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Sie besaß keine menschliche Gestalt mehr, nicht einmal andeutungsweise. Jetzt war sie eine Scheibe aus Kohlenstoffschichten mit einem Durchmesser von hundert Metern, aber nur ein Hundertstel Millimeter dick. Dennoch war sie hellwach; ihr Bewusstsein wurde von Strömen und Ladungsspeichern in dem vielschichtigen Netz elektrisch leitenden Kohlenstoffs aufrechterhalten, aus dem sie bestand. Während dieser Verwandlung, dieser von Dr. Kalinski und seinen Technikern ausgeführten Remontage auf atomarer Ebene hatte sie geschlafen.

Und sie konnte das Universum mithilfe von Bündeln mikroskopisch kleiner Sensoren sehen, hören und schmecken.

Ihr Blick war auf den Merkur gerichtet, eine rissige, zernarbte Halbkugel. Die Lichter der Menschheit glommen in den Schatten uralter Kraterwände und krochen Klippen und Felskämme entlang. Während sie den Planeten umkreiste, sah sie den harten, hässlichen Klumpen des stillgelegten Solarkraftwerks, das vor Jahrzehnten im erdnahen Weltraum montiert und jetzt zur Wiederverwendung hierhergeschleppt worden war, sowie die gewaltige Linse, eine Struktur aus Filmen und Fasern, die selbst ihre eigene filigrane Spannweite in den Schatten stellte. Sie würde den Mikrowellenstrahl des Kraftwerks quer durchs Sonnensystem lenken, um ihr die Energie für den Flug zu liefern. Der Maßstab all dessen war außergewöhnlich, und die Energien, die entfesselt werden würden, waren gewaltig. Wenn etwas schiefging, würde sie binnen Sekundenbruchteilen sterben, eine Motte im Flammenstrahl eines Schneidbrenners. Sie verspürte einen Anflug unvernünftiger Furcht.

»Angelia?«

»Ich bin hier, Dr. Kalinski.«

»Wie höre ich mich an?«

»Als wären Sie im selben Raum mit mir.«

»Gut. So wollte ich es haben. Ich bin froh, dass wir Zeit hatten, in der Menschenwelt beisammen zu sein. Du bist nämlich ein Teil der Menschheit, weißt du. Der beste und intelligenteste Teil. Wir haben dich nach einer Tochter von Hermes benannt, der griechischen Version von Merkur. Auch sie war eine Botin, eine Überbringerin von Nachrichten. Du wirst die Nachricht von unserer Existenz zu einem anderen Stern bringen. Und du wirst all unsere Träume mitnehmen. Meine jedenfalls. Na ja, das haben wir alles bereits gesagt. Du weißt, wir können nicht kommunizieren, solange der Strahl steht. In vier Tagen werden wir mit dir reden, wenn die Beschleunigungsphase abgeschlossen ist. In Ordnung?«

»Ja, Sir. Ich glaube schon …«

»Wir werden dich nicht mit einem Countdown behelligen. Gute Reise, Angelia …«

Das Solarkraftwerk leuchtete in ihrem für die Mikrowellenfrequenzen des Strahls empfänglich gemachten Blickfeld auf. Der Merkur wich zurück, als fiele er in einen Brunnen.

Die starke Strahlung, ursprünglich dazu gedacht, die Fabriken und Häuser der fernen Erde mit Solarenergie in komprimierter Form zu beliefern, füllte nun ihren Hundertmetersegel-Körper. Sie spürte, wie ihre Haut sich straffte und in wellenförmige Bewegung geriet, als Terawatt von Energie über sie hinwegströmten. Ihre Struktur brauchte nicht einmal massiv zu sein; um ihre Gesamtdichte zu reduzieren, war ihre Oberfläche nur ein dünnes Geflecht, aber die Wellenlängen der Mikrowellen-Photonen waren so groß, dass sie nicht durch dieses weit gespannte, gekrümmte Netz aus Karbonstreben hindurchgingen. Stattdessen prallten sie wie Myriaden winziger Sandkörner von dem Segel ab, schoben Angelia mit 36 g vor sich her und beschleunigten sie mit jeder neuen Sekunde um weitere tausend Stundenkilometer.

Trotz der zunehmenden Distanz verringerte sich die Intensität dieses von der Linse fokussierten Laserstrahls nicht einmal um ein Watt. Es war eine Höllenqual. Es war köstlich. Sie lachte, tief in ihrem verteilten Bewusstsein.

Die Intensität verringerte sich vier Tage lang nicht. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon um mehr als die hundertfache Entfernung der Erde von der Sonne ins All geschleudert worden, weit über die Umlaufbahn des äußersten Planeten hinaus.

Von hier aus war die Sonne, jenes Ungeheuer, das den Himmel des Merkurs beherrschte, nicht mehr als ein heller Stern – ein Stern, der für ihre hoch entwickelten Sensoren zudem ganz allmählich in den Rotbereich verschoben wurde, denn bei zwei Fünfteln der Lichtgeschwindigkeit hatte sie bereits ihr interstellares Reisetempo erreicht. Das hieß, sie würde schon in einem Jahrzehnt im Proxima-System eintreffen. Um sie so schnell so weit zu bringen, hatte man um Größenordnungen weniger Energie aufgewendet als für Dexter Cole. Doch der lag im Kälteschlaf in einem tausend Tonnen schweren Raumfahrzeug, während sie nur achtzig Kilo wog – die Masse eines Menschen, so als wäre Cole nackt zum Rand des interstellaren Raums befördert worden.

Sie selbst war das Raumfahrzeug. Und sie war viele; sie würde nie allein sein.

Mit einer Willensanstrengung, einer subtilen Reprogrammierung ihrer Struktur, richtete sie ihre Sinne nach außen, in die Leere.