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Als er die KolE endlich einholte, war sie schon auf dem Rückweg zur Siedlung. Mardina saß auf ihrer Frontpartie, an die durchsichtige, kuppelförmige Abdeckung gelehnt. Während die KolE dahinrollte, bearbeiteten ihre unendlich anpassungsfähigen Manipulatorarme Mardinas Bauch, massierten ihn mit ausholenden, schwungvollen Abwärtsbewegungen.
Yuri trabte neben ihr her. »Alles in Ordnung?«
»Wie sieht’s denn aus?«, knurrte sie zurück. »Die Fruchtblase ist geplatzt. Ich hatte ein paar Wehen. Und mein Rücken bringt mich um.«
»Wir haben alles im Griff«, sagte die KolE ruhig, während sie so schnell dahinrollte, wie sie es vermutlich wagte.
»Halt du die Klappe.«
»Hier.« Yuri zog seinen Kittel aus Stängelrinde aus, rollte ihn zusammen und schob ihn Mardina hinter den Rücken. Zumindest das akzeptierte sie. »Was kann ich sonst noch tun?«
»Du kannst dich verpissen und alles mir und meinem Robodoc hier überlassen. Ich – autsch – oh, du kleiner Mistkerl!«
»Lauf voraus, Yuri Eden«, bat die KolE. »Wir werden das Haus benutzen; bitte bereite es vor, wie wir es geplant haben.«
»Nun mach schon«, blaffte Mardina, »du … au!«
Also lief Yuri voraus.
Sie hatten das alles geprobt. Er räumte seine eigenen Sachen im Haus zusammen und brachte sie in eines der Lagerhäuser, dann rückte er Mardinas Bett näher an die Tür und zündete in der Herdstelle ein Feuer an. Er vergewisserte sich, dass ihre gesamte noch vorhandene medizinische Ausrüstung aus IRF-Beständen nahe bei Mardinas Bett bereitlag. Außerdem verbreiterte er den Eingang, indem er ein paar Platten entfernte, die sie vorher extra eingesetzt hatten, um zu gewährleisten, dass die KolE Zugang zum Haus hatte, wenn es nötig war.
Als die KolE eintraf, ließ Mardina nicht mit sich reden. »Raus, Eisjunge. Ich will nicht, dass du auch nur in meiner Nähe bist.«
»Es ist auch mein Kind …«
»Aber mein verdammtes Becken. Raus, raus!«
»Ich glaube, es ist am besten so, Yuri Eden«, sagte die KolE leise.
»Schon gut, schon gut.«
»Ich rufe dich, wenn …«
»Ich sag’s doch, schon gut.« Yuri stampfte hinaus.
Er musste zusehen, wie sich die KolE vorsichtig ihren Weg ins Haus bahnte; sie passte nicht ganz hinein, und Yuri drapierte auf ihren Wunsch eine Plane über ihre hervorstehende Rückseite, um den Eingang zum Haus zu verschließen.
Danach sah er nichts mehr von der Geburt.
Die Wehen dauerten Stunden und hörten sich schwierig an. Nicht dass Yuri schon irgendwelche Erfahrungen mit solchen Dingen gehabt hätte. Er hörte Schreie und Weinen und die ruhige Stimme der KolE, die ihre Patientin eindringlich aufforderte zu atmen, zu atmen.
Nach einer Weile schlenderte er davon, auf der Suche nach einer Aufgabe, die ihn vielleicht ablenken würde, auf den Feldern, in dem zur Werkstatt umfunktionierten kleinen Lagerhaus. Alles kam ihm belanglos vor. Das einzig Wichtige in seinem Universum, das Einzige, was auf dieser Welt zählte, geschah in dem Haus, das er zusammen mit Mardina gebaut hatte, und er konnte nichts tun, um darauf Einfluss zu nehmen.
Aus einem spontanen Impuls heraus verließ er das Lager und lenkte seine Schritte wieder zum See.
Eine Wolke der Niedergeschlagenheit sammelte sich um ihn. Wozu war er nutze? Er lebte nun schon seit vier Jahren auf Per Ardua. In einer kurzen, chaotischen Phase voller unbeholfenem, nur halbwegs befriedigendem Sex hatte er alles getan, was Mardina je von ihm gebraucht hatte oder je brauchen würde. Er fühlte sich, als besäße er keine Identität – und die besaß er auch nicht, nicht seit seine Eltern ihn in Manchester in den Kryo-Tank gesteckt hatten. Selbst hier, in dieser kleinen Zwei-Personen-Kolonie, spielte er keine Rolle, jedenfalls keine wesentliche, nicht, wenn es wirklich darauf ankam. Seit er auf dem Mars erwacht war, befielen ihn immer wieder einmal solche Anwandlungen. Im Allgemeinen kämpfte er mit Arbeit gegen sie an. Allein war es schwerer.
Er erklomm eine Klippe, von der aus er einen guten Blick auf den See hatte. Er sah die Dämme und das bis zum Rand mit Wasser gefüllte Überschwemmungsgebiet hinter ihnen im Norden und die seltsam geformten Haufen im Süden. Von hier aus hatte er den klaren Eindruck, dass die Anordnung der Haufen in Wirklichkeit ein integriertes System ergab, als ob all diese Bauwerke einem einzigen Zweck dienten. Und er sah die undeutlichen Bewegungen von Erbauern am Nord- und Südufer; sie kreiselten umher, folgten einander und versammelten sich zu kleinen Gruppen, die sich rasch wieder auflösten und woanders neu formten. Mardina hatte recht; sie arbeiteten auf etwas hin, auf irgendeine große Phase des unbekannten Projekts, das sie gerade durchführten.
Und natürlich ignorierten sie alle den Menschen, der allein auf dieser Klippe stand und sie beobachtete, diesen Besucher von einem anderen Stern. Wirklich erstaunlich – als hätten ägyptische Sklaven weiter an ihren Pyramiden geschuftet, ohne das silbrige Ufo zu beachten, das im Schatten der Sphinx gelandet war. Aber warum sollten sie ihm auch Beachtung schenken? Er war seinen eigenen Leuten egal und immer egal gewesen; warum sollte er diesen Außerirdischen also nicht egal sein?
Er hörte so etwas wie ein Knacken.
Er sah, wie von einem dieser Dämme im Norden eine Gischtfontäne emporspritzte, als wäre er plötzlich gebrochen. Hatte er versagt? Doch dann ertönte ein weiteres Knacken, wie ein Kanonenschuss, und noch eines, und er sah bei anderen Dämmen weitere dunstige Gischtfontänen in die Luft steigen und hörte ein Tosen.
Es war kein Unfall. Jemand hatte dafür gesorgt, dass diese Dämme alle zur gleichen Zeit versagten, oder sie wurden absichtlich zerstört, einer nach dem anderen, und das Tosen, das er hörte, war der Strom des freigesetzten Wassers; die gewaltigen, hinter den Dämmen gefangenen Fluten mussten sich jetzt in den See ergießen. Aber warum geschah das alles?
Und dann plötzlich ein Knall, hinter ihm.
Er drehte sich um und schaute zum Lager zurück. Eine weitere Leuchtkugel war abgefeuert worden; über ihrem kegelförmigen Haus stieg ein Funke orangefarbenen Lichts in den Himmel.
Er kletterte von der Klippe herab und rannte zurück, so schnell seine Füße ihn trugen.
Als Yuri eintraf, rollte die KolE gerade rückwärts aus dem Haus. Sie hielt ein Bündel von Decken. Yuri hätte sich nie vorstellen können, dass ein Bündel Manipulatorarme eines Killer-Roboters so viel Zärtlichkeit auszudrücken vermochte.
Die KolE begann unvermittelt, laut zu sprechen. »Was für ein hässliches Kind! Geradezu eine Monstrosität. Und es wird sich sein Leben lang schlecht benehmen, das sehe ich ihm einfach an, und nichts als eine Last für seine unglücklichen Eltern sein …«
»KolE! Was, zum Teufel, machst du da?«
In normalem Tonfall sagte sie: »Ich befolge Mardina Jones’ Anweisungen, Yuri Eden. Ich verscheuche die bösen Geister, die in böswilliger Hoffnung jeder Geburt beiwohnen. Und jetzt …« Vorsichtig, langsam, wie ein schweres Orbitalschiff, das behutsam an eine Raumstation anzudocken versuchte, gab die KolE Yuri das Baby.
In dieser Sache hatte Yuri selbst einige Anweisungen erhalten, er hatte sogar mit Kleider- und Deckenbündeln geübt, beaufsichtigt von einer strengen Mardina, und er wusste, wie er das Kind halten, wie er dessen Kopf stützen musste. Tief in der Masse von Decken war ein kleines, verschrumpeltes, rosafarbenes, feuchtes Gesicht mit geschlossenen, aufgedunsenen Augen und von Flüssigkeit angeklebten Haaren. Die Haare waren so schwarz wie die seiner Mutter, aber auch so glatt wie die seines Vaters. Als Yuri auf das Kind hinabschaute, spürte er, dass sich etwas in ihm verschob und zerbrach, als gäbe es auch in seinem Innern einen einstürzenden Damm.
»Beth«, sagte die KolE. »Ihr Name ist Beth Eden-Jones. Der Mutter geht es gut. Mardina wird versuchen zu schlafen, aber sie hat gesagt, dass sie dich sehen möchte.«
»Danke.«
»Es war meine Aufgabe. Aber ich weiß es zu schätzen, dass du das gesagt hast, Yuri Eden.«
Eine Erinnerung schwebte zur Oberfläche von Yuris Geist empor, weit weg und nahezu bedeutungslos. »Du solltest vielleicht mal einen Blick auf den See werfen.«
»Den See?«
»Da hat sich etwas getan, während du dort drin bei Mardina warst.«
»Mache ich. Geh die Mutter besuchen, Yuri Eden.« Sie drehte sich um und rollte davon, in Richtung des Sees.
Yuri betrat das Haus. Die Plane, die er aufgehängt hatte, um den Rumpf der KolE zu bedecken, baumelte immer noch von ihren Haken und schloss den Tag aus. Im Innern des Hauses hing der Geruch von Blut und Körpern, von Antiseptika und dem noch immer brennenden Feuer – ein Stängelgeruch, der plötzlich und sehr deutlich an die Erbauer erinnerte, als wären diese trübsinnigen, beharrlichen Geschöpfe hier im Haus, um ein Wiegenlied zu singen. Mardina lag ausgestreckt auf ihrem Bett. Sie sah erschöpft aus, war jedoch gesäubert – frisches Nachthemd, zurückgekämmte Haare, gewaschenes Gesicht. Sie lächelte, als Yuri mit dem Baby über ihr stand. Er sah, dass das von der KolE angefertigte Kinderbett, ein Gebilde aus arduanischen Stängeln, neben ihrem Bett bereitstand.
»Willst du irgendetwas?«, fragte er.
»Nein. Oder doch, schlafen – in einer Minute. Ich wollte dich bloß sehen.«
»Das Netteste, was du je zu mir gesagt hast, Astronautin.«
»Treib’s nicht zu weit, Eisjunge.«
»Das ist also Beth.«
»Der Name meiner Mutter. Irgendwelche Einwände?«
»Natürlich nicht. Ich dachte nur, der Name deiner Mutter wäre irgendwie …«
»Exotischer? ›Elisabeth‹ hat man sie in dem Internat genannt, in dem sie nach den Umsiedlungen wegen der Austrocknung aufgewachsen ist. Sie wurde von ihrer eigenen Mutter getrennt. Hat ihren Geburtsnamen nie gekannt.«
»Also, dann Beth.«
»Klar … Was empfindest du, Yuri?«
Er versuchte, es in Worte zu fassen. »Als wäre ich durch eine weitere Tür gegangen.«
»Dein Leben hat sich schon wieder verändert, hm? Also, hier ist sie. Phase eins des großen Plans, weißt du noch? Unsere Rentenversicherung und die Lenden der nächsten Generation.«
»Sie ist nichts von alledem. Sie ist Beth.« Er schaute auf das Baby hinab, auf dieses Stück von ihm selbst. »Nichts von diesem Adam-und-Eva-Quatsch. Ich … wir, wir beide werden sie beschützen und aufziehen und dafür sorgen, dass sie ein so erfülltes Leben hat, wie sie es verdient.«
Mardina hob schwach den Kopf. »Das ist ein großes Versprechen, Eisjunge. Ich meine, wie kann sie sich zum Beispiel jemals verlieben? Im Gesamtbild hat sich nichts verändert, Yuri. Wir sitzen immer noch allein hier fest.«
»Eine weitere Tür wird sich öffnen«, sagte Yuri ruhig. »Genauso wie zuvor. Und ich werde hindurchgehen und Beth und dich mitnehmen.«
Mardina lächelte. »Weißt du, jetzt, in diesem Moment, glaube ich dir. Aber das liegt wahrscheinlich bloß an den Medikamenten. Lass mich schlafen und wieder auf die Beine kommen, dann trete ich dir richtig in den Arsch.«
»Ich lege sie in ihr Bettchen …«
Aber Mardina hatte sich schon zurücksinken lassen und war weggedämmert.