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Erdscheins Einladung erreichte Stef an ihrem Arbeitsplatz im Kernel-Labor der Vereinten Nationen auf dem Mond.
In einer kurzen holografischen Botschaft mit geringer Auflösung – ein Würfel, der seinen gut frisierten Kopf, sein lächelndes Gesicht eines Politikers im mittleren Alter zeigte – bat er sie, ihn auf der Erde zu besuchen, in seinem »Knoten« in Paris, wie er es nannte. Er sagte, er habe eine Angelegenheit von globaler Bedeutung zu besprechen, die jedoch insbesondere für »Sie und Ihre Schwester« von Interesse sei. Die Einladung enthielt auch eine juristisch formulierte Erklärung, derzufolge die KI nicht versuchen werde, während des Treffens mit den Schwestern auf den wachsenden Wissensfundus zum Thema Kernel-Physik zuzugreifen. Ohne diese Erklärung hätte die Botschaft wohl kaum die diversen Sicherheitsschichten passieren können, die sie hier in Verne umgaben.
Eine ähnliche Botschaft, hieß es in einem Anhang, sei Penny auf dem Merkur geschickt worden.
Stef schloss das Hologramm mit einer kurzen Empfangsbestätigung und dachte einen ganzen Kuppeltag lang darüber nach. So machte sie es immer, wenn sie sich mit besonders schwierigen oder persönlich unangenehmen Dilemmata konfrontiert sah; es war eine Form des Umgangs mit ihren Instinkten, die sie im Lauf von fast sechsunddreißig Lebensjahren entwickelt hatte. Sollte sich die Nachricht durch ihr Bewusstsein und ihr Unterbewusstsein arbeiten, bevor sie eine Entscheidung traf. Sie schlief sogar darüber.
Zum Beispiel war da schon allein die Zeit, die sie von ihrem eigenen Programm abzwacken musste. Momentan befand sie sich in einem Arbeitsrausch, den sie nur ungern unterbrechen wollte. Nun ja, sie befand sich immer in einem Arbeitsrausch. Sieben Jahre nach der Öffnung der Luke und dem Penny-Vorfall – wie sie es innerlich nannte – warfen Untersuchungen der Luke und ihrer physikalischen Eigenschaften etwas Licht auf die ergänzenden Kernel-Forschungen, die nunmehr schon seit Jahrzehnten liefen. Es war ein langsamer, mühevoller Prozess, und er war voller Lücken. Stef hatte das Gefühl, dass man ihr die beiden Enden einer langen Kette von Entdeckungen in die Hände gegeben hatte und dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie sich von dort aus zur Mitte vorgearbeitet hatte. Aber es war hochinteressant – hier gab es zweifelsohne mehr Arbeit für sie und ihre Kolleginnen und Kollegen, als sie im Laufe eines Lebens bewältigen konnten. Und das war ein angenehmer Gedanke, weil er die Notwendigkeit, irgendwelche radikalen Entscheidungen bezüglich ihrer Zukunft zu treffen, weit wegschob, über den Horizont hinaus.
Entscheidungen wie jene, die ihre Beziehung zu ihrer Schwester betrafen.
Es gab für sie noch einen weiteren Grund zur Skepsis in Bezug auf Erdscheins Nachricht. Sie arbeitete jetzt mit Penny zusammen. Ihre Schwester war auf dem Merkur; sie führte dort vor Ort Experimente mit dem Luken-Konstrukt durch und versuchte, Emissionen diverser exotischer Hochenergieteilchen zu entdecken. Im Gegensatz zu manchen anderen Geschwistern, ja sogar manchen Zwillingen, kooperierten die Schwestern gut, wie eine lange Reihe akademischer Publikationen bewies, die sie schon vom Beginn ihrer beider Laufbahn an einzeln und gemeinsam verantworteten. Bei diesem speziellen Projekt zu diesem speziellen Zeitpunkt war Penny die Experimentatorin und Stef die Theoretikerin, aber bei anderen Projekten in der Vergangenheit, das zeigten die Dokumente, war es oft andersherum gewesen. Sie waren in dieser Hinsicht flexibel, weil sie ähnliche, aber komplementäre Fähigkeiten besaßen.
Das war alles schön und gut, eine bewunderns- und beneidenswerte familiäre Beziehung, auf die sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter stolz gewesen wären. Nur konnte Stef sich leider an nichts von all dem erinnern, sofern es in der Zeit geschehen war, bevor sich die verdammte Luke auf dem Merkur geöffnet hatte.
Die Nachricht von der Entdeckung war rasch durchgesickert, und die Luke war ungefähr vierundzwanzig Stunden lang eine Sensation gewesen. Immerhin stellte sie den Beweis für die Existenz außerirdischer Intelligenz im Sonnensystem dar. Da die Luke jedoch nirgendwohin führte, war sie seitdem weitgehend in Vergessenheit geraten oder als Schwindel abgetan worden, obwohl sie noch immer Verschwörungstheorien wie einen Kometenschweif hinter sich herzog.
Stef musste sich jedoch mit einer umfassenden Umgestaltung ihrer Vergangenheit abfinden.
Vor der Luke war sie ein Einzelkind gewesen. Danach hatte sie plötzlich eine Zwillingsschwester gehabt. Nicht nur das, sie hatte unversehens ein ganz anderes Leben hinter sich, verflochten mit dem ihrer Zwillingsschwester. Aufsätze, bei denen sie allein als Verfasserin firmiert hatte, waren jetzt in Zusammenarbeit mit ihrer Schwester entstanden. Sie hatte einige davon gelesen; sie waren weitgehend, aber nicht ganz so, wie sie sie ihrer Erinnerung nach geschrieben hatte – in wissenschaftlicher Hinsicht weder signifikant besser noch schlechter –, andere hingegen, die Teile ihrer Arbeit spiegelten, an die sie sich nicht erinnern konnte, hatte sie überhaupt nicht verfasst.
Nur Stef erinnerte sich an ihre einsame Vergangenheit davor. Niemand sonst. Alle in ihrem Leben, darunter auch Kolleginnen und Kollegen, die sie seit ihrer Studentenzeit kannte, betrachteten sie nun als die eine Hälfte eines Paares, nicht als Stef allein. Nicht einmal King und Trant, die im Moment des Übergangs dabei gewesen waren, erinnerten sich noch an die alte Zeitlinie.
Penny selbst im Übrigen auch nicht. Soweit es Penny betraf, waren ihre miteinander verbundenen Karrieren nach einer kleinen Störung, als Stef die Geschehnisse bei der Luke zu verkraften versucht hatte, einfach weitergegangen. Für Penny war Stef eine Schwester, die plötzlich so etwas wie eine selektive Amnesie entwickelt hatte.
Und vielleicht war es genau das. Eine milde Form des Wahnsinns, ausgelöst von einer Art Bizarro-Strahlungsfeld aus dem außerirdischen Artefakt, in das sie hinabgestiegen war. Das war schließlich die einfachste Erklärung, dass ihre Wahrnehmung, ihre Erinnerung irgendwie fehlerhaft war. Trotz gründlicher Suche hatte Stef kein noch so kleines Indiz gefunden, das der Realität des Ganzen widersprach. Die Alternative, dass die Geschichte um sie herum irgendwie verändert worden war, dass der Fehler im äußeren Universum lag statt in ihrem eigenen kleinen Kopf, schien im Vergleich dazu eine absurd komplizierte Erklärung zu sein.
Sie glaubte das allerdings nicht. Sie kannte sich, sie kannte ihre Vergangenheit, ihr Leben. Und diese Vergangenheit war nicht ihre.
Sie hatte gelernt, nicht darüber zu reden, mit niemandem – nicht nach den ersten paar Minuten totaler Verblüffung dort oben auf dem Merkur, in ihrem Druckanzug, in der Luke, mit einer Schwester konfrontiert, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte, und nachdem alle sie bestürzt angestarrt hatten, als sie ihre Verwirrung hinausposaunte. Schließlich wollte sie lieber an der Kernel-Superphysik arbeiten, als den Rest ihres Lebens mit Medikamenten und Therapien zu verbringen, die sie von ihren »Wahnvorstellungen« befreien sollten. Sie wollte nicht einmal mit Penny darüber reden, obwohl ihre Schwester zaghafte Versuche unternahm, die Barriere zu durchbrechen. Stef war sehr glücklich darüber gewesen, dass man Penny auf einen anderen Planeten geschickt hatte, glücklich darüber, dass sie einfach mit ihrer Arbeit weitermachen konnte; zumindest war ihr die Arbeit ein beständiger Trost gewesen.
Doch nun lag ihr diese Einladung von Erdschein vor, die offensichtlich darauf abzielte, die beiden Schwestern zusammenzubringen.
Trotz der vielen Studien und Denkschriften über die Kern-KIs, und obwohl jedermann ihre Macht anerkannte, schienen die meisten Experten nicht genau zu wissen, worin ihre wahren Pläne bestehen mochten. Die drei alten Intelligenzen, Hinterlassenschaft einer schwierigen Vergangenheit, spielten keine offizielle Rolle in der menschlichen Gesellschaft und besaßen keinen legalen Status – keine Rechte, in gewissem Sinn. Aber jeder wusste, dass menschliche Instanzen von den Vereinten Nationen und den Nationalstaaten abwärts mit ihnen zurechtkommen mussten. Ihre Macht wurde auf dieselbe Weise akzeptiert wie die eines Naturphänomens, eines Hurrikans; man konnte sie nicht ignorieren, aber sie standen außerhalb der Menschenwelt. Und im Gegensatz zu Hurrikanen konnten die Kern-KIs denken und kommunizieren.
Nun hatte Erdschein beschlossen, mit Stef und ihrer Schwester zu kommunizieren. Warum? Das, vermutete Stef, hing von den Plänen der Kern-KI ab. Vielleicht wollte Erdschein irgendwelche Erkenntnisse mit ihnen teilen. Aber wollte sie, dass ihr verworrenes Privatleben von einem solchen Monster entwirrt wurde?
Auf der persönlichen Ebene war sie abgestoßen. Aber auf der intellektuellen Ebene war sie fasziniert.
Sie bestätigte den Empfang der Nachricht, trug die Reise in ihren Terminkalender ein und ging erleichtert wieder an die Arbeit.