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Sie fuhren weiter, über einen Permafrostboden. Das Eis war körnig und alt, wie Stef hervorhob; abseits der Terminator-Region, wo die warme Luft ins Dunkel strömte und rasch ihren Wasserdampf ablud, musste frischer Niederschlag selten sein.

Zehn Tage nachdem sie die Terminator-Zone durchquert hatten, ließ die KolE sie auf einer unauffälligen Eisebene haltmachen. »Wir sind nicht mehr über festem Land«, verkündete sie schlicht.

»Das kann ich bestätigen«, sagte Stef nach einem Blick auf geisterhafte Radarbilder von einer zerknautschten, verborgenen Oberfläche unter ihnen. »Das ist der Ozean. Den Ad Astra-Karten zufolge sollte ungefähr an dieser Stelle die Küste sein. Aber hier reicht das massive Eis bis zum Meeresboden, nicht viel mehr als etwa ein Dutzend Meter unter uns. Weiter draußen, wo der Ozean tiefer ist, dürfte es Wasser unter der Eiskruste geben. Zur nächsten Landmasse und dem Antistellarpunkt geht’s dort entlang«, sagte sie und zeigte in die Richtung. »Wir sollten eigentlich gut vorankommen, aber trotzdem – Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.«

Sie fuhren weiter, ins stille Dunkel hinein. Das Licht ihrer Scheinwerfer tanzte vor ihnen her. Draußen auf dem Eis fuhren die KolE und der Rover nun zur Sicherheit in einer anderen Konstellation, nicht mehr im Konvoi, sondern parallel zueinander, mit vielleicht einem Viertelkilometer Abstand. Auf diese Weise fielen sie zumindest nicht beide in dieselbe Spalte, und sie konnten die Position etwaiger Hindernisse besser triangulieren. Die bisher durchquerten Landschaften mit all ihren komplexen Details waren jetzt einer glatten Eisfläche gewichen. Es gab kaum je Wolken oder Nebel, und das strahlende, unverwandte Licht der Sterne hing über ihnen. Es war eine unheimliche, ereignislose, zeitlose Phase der Reise, dachte Yuri. Der gleichmäßig laufende Motor des Rover erzeugte so gut wie keine Vibrationen; die robusten Stoßdämpfer übermittelten keinen Eindruck von dem Boden unter ihnen; für lange Perioden fühlte es sich so an, als bewegten sie sich überhaupt nicht.

Doch dann sahen sie die ersten Eisberge, wie riesige, im gefrorenen Meer eingeschlossene Schiffe. »Offenkundig gibt es Zeiten«, sagte die KolE, »in denen das Eis zumindest so weit schmilzt, dass Eisberge übers offene Wasser treiben können. Vielleicht in außergewöhnlichen, kurzen vulkanischen Wärmephasen. Aber dann gefriert das Meer wieder, und die Eisberge sind gefangen …«

Stef und die KolE schienen hocherfreut über die Bestätigung, dass es unter dem Eis noch immer Wasser gab. »Es musste da sein«, sagte Stef. »Wahrscheinlich existiert ein globales System von Tiefenströmungen, die Wärme um den ganzen Planeten transportieren und auch Bestandteil des Wasserkreislaufs sind – sie bringen einen Teil der Masse zurück, die an den unaufhörlichen Regen beim Terminator verloren geht. Es musste da sein. Aber so ist das bei der unmittelbaren Geländeerkundung: Man weiß es erst dann genau, wenn man es mit eigenen Augen sieht.«

Yuris und Lius Interesse an den Strömungen eines unsichtbaren Ozeans hielt sich in Grenzen. In diesen immer gleichen Stunden dösten sie oder schauten hinauf zu den Sternen, und Yuri beschäftigte sich zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Spiel namens Schach.

Stef beobachtete unterdessen, wie dieser seltsame östliche Stern am Himmel emporstieg, der heller war als jeder andere Stern außer den Alpha-Zwillingen. Sie verfolgte seine Bewegung mithilfe von Fotos, die sie mit ihrer Tafel machte. Er steige zu schnell empor, sagte sie. »Es ist also gar kein Stern«, murmelte sie. »Aber was dann?«

Am einundsiebzigsten Tag ließ die KolE sie vorsichtshalber langsamer fahren. »Bald erreichen wir wieder Land …«

Dies war die einzige Landmasse, auf die sie vor dem Antistellarpunkt stoßen würden, ein Inselkontinent von der Größe Australiens, der den Ad Astra-Karten zufolge zwischen dem Punkt, wo sie den Terminator überquert hatten, und dem Antistellarpunkt lag. Wachsam krochen sie über das letzte, immer dünner werdende Packeis und rollten dann über einen flachen Strand an Land. Ihre Scheinwerfer rissen schmutziges Eis unter ihren Reifen aus dem Dunkeln; niedrige, erodiert wirkende, von Eis umschlossene Hügel waren Schatten vor dem Sternenhimmel. Sie wandten sich nach Nordosten und reisten erneut im Konvoi.

Stef spähte in die Dunkelheit. »In der Mitte dieses Kontinents muss es eine Eiskappe geben, selbst wenn sie im Datensatz der Ad Astra nicht auftaucht. Wir werden also am Küstensaum bleiben. Wenn wir nicht weiterkommen, können wir jederzeit wieder aufs Meereis ausweichen.«

»Die Lufttemperatur steigt«, vermeldete die KolE ausdruckslos.

Nach einem weiteren halben Tag erreichten sie ein offenes, eisfreies Gebiet und stiegen aus dem Rover, um es zu erkunden. Es war eine vulkanische Region, sah Yuri, mit heißen Schlammlöchern und Teppichen wärmeliebender Bakterien, die in ihrem Scheinwerferlicht in strahlendem Purpurrot und Grün aufleuchteten. Von hier kam also die örtliche Wärme. Ihr Atem dampfte in der kalten Luft, aber Yuri spürte die Wärme des Bodens unter seinen gestiefelten Füßen. Sie trugen alle Stirnlampen, mit denen sie an diesem stillen, verträumten Ort wie gespenstische außerirdische Besucher aussahen. Die KolE und Stef sammelten fröhlich Proben und machten Fotos.

»Überall Leben«, sagte Liu.

»Wohin man auch kommt«, pflichtete Stef ihm bei. »Bestimmt gibt es sogar Leben unter dem Eis, auf dem Grund des Ozeans unter der Eisdecke, überall, wo es heiße Quellen gibt und wo Mineralien austreten. Genau wie auf der Erde.«

»Und Stromatolithen«, sagte die KolE.

»Wie bitte?« Stef richtete sich auf, die Probenflasche in der Hand. »Unmöglich. Nicht im Dunkeln. Ohne Fotosynthese betreibende Lebewesen gibt es keine Stromatolithen.«

»Aber hier sind sie«, sagte die KolE schlicht.

Es stimmte. Westlich von dem Bakteriengarten war die ansteigende Landschaft von riesigen, pilzartigen Gebilden mit ausladenden Hüten und dicken, fest im Boden verankerten Stielen übersät.

Sie gingen hinüber. Stef stieß ein Probenrohr in ein großes Exemplar, eine bedenkenlose Geste, bei der Yuri zusammenzuckte, und entnahm eine Querschnittsprobe, die sie im Licht ihrer Stirnlampe untersuchte. »Du hast recht, KolE«, sagte sie. »Gewissermaßen. Das hier ist eine stratifizierte Bakteriengemeinschaft. Die oberen Schichten sehen wirklich so aus, als würden sie Fotosynthese betreiben – vermutlich mithilfe des Alpha-Lichts, es muss also ein sehr langsamer Prozess sein. Aber weiter unten haben wir Mineralienfresser, wie die Wärmeliebhaber in den Schlammlöchern. Man kann durchaus sagen, es sind Stromatolithen – aber welche von einer seltsamen, komplexen Art.«

»Und unvorstellbar alt«, sagte die KolE. »Hier dürfte es nichts geben, was sie stört. Keine Räuber. Und all dies muss eine Art Oberflächen-Expression der in größerer Tiefe lebenden Gemeinschaft sein, der warmen Tiefen-Biosphäre, der es egal ist, ob sie sich auf der Tagseite oder im Dunkeln befindet.«

Yuri grunzte. »Was die da unten wohl von dem ganzen Tamtam halten, das wir hier oben veranstalten?«

Sie verbrachten einen Tag an diesem Ort, beobachteten, sammelten Proben, überlegten und stellten Hypothesen auf. Dann packten sie ihre Sachen und fuhren weiter.