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Stef Kalinski wurde auf die Erde bestellt. Genauer, ins Büro von Sir Michael King in der Konzernzentrale von Universal Engineering, Inc., in Solstice, Nordwest-Territorien, Vereinigte Staaten von Nordamerika.
Bestellt. Auf diese Weise herrisch irgendwohin zitiert zu werden, war äußerst ärgerlich.
Major Stef Kalinski, neunundzwanzig Jahre alt, war jetzt ordentliche Professorin an ihrer Heimatuniversität in Vancouver sowie Offizierin der Internationalen Raumflotte. Sie hatte hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Der Weg zu einem höheren Dienstgrad in der IRF war unglaublich nervig gewesen, und um von ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr an zwei berufliche Laufbahnen gleichzeitig verfolgen zu können, hatte sie auf einen solchen Luxus wie ein Privatleben verzichten müssen. Nur über die IRF hatte sie jedoch an eine Stellung in jenem exklusiven Labor kommen können, in dem man sich mit der exotischsten der Menschheit bekannten Physik beschäftigte: der Wheeler Research Facility in Jules Verne, einem Krater auf der Rückseite des Mondes, dem einzigen Ort im Sonnensystem, wo man die Möglichkeit hatte, ein Kernel gründlich zu untersuchen – außer man durfte auf den Merkur hinunter, und das durfte sie nicht.
Ihre Strategie hatte sich ausgezahlt. Sie war jetzt ziemlich hoch angesehen; das zeigte schon die Liste ihrer Publikationen und ehrenvollen Erwähnungen. Ihr gefiel der Gedanke, dass ihr Vater, wenn er noch lebte, stolz auf sie gewesen wäre, auch wenn sie nun ausgerechnet jenes Phänomen erforschte, das seine eigene Karriere ruiniert hatte – aber er war schon vor Jahren gestorben, in einem offenen Gefängnis am Rand der versteppten Zentralregion Frankreichs.
Und nun war diese »Einladung« gekommen – mit festgelegtem Ort und Zeitpunkt und sogar den dazugehörigen Clipper-Tickets, noch bevor sie sich bereit erklärt hatte, ihr Folge zu leisten.
Aber es war eine Aufforderung von Sir Michael King persönlich. Nach Jahrzehnten an der Spitze war King noch immer der große Zampano bei der UEI, die ihrerseits – dank der immensen Gewinne aus den Patenten auf die Kernel-Technologie – noch immer den Löwenanteil der Kosten von Verne trug, einer nominell von den Vereinten Nationen betriebenen Einrichtung. Und wie einige ihrer Kollegen halb im Scherz bemerkt hatten, stand hinter King angeblich die schattenhafte Gestalt von Erdschein, einer der mächtigen Künstlichen Intelligenzen, die seit fast einem Jahrhundert über einen großen Teil des Planeten herrschten. Mit Erdschein legt man sich nicht an, sagten sie im Scherz. Oder halb im Scherz.
Stef hielt sich an den Grundsatz, solches Geschwätz zu ignorieren und sich darauf zu konzentrieren, was sie wollte. Mit elf Jahren war sie an ebenjenem Tag dabei gewesen, als die International-One, der erste Jumbo der UEI, von den sonnenverbrannten Ebenen des Merkur schwerfällig ins All emporgestiegen war. Jetzt flogen diese Schiffskolosse mit ihrem Kernel-Antrieb kreuz und quer durchs Sonnensystem und waren sogar schon zu den Sternen aufgebrochen. Aber sie durfte nicht auf den Merkur, wo die Kernels waren. Wegen der Spannungen mit den Chinesen, die noch immer keinen Zugang zur Kernel-Technologie hatten, waren die Sicherheitsmaßnahmen um die Kernel-Minen herum ungemein streng, zu streng für sie. Wenn dies nun eine Tür war, die sich einen Spaltbreit öffnete, eine Chance, näher an die Kernels heranzukommen, nicht nur an die harmlose Handvoll, die mit Genehmigung der UEI zum Mond gebracht worden waren – nun, dann musste sie sie ergreifen.
Also packte sie eine Tasche.
Der Abflug vom Mond mit dem Raketenschiff war unspektakulär.
Die Crew des UEI-Clippers aktivierte kurz die Triebwerke, um die Mondumlaufbahn zu verlassen, und begab sich auf eine antriebslose Flugbahn zur Erde. Auf dieser energiesparenden Bahn würde Stef drei Tage brauchen, um vom Mond zur Erde zu gelangen, so wie Armstrong und Aldrin in der Apollo 11 vor fast genau zweihundert Jahren. Und so würde es bleiben, obwohl die Menschheit jetzt Schiffe baute, die leistungsfähig genug waren, um sogar die Sterne zu erreichen. Durch internationale Vereinbarungen war geregelt, dass im Erde-Mond-System ausschließlich Minimalenergie-Strategien zum Einsatz kommen durften. In der Zeit der Heldengeneration, als man die ersten wirklich großen Konstruktionen in der Erdumlaufbahn gebaut hatte, war deutlich geworden, wie zerbrechlich die Erde angesichts interplanetarischer Energien war. In einigen wenigen Fällen hatte man sogar die Geo-Engineering-Technologie selbst zur Waffe gemacht: So waren feindliche Staaten beispielsweise mit Dürren und Überschwemmungen traktiert worden.
Immerhin waren die Bordeinrichtungen jetzt ein wenig höher entwickelt als zu Apollo-Zeiten – einschließlich des abgeschotteten Liebesnests am hinteren Ende der Hauptpassagierkabine, das einige ihrer Mitreisenden eifrig nutzten und das Stef ignorierte. Sie versuchte zu arbeiten. Und sie verbrachte lange Stunden im kleinen Sportraum des Schiffes, wo sie auf Mikroschwerkraft abgestimmte Geräte benutzte – sie spannte die Muskeln im Kampf gegen elastische Gurte und versuchte, eine Art Roboter-Sumo-Ringer wegzuschieben –, um ihren Körper nach den Jahren in Verne auf dem Mond auf die Erdschwerkraft vorzubereiten.
Am Ende des dreitägigen Transits streifte der Clipper die Erdatmosphäre und setzte kurz seine Bremsraketen ein, um in eine Planetenumlaufbahn mit hoher Inklination zu gehen. Von dort aus würde er den Sinkflug antreten, um in der jungen Stadt Solstice im fernen Norden Kanadas zu landen. Es war ein Routinemanöver; alle Passagierraumhäfen der Erde lagen heutzutage in hohen Breitengraden, weil sich dort die vorherrschenden Großstädte befanden, obwohl kommerzielle und militärische Frachten immer noch von energieeffizienteren, aber klimatisch problematischeren äquatorialen Orten wie Kourou aus in den Weltraum transportiert wurden. Und während der Clipper in großer Höhe seine Bahnen um die Erde zog und auf die endgültige Landeerlaubnis wartete, hatten die Passagiere einen guten Blick auf einen großen Teil der Oberfläche des Planeten.
Infolge der Klimaschocks des letzten Jahrhunderts und der davon ausgelösten gewaltigen Umbrüche war das Antlitz der Erde in ständigem Wandel begriffen. Sonnenenergie-Parks breiteten sich in den flachen Gewässern der überfluteten Ufer und Flusstäler an den stark veränderten Küsten aus, in die sich der ansteigende Meeresspiegel hineinfraß; weitläufige künstliche Wiesen aus genmanipuliertem Gras speisten Energie aus modifizierter Fotosynthese in die Stromnetze ein. All dies war Bestandteil einer bewussten globalen Anstrengung, den Einsatz aller anderen Energiequellen auf dem Heimatplaneten außer dem Sonnenlicht auf ein Minimum zu beschränken, weil jede andere Methode eine Zufuhr zusätzlicher Wärme ins globale Gleichgewicht der Welt bedeutete.
Im Inneren der Kontinente waren zugleich die Regionen in den mittleren Breiten weitgehend verlassen worden, als die Gletscher verschwanden, die wasserführenden Schichten erschöpft waren und der Regen einfach aufhörte. Während sie über die trockenen Ebenen von Amazonien, Südeuropa, Asien und sogar vieler Gebiete der alten Vereinigten Staaten hinwegflogen, sah Stef außer ausgedehnten Solarparks nur wenige Spuren der modernen Menschheit. Imposante alte Großstädte glitzerten noch im starken Sonnenschein, aber nichts bewegte sich mehr in ihnen, nur Archäologen und Historiker, Arbeiter von Rohstoffgewinnungsfirmen und ein paar Extremtouristen auf Erkundungstour in verlorenen Städten, die für die heranwachsende Generation bereits halbe Legenden waren: New Orleans, Saigon, Venedig, selbst die atomar verseuchten Überreste von Mumbai.
Die großen, von den Schocks ausgelösten Bevölkerungsanpassungen waren weitgehend abgeschlossen; die Pandemien waren vorbei, die Flüchtlingsströme geschrumpft und politische Allianzen, sogar nationale Grenzen, neu gezogen. Jetzt wuchsen neue Generationen in brandneuen Großstädten heran, errichtet in Breiten, die früher einmal als zu extrem betrachtet worden wären, im hohen Norden und sogar im tiefen Süden, an der Küste einer zunehmend eisfreien Antarktis. Städte wie Solstice in der Nähe der Küste des Großen Bärensees, genau auf dem nördlichen Polarkreis, in einem nördlichen Staat der neuen Vereinigten Staaten von Nordamerika, in die Kanada nach umfangreichen Zugeständnissen seines schwer geprüften südlichen Nachbarn aufgenommen worden war.
Eine Stadt, auf die der Mondclipper nun zum endgültigen Landeanflug zuhielt.