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Beth und die anderen Teenager, die auf Erkundungsgang gewesen waren, kamen mit den ersten Informationen über die Gemeinschaft stromaufwärts zurück.
Yuri, Mardina, Delga und Liu Tao saßen an ihrem letzten Rastplatz ums Feuer. Sie waren in mehrere Schichten Kleidungsstücke gehüllt, trugen schwere Mäntel aus Stängeltuch über den Resten ihrer IRF-Overalls. Die meisten, vor allem Mardina, hatten Decken auf dem Schoß. Selbst Delga, bei der Wärme sonst nie über den Stolz siegte, hatte sich eine Decke umgelegt. Nach zehn Jahren Sternwinter – zehn Jahre, nachdem Mardina und er zu dieser Gruppe gestoßen waren, die er innerlich noch immer »die Mütter« nannte und der sich in den Jahren seither noch einige wenige andere Gruppen angeschlossen hatten – waren sie alle so alt geworden, dachte Yuri unvermittelt, während er ihre kleine, eng zusammengekauerte Vierergruppe betrachtete, die in dieser mobilen Gemeinschaft einem Führungsgremium noch am nächsten kam. Sie sahen aus wie vier schlaftrunkene Relikte in einem postapokalyptischen Altersheim.
Das Feuer selbst war ein Hügel aus Torf, die komprimierten Überreste welker Stängel aus gefrorenen Haufen entlang der Ufer des Flusses, der in diesen Regionen, weit stromaufwärts von der Stelle, wo Yuri Delga und die Mütter getroffen hatte, tief und schnell dahinströmte. Man musste den Torf ausgraben, auftauen und trocknen lassen, und selbst dann brannte er mit einem üblen Gestank, der Yuri an die Erbauer erinnerte. Nicht dass sie noch viele Erbauer sahen. Aber man sah auch keine Bäume mehr, und darum gab es nichts Besseres.
Während sie darauf warteten, dass Beth und die anderen von ihrem Erkundungsgang zurückkehrten, sagte keiner von ihnen ein Wort. Keiner von ihnen hatte die Kraft dazu, dachte Yuri. Schon den ganzen Vormittag hatten sie in mühseliger Arbeit die neuen Schutzräume in den gefrorenen Boden gegraben, und nun brachten sie wahrscheinlich nicht mehr viel anderes zustande als ein gemeinsames Schweigen.
Yuri war jetzt vierundvierzig. Manchmal fühlte er sich viel älter. Aber wenigstens war ihm die schlimmste Arthritis erspart geblieben, die viele der Marschierer plagte, nachdem sie nun zehn Jahre lang dem Flusslauf gefolgt waren, der sich stromaufwärts nach Süden wand, Jahre unendlicher Mühsal, eine Lebensweise, bei der man nicht nur auf seiner Farm schuften, sondern diese auch immer wieder abbrechen und weiter stromaufwärts verlegen musste, samt Mutterboden und allem. Nein, das war ihm erspart geblieben, ebenso wie die üblen Arm- und Beinbrüche und andere Verletzungen, die von den endlosen Reisen, der endlosen Plackerei herrührten. Und ihm waren die Krebserkrankungen erspart geblieben, die so viele dahingerafft hatten, vermutlich verursacht von der Strahlung, die von Proximas spuckendem, von Flares gezeichnetem Antlitz herabflutete, das nun merklich höher an ihrem Himmel stand. Ja, seine Gesundheit hatte Yuri sich mehr oder weniger bewahrt. Aber die Welt hatte ihn trotzdem eingeholt. Er war jetzt in den Vierzigern, mit einem Kind im Teenager-Alter, einer Art Partnerin und einem Anteil an der Verantwortung für das Leben von mehr als fünfzig Menschen, den Überresten sechs ehemals separater McGregor’scher Kolonistengruppen.
Und noch immer erstreckten sich Per Arduas leere Kilometer endlos um sie herum, während die Babys schrien und die Eltern murrten und sie jeden Morgen zum Fluss hinuntergingen, um das Eis zu zerbrechen und sich ihren täglichen Wasservorrat zu holen …
»Da kommen sie«, murmelte Mardina. Sie beugte sich vor, um sich noch etwas Nesseltee aus dem Topf einzuschenken, der auf der Kochplatte über dem Feuer brodelte. Sie bekam jetzt graue Haare, war eher hager als schlank, und selbst wenn sie so nah am Feuer saß, trug sie zu Fäustlingen umgearbeitete Handschuhe. Schließlich war sie im australischen Outback geboren und hatte deshalb besondere Schwierigkeiten, sich auf die Kälte einzustellen. Aber ihre Astronautenaugen waren noch so scharf wie eh und je. Genauso wie ihre Zunge, dachte Yuri.
Sie hatte jedoch recht. Da kamen Beth und Freddie, Delgas Sohn, und zwei andere. Schweigend liefen sie über eine Ebene aus nacktem Erdreich, Eisflecken, Schneewehen und hin und wieder einem graugrünen Klecks arduanischen Lebens. Beth, nunmehr siebzehn Jahre alt, war peitschendünn und groß, größer als ihre Eltern, wie viele ihrer Generation. Sie war dunkler als Yuri, hatte eher die Hautfarbe ihrer Mutter, aber ihr schwarzes Haar war glatt wie seins, ohne Mardinas kleine Löckchen. Sie sah arduanisch aus, fand Yuri. Eine Angehörige einer neuen arduanischen Menschheit, etwas anders als die Menschen auf der Erde, ganz anders als die auf dem Mars. Ein neuer Zweig. In diese Welt geboren, eine neue Generation, die nichts davon wusste und sich auch nicht dafür interessierte, was vor ihr gewesen war, was auf anderen Welten geschah, und das war wahrscheinlich ein Segen.
Die Jugendlichen kamen stolpernd zum Stehen. Sie atmeten schwer. Beth warf ihren dicken Mantel ab, legte sich eine Decke um die Schultern, kickte ihre bejahrten, gebrauchten IRF-Stiefel von sich und schlüpfte in Rindensandalen. Yuri reichte Becher mit heißem Tee herum.
Mardina lugte aus ihrem Deckennest heraus. »Und?«
Beth lachte. Sie atmete immer noch schwer. »Nette Begrüßung, Mom. Wir haben viel gesehen. Nicht weit stromaufwärts teilt sich der Fluss. Also, das stimmt eigentlich nicht. Wenn man bedenkt, dass er flussabwärts strömt, verschmelzen zwei große Zuflüsse.«
»Eine Konfluenz«, sagte Delga.
»Ja. So heißt das. Viel nasser Boden, Sumpfland, größtenteils gefroren … Und wir haben fantômes gesehen.« Sie grinste bei dieser großartigen Ankündigung.
Yuri konzentrierte sich. »Hey, hey, nun mal langsam. Fantômes?« Seit Delgas Leute ihn fälschlicherweise für den Geist von Dexter Cole gehalten hatten, war fantômes zu einem scherzhaften Insider-Wort für Fremde geworden, für weitere gestrandete Menschen aus dem Sternenschiff. Aber sie hatten seither nur einige wenige neue Gruppen getroffen. Kein Wunder, dass Beth aufgeregt war. »Wie viele fantômes?«
»Nicht viele. Da ist überhaupt nicht viel, nur ein paar Hütten im Grün, Rauch von den Feuern. Es muss Felder und eine KolE geben, aber wir haben sie nicht gesehen. Und die Leute, da waren ein paar Erwachsene und Kinder. Ein Dutzend vielleicht? Wir sind nicht dort geblieben, um es uns genauer anzuschauen …«
»Aber sie haben euch gesehen.«
»O ja. Wahrscheinlich noch bevor wir sie gesehen haben.«
Liu Tao beugte sich vor. »Im Grün? Hast du das gerade gesagt? Was meinst du damit?«
»Arduanisches Grün, du weißt schon, das dunklere Grün. Ist dort überall.«
»Aber was ist mit dem Schnee, dem Eis?«
»Davon gibt’s nicht so viel.« Sie zuckte die Achseln. »Nicht so schlimm wie hier. Ich erzähle euch nur, was wir gesehen haben.«
»Wissen wir doch, Süße«, sagte Yuri leise, um sie zu beruhigen, aber das brachte ihm nur einen bösen Blick von Beth ein, die solche Kosenamen nicht mehr mochte.
Die vier Älteren sahen sich an.
»Wir müssen das überprüfen«, meinte Liu.
»Offensichtlich«, sagte Delga schleppend. »Als Erstes sollten wir uns mal diese Leute vorknöpfen, wer immer sie sind.«
»›Vorknöpfen‹«, sagte Mardina. »Immer noch nur gerade mal so eben zivilisiert, was?«
Delga grinste. »Immer noch nur gerade mal so eben am Leben.«
»Noch wichtiger, wir müssen dieses Grünzeug überprüfen«, sagte Yuri. »Vielleicht sollten wir die KolE mitnehmen.« Er meinte seine und Mardinas Originalmaschine, die als einzige vollständig funktionsfähig war; jede andere Gruppe, der sie begegnet waren, hatte das KI-Modul ihrer Kolonisierungseinheit entfernt oder zerstört, um Kontrolle über die Grundfunktionen zu erlangen.
Mardina schnaubte. »Dieses alte Wrack.«
Delga kicherte, und Liu grinste. Die Spannung zwischen Yuri und Mardina war eine ständige Quelle der Belustigung für alle anderen.
»Wir müssen sowieso eine Pause einlegen«, sagte Yuri in vernünftigem Ton zu Mardina. »Die Vorräte gehen allmählich zur Neige. Vielleicht verrät uns die Existenz dieses Fleckens einheimischen Lebens, dass es dort ein wenig wärmer ist als in der Umgebung. Ein guter Ort, um ein bisschen was anzubauen.«
Liu nickte nachdenklich. »Das ist bestimmt der Grund, weshalb dort schon jemand ist. Wir suchen alle nach ein wenig Wärme im Sternwinter.«
Yuri beschirmte die Augen und hob den Blick zu Proxima, zu den riesigen Flecken, die ihre Scheibe übersäten, örtlich beschränkte Flares, die wie Narben wirkten. Bei der Landung war keiner von ihnen auf den Sternwinter, wie sie es mittlerweile nannten, hingewiesen worden. Es gab keine erdähnlichen Jahreszeiten auf Per Ardua, aber wenn der Stern von Sonnenflecken wimmelte, sorgte Proxima offenbar dafür, dass es Winter wurde – ein Winter, der in unregelmäßigen Abständen kam und unvorhersehbar lange dauerte. Auch dieses Problem hätte schon im Vorfeld erkannt werden können, wenn man diese Welt richtig untersucht hätte, bevor man Menschen wie Ziegelpakete darauf ablud. Nun, der Winter war gekommen, und der ganze Marsch nach Süden war ein Rennen gegen die zunehmende Kälte gewesen.
Nun war da dieser neue Ort. Im Grün.
Yuri blickte in die Ferne. »Wenn wir dort nur ein kleines bisschen länger bleiben könnten als üblich, ein paar Vegetationsperioden nutzen, Vorräte anlegen …«
Mardina schaute finster drein. »Aber warum, zum Teufel, sollte es an dieser Stelle wundersamerweise wärmer sein als überall sonst?«
»Vielleicht eine heiße Quelle«, mutmaßte Liu.
»Ja, und deshalb kein gesunder Aufenthaltsort.«
»Aber jemand hält sich schon dort auf«, hob Yuri hervor. »Wir werden nichts erfahren, wenn wir hier herumsitzen und darüber diskutieren. Ich sage, schnappen wir uns die KolE, gehen wir hin und schauen wir uns die Sache an.«
Dann gab es eine Pause, während Mardina dasaß, ihren Becher Tee in der Hand. Alle warteten darauf, dass sie das Wort ergriff.
Sie war nicht direkt die Anführerin, nicht wirklich diejenige, die das Kommando hatte. Gemäß der Tradition des Kerns dieser Gruppe, der Mütter – Delga, Anna Vigil und Dorothy Wynn –, hatte niemand das Kommando, schon gar nicht die Männer. Man diskutierte die Dinge aus und gelangte zu einem Konsens; sie waren wenige genug und hatten im Allgemeinen Zeit genug dafür. Und Mardina legte zweifelsohne keinen Wert auf die Sichtbarkeit der Autorität. Ihr Status als ehemalige Astronautin war von Anfang an problematisch gewesen. Trotzdem brauchte man so gut wie immer Mardinas Zustimmung, wie Liu Tao Yuri bei einem Glas von Kleins Wodka gern erklärte, bevor man mit irgendetwas weitermachen konnte. Es war eine Art negativer Führung, nahm Yuri an, eine Führung durch den Verzicht auf ein Veto.
»Na schön«, sagte Mardina nach einiger Zeit. »Gehen wir hin und schauen wir’s uns an.« Sie begann sich zu bewegen, steif und widerwillig, und überließ es Beth, ihr die Decken abzunehmen und sie zusammenzulegen.