste Reaktion von ganz oben – und was das anbelangt, laufen meine Kommunikationssysteme seit Ihrer Ankunft heiß – betrifft die potenzielle Nützlichkeit dieses Dings. Stellt euch vor, was wir damit machen könnten, falls man durch diesen Lichtgeschwindigkeits-Tunnel von einem Sternsystem zum anderen gehen kann. Der Bau und der Start der Ad Astra haben die Mittel der Vereinten Nationen in erheblichem Maße belastet. Wir waren fest entschlossen, mithilfe unserer Kernel-Technologie Samen auf dem bewohnbaren Planeten von Proxima zu pflanzen, bevor die Chinesen dorthin gelangten. Nun, das haben wir auch getan, aber wir haben uns dabei ziemlich verausgabt. Die Chinesen wären gar nicht erst dazu imstande. Oh, sie könnten wahrscheinlich irgendeine langsame Schaluppe hinschicken, eine große Sonnensegel-Dschunke. Wird Jahrzehnte dauern, bis sie dort eintreffen. Jahrhunderte sogar. Denn, meine Freunde, sie haben keinen Zugang zu einer nach wie vor ausschließlich den UN vorbehaltenen Ressource, nämlich zu den Kernel-Minen hier auf dem Merkur, wo wir die magischen Physik-Bröckchen ausgegraben haben, von denen euer Schiff zu den Sternen geschossen wurde.«

»Aber Sie werden verstehen«, sagte Laughlin, »dass der Luken-Tunnel, falls er sich als sicher und stabil und so weiter erweist …«

»Und falls er in beide Richtungen begehbar ist«, ergänzte Kalinski trocken.

»Dass die Luke ein Weg ist, die Massenkolonisierung des Proxima-Systems viel schneller zu bewerkstelligen.«

Mardina starrte ihn an. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

King grinste. »Es war mir noch nie ernster. Wir müssen sie lediglich zum Merkur bringen und durch die Luke schicken, und schon sind sie im Geschäft.«

Kalinski schüttelte den Kopf. »Aber Sir Michael – genauso hat man die Kernels benutzt, seit sie entdeckt wurden. Wir wissen nicht, wie sie funktionieren. Wir wissen nicht, wozu sie gedacht sind. Und doch graben wir sie aus und kleben sie ans Heck bemannter Raumschiffe. Jetzt haben wir die Luke, offenkundig ein Artefakt intelligenter Wesen, aber wieder wissen wir nicht, wer sie dort platziert hat und wozu sie da ist, geschweige denn, wie sie funktioniert. Sehen Sie nicht, dass wir hier am Rande eines gewaltigen Geheimnisses stehen? Eines Geheimnisses, in das die Menschheit offenbar Schritt für Schritt hineingeht, mit verbundenen Augen.«

Am Rande eines Geheimnisses – oder einer Falle?, fragte sich Yuri.

King schien Kalinskis Worte nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Das verstärkt natürlich nur die politischen Spannungen um den Merkur. Plötzlich ist dieser kümmerliche Planet sogar noch wertvoller als zuvor, als er nur die exklusive Kernel-Quelle war. Jetzt, wo er auch noch das Tor nach Prox c ist, wird der Merkur vielleicht zum wertvollsten Aktivposten des Sonnensystems, abgesehen von der Erde selbst. Das wird zu Belastungen führen, die …«

»Aber Per Ardua ist doch keine Figur in einem Spiel«, brauste Beth auf. »Per Ardua – so heißt der Planet übrigens, nicht Prox c – ist eine Welt mit eigener Geschichte, einheimischem Leben, einer Ökologie und sogar intelligentem Leben.«

»Guter Wortschatz«, sagte Laughlin leise. »Sie haben offenbar eine ordentliche Ausbildung erhalten, Miss Eden-Jones. Man kann Ihren Eltern nur gratulieren.«

Beth funkelte ihn bloß wütend an.

»Es gibt dort sogar eine menschliche Geschichte«, sagte Tollemache jetzt genüsslich. »Fast dreißig Jahre Kolonisierung. Geschichten über Landflucht, Vergewaltigung, Mord und Inzest, bei denen Ihnen die Haare zu Berge stehen würden, Gentlemen. Und ich habe alles beobachtet.«

King ignorierte das und wischte auch Beths Argument beiseite. »Wir sind schon auf dem Mars, dem Titan und an anderen Orten auf Leben getroffen. Wir wissen, wie wir damit umgehen müssen.«

Yuri verdrehte die Augen. »›Damit umgehen‹? Soweit ich mich von meiner Zeit dort erinnere, rücken Sie dem Mars mit Bomben zu Leibe mit den dortigen Lebensformen?«

»Das sind die Chinesen, nicht wir«, betonte King. »Wir werden bestimmt vorsichtiger sein. Es könnte zum Beispiel Parks geben. Schutzgebiete.« Er beugte sich vor. »Aber Sie bringen da wirklich ein gutes Argument ins Spiel, Mister Eden, was die Chinesen und ihre Terraformierung betrifft. Wir können sagen, dass wir sie deshalb nicht auf Padre … äh …«

»Per Ardua.«

»Richtig. Dass wir sie mit ihren die Grundwasserschichten zerstörenden Atombomben nicht darauf loslassen möchten. Deshalb müssen wir zuerst dort sein und den Planeten vor diesen raubgierigen Chinesen bewahren. Die passende Sprachregelung finden wir schon. Dabei werdet ihr vier uns helfen können – vor allem Sie, Miss Eden-Jones.«

Yuri staunte über die geistige Flexibilität des Mannes. Offenbar dachte er sich das alles spontan aus, wenn man in Betracht zog, wie wenig Zeit seit ihrem Auftauchen im Sonnensystem vergangen war. Und doch saß er nun hier und entwickelte aus dem Stegreif geopolitische Strategien. Politiker hatten auf Per Ardua kaum Chancen gehabt, sich erfolgreich zu betätigen, ebenso wenig wie in den UN-Anlagen auf dem Mars, und von der Erde seiner Jugend wusste Yuri nicht mehr viel. King war jedoch offenkundig in seinem Element. Vielleicht war er der Gustave Klein des inneren Systems.

Aber Beth wirkte verblüfft, ja geradezu alarmiert.

Mardina nahm die Hand ihrer Tochter. »Was meinen Sie damit, dass Beth Ihnen helfen wird? Auf welche Weise?«

King ließ den Blick durch den sauberen, weitläufigen Salon schweifen. »Glauben Sie mir, das ist eine Oase der Ruhe hier drin. Da draußen tobt ein Shitstorm, und das wird noch … oh, tagelang so weitergehen. Bis zum nächsten Skandal. Momentan seid ihr vier jedenfalls sehr gefragt. Vor allem Sie, Beth Eden-Jones. Schauen Sie sich doch nur an, Sie sind jung, wunderschön, exotisch – ich liebe dieses Tattoo – und das erste Sternenkind, das ins Sonnensystem zurückkehrt.«

»›Sternenkind‹?«

»Ein Schlagwort, nicht von mir. Wir kehren zur Erde zurück, sobald es geht. Dort wird man Ihnen Buch- und Filmverträge anbieten, Beth, und es wird ein Wettrennen um Ihre Bildrechte geben – wahrscheinlich sind Sie schon jetzt in allen Medien vertreten, personifiziert von unbeholfenen KI-Avataren. Sie werden das menschliche Gesicht von Prox c sein – von Per Ardua, meine ich. Am Ende werden Sie den Planeten im Alleingang retten. Wenn wir es richtig anstellen.

Und ihr«, wandte er sich an die anderen drei, weil er Tollemaches niedergeschlagene Miene bemerkte, »werdet auch nicht leer ausgehen. Wir müssen nur den richtigen Blickwinkel finden. Bei Ihnen, Friedenshüter, vielleicht ›Meine einsame Wache unter Proximas rotem Licht‹ oder so was in der Art.«

»Aber Proxima ist gar nicht rot …«

»Ich kenne da ein paar Leute. Und Sie können natürlich Ihre Karriere in der IRF fortsetzen, Lieutenant Jones.«

Mardina schaute zweifelnd drein. »Nehmen die mich wirklich wieder auf, Colonel Laughlin? In den normalen Dienst, nicht als Aushängeschild?«

»Ich glaube schon. Ich kann Ihren Wunsch nach oben weiterleiten, wenn Sie es so möchten.«

King nickte. Seine schweren Hängebacken pressten sich zusammen. »Ich werde mein Bestes tun, um auch das voranzutreiben.«

Yuri merkte, dass King und Laughlin seinem Blick auswichen. »Und ich, Sir Michael? Auf welche Weise gedenken Sie mich unter Ihre Fittiche zu nehmen?«

Beth schaute schockiert drein. Wie üblich erfasste sie die Implikationen seines Tons sofort. »Wovon redest du, Dad? Ich gehe nicht zur Erde, wenn du nicht mitkommst.«

Mardina strich ihrer Tochter über die Haare. »Die Erde ist schließlich und endlich unsere Heimat, Süße.«

»Deine vielleicht«, sagte Yuri. »Aber nicht meine. Ich lebe hundert Jahre nach meiner Zeit, vergiss das nicht.«

»Was spielt das für eine Rolle, Dad? Ich bin auf einem ganz anderen Planeten geboren. Auf einer Welt eines anderen Sterns! Unsere Heimat ist dort, wo wir alle zusammen sind und in Freiheit leben können.«

Laughlin räusperte sich. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Nicht im Fall von Mister Eden …«

»Wusste ich’s doch«, sagte Yuri.

»Die rückwirkenden Prozesse gegen die Heldengeneration, in der Ihre Eltern solch eine prominente Rolle gespielt haben, gehen weiter. Selbst nach hundert oder mehr Jahren. Und der juristische Standpunkt, dass Strafe vererbbar ist, setzt sich zunehmend durch. Das heißt, es ist rechtmäßig, Nachkommen für die Verbrechen ihrer Eltern oder Großeltern zu bestrafen …«

»Ich hasse den kleinen Scheißer«, knurrte Tollemache, »aber sogar mir ist klar, wie ungerecht das ist.«

King breitete die Hände aus. »Das ist nun mal der Zeitgeist, Friedenshüter. Einige dieser Nachkommen sind dank der globalen Verbrechen ihrer Eltern sehr reich geworden. Das ist das Argument der Anklage, verstehen Sie, nicht unbedingt meine eigene Position. Außerdem hegt man aufgrund der Möglichkeiten der Gentechnik, illegaler Psycho-Downloads und so weiter den Verdacht, dass einige dieser Nachkommen in Wirklichkeit Angehörige der Heldengeneration sind. Sie sehen also …«

»Wenn ich zur Erde zurückkehre«, sagte Yuri ausdruckslos, »werde ich nicht frei sein.«

»Natürlich kommen Sie nicht ins Gefängnis«, sagte Laughlin. »Nennen wir’s Hausarrest. Überwachung. Für die Dauer des Verfahrens werden Sie beaufsichtigt und in Ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.«

»Man wird mich wegen irgendeines angeblichen Verbrechens meiner längst toten Eltern vor Gericht stellen, die mich für achtzig Jahre in ein Eisfach gesteckt haben.«

»Selbst das ist strittig«, sagte King. »Manche Staatsanwälte würden argumentieren, Ihre Eltern hätten das in der Hoffnung getan, dass Sie dadurch einem Strafverfahren entgehen. Und …«

Yuri hörte nicht mehr zu. Er würde also für den Rest seines Lebens von Mauern aus Kunststoff und Metall umgeben sein, und die Menschheit würde jeden seiner Schritte argwöhnisch beobachten.

Er schloss die Augen und dachte an jenen Tag zurück, als das Shuttle gelandet war und er zum ersten Mal den Fuß auf die Oberfläche von Proxima c gesetzt hatte. Da waren keine Zäune, keine Kuppelwände gewesen, nur eine trockene Ebene, und er war einfach losgerannt, immer weiter, bis er außer Sichtweite jedes anderen menschlichen Wesens im Universum gewesen war. Er stellte sich vor, wie er dahinrannte, mit Beth an seiner Seite. Ich hätte genauso gut auf dem Mars bleiben können.

»Ich gehe zur Erde«, sagte Mardina rundheraus. »Tut mir leid, Yuri. Was immer das für dich bedeutet. Dort ist mein Leben, war es immer. Und Beth kommt mit mir. Sie wird ein besseres und längeres Leben haben denn als Gebärmaschine auf Per Ardua. Das weißt du.«

Beth sah ihren Vater in wachsendem Entsetzen an. »Dad?«

»Ich kann euch nicht begleiten«, sagte Yuri leise. »Ganz gleich, unter welchen Bedingungen. Ich würde nicht überleben.«

»Nein, Dad!« Beth wäre zu ihm gekommen, aber Mardina hielt sie am Arm fest.

Sie sahen ihn jetzt alle an. Laughlin wirkte verlegen, King hatte eine Miene heuchlerischen Mitgefühls aufgesetzt, Colonel Kalinski schien ehrlich schockiert und bekümmert zu sein, und sogar Tollemache zeigte so etwas wie bärbeißigen Respekt.

King breitete die Hände aus. »Was werden Sie dann tun, Yuri Eden? Wohin werden Sie gehen?«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit: an den einzigen Ort zurückzukehren, wo ich jemals frei gewesen bin.«

»Dad …«

Laughlin beugte sich vor. »Sie wollen durch die Luke zurückkehren?« Er warf Kalinski einen Blick zu. »Geht das? Ist es sicher?«

»Wir wissen es nicht, Sir. Wir haben es noch nicht versucht.« Sie sah King an. »Trotz all unserer Ideen und Pläne von einer Völkerwanderung durch die Luke. Ich wüsste allerdings nicht, warum es nicht gehen sollte. Also, wenn es Ihnen ernst damit ist, Mister Eden …«

»Ja?«

»Dann komme ich mit.«

King schnaubte. »Sind Sie verrückt? Sie werden vier Lichtjahre von Ihrer Heimat entfernt landen. Und nach einem weiteren Sprung mit Lichtgeschwindigkeit noch mal vier Jahre in der Zukunft.«

»Ich weiß. Das ist mir klar. Aber es hat wissenschaftliche Gründe, Sir. Jemand muss es als Erster versuchen – ich meine, auf geplante, wissenschaftliche Weise. Wir müssen wissen, ob die Verbindung funktioniert, ob sie stabil ist. Und wir müssen wissen, wie sie funktioniert. Ich meine, wir beobachten diese Luke nun schon seit Jahren, hatten aber nie den Mut oder die Fantasie, den nächsten Schritt zu wagen, so wie Sie es getan haben, Yuri. Hindurchzugehen. Nun, jetzt ist es an der Zeit. Und wer wäre besser geeignet als ich?«

»Sie ist IRF-Offizierin«, hob Laughlin hervor. »Und obendrein die Einzige, die man zumindest halbwegs als Expertin bezeichnen kann. Zusammen mit ihrer Schwester, natürlich. Es kommt zwar ein bisschen plötzlich, aber ihre Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, Sir Michael.«

Tollemache schüttelte den Kopf. »Ich kapier’s einfach nicht. Sie haben doch die Bilder gesehen, die ich geschickt habe. Prox c ist ein Dreckloch. Und eins kann ich Ihnen sagen: Diese zwangsrekrutierten Kolonisten, die man rüberschicken will, das ist der zusammengekratzte und durchgeschaufelte Abschaum der Megacitys und der Slums, genauso wie beim Mars. Warum wollen Sie freiwillig dorthin, eine Intelligenzbestie wie Sie?«

Stef warf Yuri einen raschen Blick zu. »Persönliche Gründe. Weil es für mich dort besser sein wird als hier. Genau wie für Sie, Mr. Eden.«

Für Yuri und seine Familie war das nur der Anfang einer Diskussion, die tagelang tobte. Aber er kannte Mardina; von dem Moment an, als sie gesagt hatte, sie würde mit Beth auf der Erde bleiben, hatte er trotz Beths Tränen gewusst, dass seine Familie verloren war. Für ihn gestorben. Und dass sie bald durch eine Barriere undurchdringlicher Zeit von ihm getrennt sein würde, so wie sich seine Eltern zuvor von ihm getrennt hatten.

Er aber würde nach Hause gehen.