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Beth, Freddie und einige weitere Jugendliche packten ihre Rucksäcke und brachen nach Westen auf, um den See zu umgehen.
Die anderen schlugen ihr Lager auf, wie sie es immer taten: Sie richteten Feuerstellen ein, hoben Schutzräume und Latrinengräben aus, bauten ihre Tipis und Häuser auf. Die Transporter, für diese simplen Tätigkeiten von der KolE aus ihrer unmittelbaren Kontrolle entlassen, machten sich ans Werk, pflügten ein weiteres Stück arduanischen Bodens auf und legten Felder an, die groß genug für eine rasche Ernte waren.
Die KolE selbst rollte unterdessen zum See, wo es ausgedehnte Stängelbeete und Erbauer-Gemeinschaften mit ihren üblichen Kinderstuben, Haufen, Dämmen, Wehren und Fallen gab – fast wie bei den Erbauer-Projekten am jilla-See, dachte Yuri. Nichts deutete jedoch darauf hin, dass die hiesigen Erbauer den See insgesamt umzuleiten versuchten. Die KolE beobachtete die Erbauer geduldig, sah sich ihre Bauwerke an, kommunizierte sogar in ihrer Manipulatorarm-Marionetten-Erbauersprache mit ihnen.
Als Beth und die anderen vom See zurückkamen, gab Mardina ihnen eine Lagernacht frei, damit sie sich erholen, etwas essen und sich waschen konnten. Dann berief sie einen Kriegsrat ein.
Die Kerngruppe bestand aus Mardina, Yuri, Delga, Liu Tao und Mattock. Sie versammelten sich um eine Feuerstelle, in der kein Feuer mehr brannte, deren Fundamentplatten aus Basaltgestein jedoch noch heiß genug waren, um einen Topf Nesseltee zu erwärmen. Ein rundes Dutzend anderer Erwachsener versammelte sich in der Nähe, um zuzuhören; sie dösten, erledigten Routinearbeiten, und Kinder rannten zu ihren Füßen umher. Die anderen blieben weg, arbeiteten oder machten in der Hitze ein Nickerchen. Die KolE rollte ebenfalls herbei, schweigend und massiv, ihr Rumpf und die Manipulatorarme schmutzig vom Mutterboden, den sie bearbeitet hatte.
Endlich tauchten Beth und Freddie auf, nackt bis auf Streifen von Stängelrindenstoff um die Hüften und abgetragene Rindensandalen an den Füßen.
Beth schenkte sich graziös einen Becher Tee ein. Sie war jetzt zwanzig Jahre alt, und als sie sich bewegte, bemerkte Yuri, wie die Männer in der Gruppe auf ihre schlanke, anmutige Gestalt reagierten. Die Tätowierungen auf ihrer dunklen, schweißglänzenden Haut waren deutlich zu erkennen: Im Gesicht trug sie eine ähnliche Maske wie Delga, aber weniger streng und stärker stilisiert, und auf dem Rücken eine Art Sonnenrad, einen Proxima-ähnlichen Stern, der über einem nach oben gewandten menschlichen Gesicht hing. Mit ihrer Mutter hatte sie regelrechte Schlachten darüber ausgefochten; Mardina, die ehemalige Astronautin, assoziierte Tattoos mit Gangs, Drogen und Kriminalität. Aber die meisten Jugendlichen, vor allem die aus der Müttergruppe, die mit der Mode angefangen hatte, trugen Tattoos der einen oder anderen Art. Es war so ziemlich die einzige Kunstform, die sie ausüben konnten, und auf jeden Fall die einzige, deren Produkte sie auf ihrer endlosen Wanderung mitnehmen konnten. Yuri hatte sich aus dem Streit herausgehalten. Delga, das Postergirl der Tätowierten, hatte bloß gelacht.
»Also«, sagte Yuri auffordernd zu Beth. »Ihr seid früher zurück, als ihr dachtet.«
»Ja.« Beth saß in der Hocke da, nippte an ihrem Tee und schaute selbstsicher in die Runde. »Ihr wisst, wir hatten gehofft, den See ganz umrunden zu können. Wir sind von der Nordseite aus nach Westen gegangen, um den halben See herum, bis zum Südufer. Dort sind wir auf einen Fluss gestoßen, den wir nicht überqueren konnten, einen starken Strom, der aus dem höher gelegenen Gelände im Süden herunterkommt.«
Freddie fuhr fort. »Das Flusswasser strömt direkt in den See. Man konnte die Mischung der Farben sehen, den Schlamm, den es aufwirbelt.«
»Okay«, sagte Mardina. »Und kann man weiter nach Süden gehen?«
»Man könnte dem Flusstal folgen«, sagte Beth. »Aber es scheint ganz schön eng zu werden, und es gibt einen steilen Aufstieg.« Sie grinste Yuri an. »Da ist ein Wasserfall, Dad! Den solltest du sehen. Dahinter steigt der Boden dann einfach an, und da ist eine Art Wald. Nicht wie die Bäume zu Hause.« Damit meinte sie den Ort, wo sie geboren war, in der Nähe der imposanten Wälder des fernen Nordens. »Die hier sind klein, mit vielen vom Wind zerzausten Zweigen. Es ist heiß und dunstig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das Gelände dort jemals roden und dort leben. Aber …«
»Ja?«
Sie grinste. »Wir haben weitere Reifenspuren gesehen. Sie führen nach Süden, in diesen Dschungel hinein.«
»Da drin muss es irgendeine Basis geben«, sagte Mardina leise. »Eine technologisch hoch entwickelte Basis, die gemütlich an diesem zentralen Punkt des Planeten hockt, während wir anderen im Dreck scharren.« Sie warf einen Blick zum wolkenbedeckten Himmel hinauf. »IRF. Vermutlich aus dem Orbit versorgt. Vielleicht wird die Besatzung sogar durch die zurückkehrende Ad Astra oder ein anderes Schiff abgelöst. Herrje. Ich hatte die ganze Zeit recht. Sie sind nie weggegangen.«
Delga grinste. »Tja, also, wir gehen rein und sehen nach. Richtig?«
»Wenn ich etwas sagen darf, Mardina Jones …«, meldete sich die KolE zu Wort.
»Wann hätte ich dich jemals davon abhalten können?«, sagte Mardina.
»Es gibt noch einen weiteren Grund, in die Markzone hineinzugehen.«
»›In die Markzone‹, KolE?«, sagte Yuri.
»Verzeihung. Das ist der Ausdruck der lokalen Erbauer für den substellaren Punkt. Wahrscheinlich ein Ausdruck, der auf dem ganzen Planeten benutzt wird. ›Markzone‹ ist meine Übersetzung eines Ausdrucks, der sich auch auf den zylindrischen Kern ihrer Stängelkörper bezieht.«
Delga schnaubte. »Du hast schon wieder mit diesen klapprigen kleinen Scherzkeksen gesprochen. Was für eine Zeitverschwendung.«
»Dem kann ich nicht beipflichten«, erwiderte die KolE präzise. »Jedes Mal, wenn ich eine neue Gemeinschaft treffe, erfahre ich eine Menge. Ihre Sprache ist sehr alt und ziemlich statisch; ihre Kultur ist örtlich variabel, aber es gibt viele durchgängige Merkmale. Zum Beispiel der Begriff der ›Markzone‹. Das ist meine Interpretation einer komplexen Vorstellung … Für die Erbauer ist der Substellarpunkt das Zentrum der Welt, ein entscheidender Ort. Dennoch ist es auch ein verlorener Ort. Es ist ihr Garten Eden, Mardina Jones. Dort haben sie vor ihrem Fall gelebt, glauben sie. Es ist der Mittelpunkt ihres Bewusstseins. Das sind großenteils sehr alte Vorstellungen. Tief sitzende, weit zurückreichende Erinnerungen, wie Überbleibsel tierischer Abstammung. Ihr Menschen habt die Bäume, von denen eure Vorfahren einst herabgestiegen sind. Die Erbauer haben die Markzone.
Aber es gibt auch eine neuere Bedeutungsschicht. Diese lokalen Erbauer scheinen von Ereignissen jüngeren Datums zu sprechen. Sie sind zur Markzone zurückgekehrt, und zwar vor nicht allzu langer Zeit – warum, weiß ich nicht genau, aber bestimmt, um irgendeine Aufgabe auszuführen. Das ist es, was Erbauer tun. Sie haben dort gearbeitet. Doch nun sind sie ausgeschlossen worden.«
»Von dem IRF-Team da drin«, sagte Mardina grimmig.
»Vermutlich.«
Liu Tao meldete sich zu Wort. »Mich beschäftigt die Frage, wie wir hier leben werden.« Nach ihrem Aufbruch von der Konfluenz hatte Liu sich eine junge Frau genommen, eine Tochter von Dorothy Wynn, die ihm ein Kind geboren hatte, eine Tochter namens Thursday October – so benannt nach ihrem Geburtstag gemäß dem Erdkalender. Yuri hatte miterlebt, wie sich Lius Prioritäten nach der Ankunft des Kindes dramatisch verändert hatten. »Was immer wir wegen der IRF und der Markzone unternehmen wollen, wir sollten es endlich hinter uns bringen, damit wir von hier verschwinden können.«
»Dem würde ich beipflichten«, sagte die KolE. »Der Sternwinter wird nicht ewig dauern. Darauf weise ich schon seit einiger Zeit hin.«
»Das wissen wir«, sagte Yuri.
»Wenn die normalen Temperaturen zurückkehren, wird diese Region unbewohnbar werden …«
»Das wissen wir.« Mardina sah Yuri, Delga und sogar Mattock an, den ehemaligen Friedenshüter, der bei dem Gedanken, es könnte eine gut ausgestattete IRF-Basis auf diesem Planeten geben, von der man offenbar auch ihn ausgeschlossen hatte, ein überaus finsteres Gesicht machte. »Wir gehen wieder nach Norden«, sagte Mardina. »Aber erst, wenn wir nachgesehen haben, was in diesem Dschungel ist. Wir sind schon so weit gekommen. Erhebt jemand schwerwiegende Einwände dagegen?« Keine Antwort. Mardina stand auf. »Okay. Wir nehmen die Transporter, oder zumindest einen davon. Beth, Freddie, ihr habt die Gegend erkundet. Arbeitet eine Route aus, einen Weg hinein. Yuri, du kannst dir zusammen mit der KolE überlegen, wie wir’s mit den Transportern machen wollen. Wir werden uns Zeit lassen. Uns gründlich vorbereiten. Dann gehen wir rein«, sagte sie gelassen.
»Wie steht’s mit Waffen?«, fragte Liu. Er schaute von einem zum anderen. »Ich frage bloß.«
Delga lachte.
»Ist noch was von dem Tee da?«, fragte Mardina.