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Der Wagen hielt in einer Parkbucht unter dem ausladenden Dach der Gare du Nord, früher einer der größten Bahnhöfe der Stadt. Nach etlichen Revolutionen des Transportwesens war er schon längst außer Dienst gestellt, erst in ein Museum und schließlich in ein ziemlich marodes Einkaufszentrum mit Wohnflächen umgewandelt worden. Doch nun standen selbst die auf den ehemaligen Bahnsteigen zwischen den Gleisen aufgereihten Wohnungen leer. Der Bahnhof war ein von der Last der Geschichte niedergedrücktes Relikt, selbst wenn dieses alte Dach aus dem neunzehnten Jahrhundert noch immer eindrucksvoll wirkte.
Heute schien der alte Bahnhof ganz und gar menschenleer zu sein, stellte Penny fest, als die Security-Leute sie eilig vom Wagen aus hindurchführten und sich dabei argwöhnisch umschauten. Alle hatten den Kopf eingezogen, in Paris wie auch überall sonst, und warteten darauf, dass die Show am Himmel ihren Höhepunkt erreichte.
Sie wurden zu einem neueren Konstrukt in einer Ecke der ehemaligen großen Bahnhofshalle geführt. Es war lediglich ein Würfel aus intelligentem Beton, wie es schien, mit einer Kantenlänge von ein paar Metern und einer massiven Stahltür. Es gab weder Bedienungselemente noch sichtbare Kameras, doch als King vor der Tür stand, glitt die Stahlplatte in den Boden. Penny blickte in eine Fahrstuhlkabine, eine hell erleuchtete Metallschachtel. King schaute sich zu den anderen um, winkte sie herbei und führte sie hinein.
In der Kabine gab es ebenfalls keine Bedienungselemente. Die Metallwände wiesen keinerlei Markierungen auf; sie wurden nur von ein paar Lichtleisten und einem umlaufenden Handlauf unterbrochen. Als sich die Tür schloss, fühlte es sich an, als wären sie in einem Hightech-Sarg eingesperrt. Ein kaum wahrnehmbarer Ruck verriet Penny, dass die Kabine in die Tiefe sank. Nur ihr eigenes Atmen und das leise Rascheln ihrer Kleider war zu hören. Penny, die sich sehr alt vorkam, widerstand dem Impuls, sich am Handlauf festzuhalten.
»Falls Sie schon mal vermutet haben, Sie hätten Klaustrophobie«, sagte King mit leicht maliziösem Lächeln, »hier finden Sie’s raus.«
Penny zuckte die Achseln. »In den Raumschiffen und Kuppelkolonien wird einem so was ausgetrieben.«
»Wie Sie meinen.« Aber King wirkte selbst ein wenig angespannt. Als die Sinkfahrt langsamer wurde, packte er den Handlauf mit festem Griff. »Für den nächsten Abschnitt sollten Sie sich besser festhalten – vor allem Sie, Jiang, wenn Sie unter diesen Schwerkraftverhältnissen nicht sicher auf den Beinen sind.«
Sie alle folgten seinem Beispiel.
Es gab einen weiteren Ruck. Jetzt spürte Penny, dass die Kabine nicht mehr in die Tiefe sank, sondern stetig waagerecht beschleunigte. Noch immer gab es kein Geräusch, nichts als das abstrakte Gefühl von Bewegung. »Ich fühle mich wie in einem Einstein’schen Gedankenexperiment«, sagte sie.
Jiang rang sich ein Lächeln ab. »Ja. Das hatten wir in der Sekundarschule. Eine Person in einer Fahrstuhlkabine kann nicht zwischen Beschleunigung durch einen Antrieb und Beschleunigung durch Gravitation unterscheiden.«
»Tja, Sie befinden sich wirklich in einem Gedankenexperiment«, knurrte King, »aber nicht in dem von Einstein. Schön wär’s.«
Jiang stand ein wenig unbeholfen da, und Penny hörte das Knarren seiner exoskelettalen Stütze. »Auf dem Rückweg werde ich wohl um einen Stuhl bitten, denke ich.«
»Tun Sie das«, raunzte King. »Falls es einen Rückweg gibt.«
Endlich kam die Kabine zum Stehen. Die Tür versank in einem Bodenschlitz. Penny schaute neugierig in einen sehr breiten und hohen, tunnelartigen Raum hinaus, dessen gewölbtes Dach mit zahlreichen Neonröhren gepflastert war. Sie fühlte sich in zunehmendem Maße losgelöst; die ganze Situation kam ihr immer unwirklicher vor.
Im Vordergrund stand Erdschein, in derselben Gestalt wie in Solstice vor vielen Jahren, als sie ihm zusammen mit Stef zum ersten Mal begegnet war – oder, ihrer Schwester zufolge, als Stef ihm zum ersten Mal begegnet war, ohne sie, in einer verlorenen Zeitlinie. Er war hochgewachsen, schlank und elegant in seinem schlichten schwarzen Geschäftsanzug mit der gravierten Granitbrosche am Revers. Mit seinem kunstvoll ergrauenden Haar sah er aus, als wäre er um die fünfzig. Alterslos, wo alle anderen alterten, aber in Wirklichkeit viel älter als jeder von ihnen.
»Willkommen in meinem neuesten unterirdischen Nest.« Er lächelte, aber seine Miene war kompliziert – abgelenkt, hätte Penny gesagt. Sie rief sich jedoch ins Gedächtnis, dass alles an der Gestalt, die sie vor sich sah, künstlich war. Er gab ihnen ein Zeichen und ging voraus. »Bitte – begleiten Sie mich.«
Sie verließen die Kabine und folgten ihm. Penny sah jetzt, dass dieser Tunnel, ein großes, kreisrundes Bohrloch, sich schnurgerade in die Ferne erstreckte; die gekachelten Wände wölbten sich über einem glatten Boden, der in der Längsachse durch diesen riesigen zylindrischen Raum verlief, und schwere Türen führten zu Nebenräumen. Der Hauptraum war mit Reihen weißer Kisten, Computern und anderen Gerätschaften gefüllt. Überall bewegten sich kleine Servoroboter, aber Penny sah auch menschliche Arbeiter. Es war überraschend kalt, obwohl das nach der Hitze des Pariser Frühlingstages eine willkommene Abwechslung war, und in der Luft hing der schwache Geruch von Ozon.
Erdschein forderte sie auf, sich zu beeilen, obwohl Jiang und King auch so schon Mühe hatten, ihm zu folgen. »Tut mir leid, dass ich Ihnen keine Besichtigungstour anbieten kann. Es gibt neue Entwicklungen …«
»Das ist eine Datenverarbeitungsanlage«, sagte Jiang Youwei und schaute sich um. »Und eine teure, nach ihrem Aussehen zu urteilen.«
»Ganz recht.« Erdschein gestikulierte. »Der Boden teilt den Tunnel in zwei Hälften. Darunter verläuft eine Bucht für die Energieversorgung, für Kabel und Lebenserhaltungssysteme. Darüber befinden sich Datenspeicher und Rechnereinheiten. Diese Umgebung ist darauf ausgelegt, dass man längere Zeit ohne äußere Unterstützung überleben kann. Genau wie eine Kuppel auf Ihrem chinesischen Mars, Jiang Youwei.«
»Das bist du«, sagte Penny. »Diese Computer-Anlage. Du bist hier gespeichert. Wir laufen durch deinen Kopf!«
Erdschein lachte – ein abgelenktes Lachen, aber ein Lachen. »Das lässt sich nicht so eindeutig sagen – es ist schwierig zu definieren, was ›ich‹ bin. Dank der Neutrino-Links sind meine separaten Speicher in aller Welt per Lichtgeschwindigkeit miteinander verbunden, aber trotzdem gibt es wahrnehmbare Verzögerungen bei der Kommunikation – Sekundenbruchteile. Als würden einzelne Teile meines Kopfes langsamer reagieren. Aber ja, das hier soll momentan mein Primärknoten sein.«
»Weil du glaubst, dass du hier sicher bist«, sagte King. »Unter dem Ärmelkanal?«
Und plötzlich erkannte Penny, wo sie sich befand.
»So ist es«, sagte Erdschein. »Dies ist der alte Tunnel zwischen Angleterre und Frankreich, oder einer davon; Sie sind mit der verbesserten Version einer vor relativ kurzer Zeit erbauten U-Bahn hierhergekommen. Tatsächlich befinden wir uns nicht unter dem Kanal, nicht so weit draußen. Als die ersten Monorail-Brücken über den Kanal eröffnet wurden, hat man die Tunnels als Transportwege aufgegeben. Aber sie sind aus jahrhundertealtem Beton erbaut und ungemein widerstandsfähig – und das nach einer kleinen Nanotech-Auffrischung mehr denn je. Eine ideale Zuflucht. Außerdem findet etwas in mir den Gedanken reizvoll, dass ich eine Ruine mit eigenem historischem Zweck bewohne. Meine Geschwister bauen sich da lieber ihre spezialgefertigten unterirdischen Bunker. Vielleicht ist das alles ein Ausdruck meiner Verbindung mit der Menschheit, so schwach sie Ihnen auch erscheinen mag – etwas, worin ich mich von meinen Gefährten unterscheide.«
King grunzte. »Du gehst kein Risiko ein, was?«
»Würden Sie es tun?«
»Also, ich bin beeindruckt«, erklärte Penny.
»Danke, Colonel Kalinski.«
Angetrieben von dem Gefühl der Eile, das Erdschein ihnen vermittelte, waren sie immer schneller gegangen. Jiang rang zunehmend nach Luft. Penny ging zu ihm, um ihn am Arm zu fassen, aber er schüttelte den Kopf.
Erdschein bog nach links ab, und sie folgten ihm in einen Nebenraum. Obwohl ein bloßer Abzweig vom Haupttunnel, war dies ein großer Raum mit in verblichenem Gelb gestrichenen Ziegelwänden. Es gab ein paar Stühle, Tische und Tafeln; Türen führten durch Trennwände zu Schlafräumen, wie es schien. Vielleicht war dies einmal ein Gerätelager gewesen, dachte Penny, ein Kontrollraum oder ein Brandschutzposten.
Heute jedoch wurde der Raum von riesigen Bildschirmen beherrscht, die alle Wände pflasterten und frei auf dem Boden standen, Bildschirmen voller Aufnahmen aus dem Weltraum, voller Flugbahn-Diagramme und sprechender Köpfe auf konventionellen Nachrichtenkanälen. Es gab kein Personal, keine Dolmetscher, keine Analysten. Nur die Bildschirme, die eine Flut von Daten in diesen Raum trugen.
Die Gruppe verteilte sich, die Security-Leute zogen sich Stühle heran und setzten sich an eine Wand. Jiang ließ sich ebenfalls schwer auf einen Stuhl sinken, mit einem Seufzer der Erleichterung. Ein Servoroboter, ein gedrungener Zylinder, der einer Mülltonne ähnelte, rollte mit einem Tablett voller Kaffeebecher und Gläser mit Wein, Wasser und Orangensaft auf sie zu. Erdschein streckte die Hand aus und nahm einen Kaffee, offenbar eine zwischen den echten Versionen platzierte Projektion, in Pennys Augen eine eindrucksvolle Realisationsleistung.
»All diese Daten strömen durch mich hindurch«, sagte Erdschein. »Sie stammen aus sämtlichen Quellen, zu denen meine Geschwister und ich Zugang haben. Nennen Sie es Nostalgie. Gerade heute möchte ich das, was kommen wird, als Mensch erleben, durch menschliche Augen und in menschlichem Tempo, so weit es geht.«
Penny nickte. »Aber als Mensch mit einem sehr großen Budget für Fernsehschirme.«
»Das ist wahr.«
King stand immer noch, auf seinen Stock gestützt, unter einem der größeren Bildschirme. »Schauen Sie sich das an. Heilige Muttergottes.«
Es war eine Aufnahme eines Weltraumteleskops, sah Penny. Sie erkannte die Krümmung der Erde, nur einen schmalen Streifen in der Ecke; ihre Helligkeit hatte die Sterne weggewaschen. Aber da war der Splitter, in strahlendes Sonnenlicht getaucht und funkelnd – nein, sah sie, als das Bild heranzoomte: Der Felsbrocken zerbrach.
»Er kalbt«, sagte Jiang Youwei.
King drehte sich zu ihm um. »Gehört alles zu eurem Masterplan, was?«
»Ich weiß von keinem Plan.«
»Wie gesagt, es gibt neue Entwicklungen«, sagte Erdschein. »Es hat gerade erst angefangen. Und es geschieht mit Sicherheit nicht zufällig. Einige der bodenbasierten Teleskope haben Explosionen beobachtet, Detonationen im inneren Gefüge des Asteroiden. Ein paar Brocken sind fortgeschleudert worden, aber der Rest fliegt – jetzt als Schwarm – noch immer in Richtung Erde. Diese Bilder vermitteln keinen Eindruck von den Dimensionen. Das Objekt – oder der Schwarm – rast weiter mit interplanetarischer Geschwindigkeit auf die Erde zu. Er ist noch weit entfernt, aber …«
»Er kommt unablässig näher«, sagte King.
»Ja. Die alten Schätzungen, was den Zeitpunkt des Beinahezusammenstoßes betrifft, gelten übrigens nicht mehr. Da sich das Objekt zerstreut, hat der Zusammenstoß schon begonnen. Es gibt Neuigkeiten von anderen Kriegsschauplätzen«, wechselte Erdschein plötzlich das Thema.
King drehte sich zu ihm um. »Kriegsschauplätze? Was ist das denn für ein Wort?«
»Empfinden Sie es als unpassend? Ist das kein Krieg?«
»Sag’s uns einfach«, bat Penny.
Erdschein deutete auf verschiedene Displays. »Bei den Asteroiden und über dem Mars sind UN-Jumboschiffe erschienen.«
»Erschienen?«, blaffte King und zeigte damit erneut, unter welcher Anspannung er stand. »Was soll das heißen … erschienen?«
»Offenbar haben sie sich bis jetzt mithilfe einer Art Stealth-Technologie versteckt.«
»Es ist schwer vorstellbar, wie man einen aktiven kernel-physikalischen Antrieb tarnen könnte«, meinte Penny. »Sie müssen schon eine ganze Weile vor Ort sein.«
»Das ist die UN-Antwort auf den Splitter«, sagte King. »Oder ein Teil der Antwort. Gehört alles dazu. Die Ziele liegen auf der Hand, würde ich meinen, und sind symbolischer Natur: die Hallen von Ceres, der Obelisk auf dem Mars.«
»Aber das ist doch alles bloß Säbelgerassel, oder?«, sagte Penny. »Noch kämpft niemand. Niemand stirbt.«
»Das stimmt nicht ganz.« Jiang zeigte auf ein Bild von einem Aufstand irgendwo auf der Erde, eine Menschenmenge, die auf eine Reihe von Panzern zurannte.
»Der Krieg im Himmel wirft bereits Schatten auf die Erde«, sagte Erdschein. »Es gibt Berichte von Zusammenstößen an den chinesischen Grenzen zu UN-Staaten. In Sibirien zum Beispiel. Und in Melbourne ist es zu einer Rebellion gegen die chinesische Herrschaft gekommen. Der Splitter sei nicht in ihrem Namen eingesetzt worden, protestieren die Australier dort.«
»Das kannst du laut sagen.« Sir Michael Kings australischer Akzent wurde prägnanter. »Treiben wir diese Rotchinesen ins Meer zurück …«
Er konnte zumindest an seine Heimat denken, ging es Penny durch den Kopf. Sie selbst war wurzellos; sie hatte keine Heimat, die es wert war, in Erinnerung behalten zu werden. Nur Stef.
Und sie fragte sich, wo ihre Zwillingsschwester jetzt wohl gerade sein mochte. Es war ein unheimlicher Gedanke, dass Stef erst in vier Jahren von all dem erfahren würde, was heute geschah. Tatsächlich hatte sie nur eine einzige Nachricht von Stef erhalten, seit diese durch die Luke auf dem Merkur gegangen war, eine schlichte Bestätigung, dass sie und Yuri Eden die Passage überlebt hatten. Penny hatte Screengrabs von der Nachricht gemacht, zerkratzte Standbilder von Stefs Gesicht. Dem Gesicht einer Frau, die gerade ein Erlebnis überstanden hatte, das sie kaum beschreiben, geschweige denn verstehen konnte. Und die sich nun auf einer ganz neuen Welt befand, einer Welt, die darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden.
Beneidete Penny sie? Vielleicht. Aber meistens wollte sie ihre Schwester zurückhaben, so wie jetzt. Nicht nur physisch, nicht nur von der anderen Seite dieser dicken Raumzeit-Barriere, die sie trennte. Sondern es sollte wieder so werden wie damals, bevor sie beide (ihrer Erinnerung zufolge) diese verdammte Luke auf dem Merkur geöffnet hatten. Und …
»Da ist er«, rief King.