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Sie taumelten alle. Yuri und Mardina hielten sich aneinander fest und griffen nach Beth. Tollemache wich an eine Wand zurück.

Beth krallte die Hände in den Bauch. Zum ersten Mal während all dieser Ereignisse schien sie wirklich Angst zu haben. Den Tränen nahe, stolperte sie zu ihrer Mutter, die sie in den Arm nahm. »Mom? Was ist da gerade passiert?«

Tollemache stöhnte. »Fühlt sich an, als wäre der Fahrstuhl soeben nach unten gefahren.«

»Oder als hätte jemand den Antrieb abgeschaltet«, sagte Mardina. »Aber wir sind nicht in einem Raumschiff.«

»Vielleicht ist auch die Schwerkraft schwächer geworden.« Yuri hüpfte auf den Zehen; langsam schwebte er wieder zum Boden hinab. Was war das, ungefähr ein Drittel der normalen Erdschwerkraft? Wie auf dem Mars? Eine Bewegung jenseits der offenen Tür lenkte ihn ab. Er ging in diese Richtung, driftete in der geringen Schwerkraft wie in Zeitlupe dahin. Durch die offene Luke sah er eine weitere zylindrische Kammer, eine dritte, die genauso aussah wie diese zweite und wie die erste davor. Doch obwohl die Wände in demselben unheimlichen grauweißen Glanz erstrahlten, fand Yuri, dass etwas an dem Licht dort drin anders war. Als gäbe es dort eine weitere Quelle, die von oben herabschien.

Eine Gestalt ging an der offenen Luke vorbei und kehrte ihnen dabei den Rücken zu. Ein schwarzes Kostüm, mit Silber gesprenkelt.

Er sah Mardina aufgeregt an. »Das sah aus wie …«

»Eine IRF-Uniform.«

»Und wer, zum Teufel, ist das nun wieder?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.« Gefolgt von Beth, durchquerte Mardina den Raum, trat in die nächste Kammer und half Beth durch die Lukenöffnung. Dann kam Tollemache und schließlich Yuri.

Diese dritte Kammer war ein weiterer Zylinder mit glatten Wänden, genau wie die anderen. An der gekrümmten Wand hatte man irgendwie eine Leiter befestigt. Woanders waren kleine Sensoren angebracht, offensichtlich von Menschenhand geschaffene, anonyme weiße Kästchen. Yuri schaute nach oben und sah, dass über der offenen Grube so etwas wie eine durchsichtige Kuppel errichtet worden war, durch die man ein Felsendach sah, als befänden sie sich in einer Höhle tief unter der Erde.

Die Gestalt in der schwarz-silbernen Astronautenuniform, eine Frau, die den Neuankömmlingen den Rücken zukehrte, ging an der Reihe der Sensoren entlang und schaute dabei immer wieder auf eine Tafel. Hochgewachsen und blond, sang sie leise ein Lied über einen Flug mit ihrem Liebsten durchs Universum. Sie mochte in den Fünfzigern sein.

Beth drehte sich fröhlich grinsend zu Yuri um, fasziniert von dieser neuen Entwicklung. Ihre Übelkeit, die von der niedrigen Schwerkraft herrührte, war vergessen. Sie zeigte auf den Rücken der Frau. Es war klar, was sie meinte. Sie weiß nicht mal, dass wir hier sind!

Mardina zog die Augenbrauen hoch. Dann räusperte sie sich leise.

Die Frau zuckte zusammen, wirbelte herum wie ein arduanischer Erbauer, ließ ihre Tafel fallen und wich an die Wand zurück. »Heilige Scheiße. Wer seid ihr denn? Und wie kommt ihr hier rein?«

Tollemache übernahm das Kommando. Er trat ein paar Schritte vor und zeigte mit dem Finger auf die Frau. »Spielt überhaupt keine Rolle, Lady. Wer sind Sie? Und wie kommt es, dass ich nichts von Ihnen weiß? Auf diesem ganzen verdammten Planeten wimmelt es nur so von Illegalen und blinden Passagieren.«

Die Astronautin schüttelte irritiert und verblüfft den Kopf. »Wovon reden Sie? Auf welchem Planeten?«

»Prox c.«

Die Astronautin starrte ihn an. »Conan Tollemache!«

»Was?«

»Wusste ich’s doch, dass ich Sie kenne. Ihr Gesicht war erst kürzlich überall in den Nachrichten. Friedenshüter Tollemache, richtig?«

»Was geht Sie das an?«

Die Astronautin wandte sich der Reihe nach an die anderen. »Mardina Jones. Yuri Eden. Beth Eden-Jones. Alle vier. Mein Gott.«

Mardina starrte sie verwirrt und beunruhigt an. »Was hat das zu bedeuten? Was meinen Sie damit, wir vier? Woher kennen Sie unsere Namen?«

»Ihr seid die vier, die vor ein paar Stunden in der Luke auf Prox c verschwunden sind.« Sie runzelte die Stirn. »Nein. Das heißt, in Anbetracht der Zeit, die es gedauert hat, bis die Nachricht mit Lichtgeschwindigkeit hier eintraf – vor vier Jahren, vermute ich, nach eurer Zeit …«

Sie sprachen alle zugleich.

»Wir sind nirgends verschwunden«, sagte Mardina.

»Was soll das heißen, wir sind auf Prox c verschwunden?«, fragte Yuri. »Wo sind wir jetzt, wenn nicht auf Prox c?«

»Wer sind Sie?«, fragte Beth.

Aber Tollemache war am hartnäckigsten. Er baute sich vor der Astronautin auf. »Vor vier Jahren. Blödsinn.« Er hob sein IRF-Chronometer und las das Datum ab. »Hier ist das Datum. 2193.«

»Nein.« Die Frau wich vor Tollemache zurück, bückte sich, um ihre Tafel aufzuheben, und rief ihr eigenes Datum auf. »Das hier ist das Datum. 2197.«

Yuri konnte es sehen. Wenn diese Astronautin sie nicht belog – und warum sollte sie? –, hatte er gerade einen Zeitsprung von vier Jahren und ein paar Monaten gemacht. Genau wie im Kälteschlaf.

»Nicht schon wieder«, sagte er.

Die Astronautin sah ihn seltsam an. Dann lächelte sie kompetent und effizient; jetzt endlich setzte sich ihre Ausbildung durch, und sie nahm das Heft in die Hand. »Um eure Fragen zu beantworten: Mein Name ist Stephanie Kalinski, Colonel, IRF. Freut mich, euch kennenzulernen. Und was die Frage betrifft, wo ihr seid, Miss Eden-Jones«, sagte sie zu Beth, »willkommen im Sonnensystem. Ihr seid auf dem Merkur.«