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Es war Stef Kalinski gelungen, von den IRF-Behörden in der Markzonen-Basis Karten der dunklen Seite Per Arduas zu bekommen. Sie breitete sie auf dem Boden der Garage aus, die Yuri bei seiner Villa am Rand der UN-Enklave für die KolE gebaut hatte, sodass alle vier Mitglieder der Expedition sie sehen konnten: Stef selbst, Yuri, Liu Tao und die KolE. Yuri hatte nicht gewusst, dass es solche Karten überhaupt gab; er hatte immer angenommen, die dunkle Seite sei nur ein geheimnisvoller weißer Fleck.
Diese skizzenhaften Pläne waren nach der einzigen vollständigen orbitalen Untersuchung Per Arduas angefertigt worden, die jemals durchgeführt worden war, oder zumindest nach der ersten, von der die Ad Astra nach ihren anfänglichen Umrundungen des Planeten berichtet hatte. Es gab jede Menge Lücken und Leerstellen: Der tiefe Planetenschatten der dunklen Seite war nur von dem strahlenden Punktlicht gemildert worden, das Alpha A und B warfen, und das Schiff hatte eine so niedrige Umlaufbahn beschrieben, dass ein großer Teil der Oberfläche den Blicken der Beobachter entzogen geblieben war. Was man gesehen hatte, war nie richtig untersucht worden, zum Beispiel per Radar oder Spektroskopie, und in den Jahren seither hatten die Mittel gefehlt, um Satelliten nach oben zu schicken, die den Job hätten beenden können.
»Die Karten basieren also auf Vermutungen«, sagte Yuri. »Das ist wirklich eine Reise ins Dunkle.«
»Wir müssen eine Route zum Antistellarpunkt ausarbeiten«, sagte Stef achselzuckend. »Das ist das Beste, was wir haben. Ich denke mir die Sache so.« Sie tippte auf ihre Tafel, und das Kartenbild wechselte zu einer Mercatorprojektion. »Offensichtlich müssen wir um den halben Planeten herum, vom Substellarpunkt zum Antistellarpunkt. Im Prinzip könnten wir in jede Richtung fahren und einfach einem Großkreis um den Planeten folgen. Aber in einigen Richtungen ist die Topografie hilfreicher als in anderen. Ich schlage vor, wir fahren hier entlang – nach Südosten. Dadurch halten wir uns von der großen neuen vulkanischen Region im Norden fern, und bis zum Terminator fahren wir mehr oder weniger über Land. In einigen anderen Richtungen kommen uns Meeresarme des Ozeans der dunklen Seite dazwischen, zum Beispiel im Westen.«
»Aber dann«, sagte Yuri, »auf der dunklen Seite selbst …«
»Der Ozean nimmt einen großen Teil der dunklen Hemisphäre ein. Das glauben wir jedenfalls, nach der flachen Eisdecke zu urteilen, die man vom Orbit aus sehen kann. Der Planet hat Asymmetrien. Die helle Seite wird von einem einzigen großen Superkontinent beherrscht, die dunkle Seite besteht größtenteils aus Wasser. Warum das so ist, wissen wir nicht. Die gegenwärtige Anordnung könnte Zufall sein oder ein kaum wahrnehmbarer langfristiger Gezeiteneffekt. Auf der dunklen Seite gibt es ein paar verstreute Kontinentalmassen, Inseln. Und einen kleinen Inselkontinent am Antistellarpunkt selbst. Das ist ein weiterer Gezeitenbuckel wie der am Substellarpunkt, wenn auch nicht identisch. Der ganze Planet ist eiförmig, wobei das eine Ende immer auf Proxima gerichtet ist, während er den Stern umkreist, und das andere von ihm wegzeigt. Wir werden wie Ameisen sein, die von einem Ende des Eies zum anderen krabbeln.«
Liu lachte – ein wenig verzweifelt, fand Yuri. »Wir sind verrückte kleine Ameisen, das sind wir.«
»Wir werden also das Meereis überqueren müssen«, sagte Yuri.
»Ja, zweifellos. Ihr seht, dass eine kontinentale Landmasse aus dem Eis ragt. Wenn wir die von mir vorgeschlagene Richtung wählen, werden wir einen Kontinent von der Größe Australiens überqueren. Einige Indizien sprechen dafür, dass es dort Vulkanismus gibt, also sind manche Gebiete wahrscheinlich eisfrei. Wir werden so weit wie möglich über Land fahren, aber das Meereis ist eine permanente Kappe, die einen großen Teil der Hemisphäre bedeckt, und es muss ziemlich dick sein. Im Prinzip sollte man es befahren können. Wir werden allerdings auf Treibeis, Wasserrinnen und Gletscherspalten achten müssen – keine Ahnung. Das ist ein Forschungsziel für die Reise, würde ich sagen.«
»Wir sollten bei den Vereinten Nationen finanzielle Unterstützung beantragen«, meinte Yuri trocken.
Sie sprachen über die Logistik. Es würde eine lange Reise werden, rund achtzehntausend Kilometer in jeder Richtung, und Stef plante hundert Tage für den Hinweg und hundert Tage für den Rückweg ein. Sie würden einen Rover und die KolE mitnehmen. Der Rover würde mit Ersatzteilen, Vorräten und einer zusätzlichen KolE-Autodoc-Einrichtung beladen werden. Die beheizte Kabine des Rover sollte als Flare-Schutzraum dienen. Treibstoff würde kein Problem sein; beide Fahrzeuge sollten mit kompakten Mikrofusionsgeneratoren ausgestattet sein – die KolE war erst vor Kurzem nachgerüstet worden.
Liu grunzte. »Ich war mal Taikonaut, wisst ihr. Ich weiß alles über das Thema Ausfallsicherheit bei Missionen. Wir werden weit von jeder Hilfe entfernt sein. Wenn der Rover den Geist aufgibt, können wir ihn ausschlachten und auf der KolE fahren. Aber was ist, wenn die KolE zuerst kaputtgeht?«
»Dann lassen wir sie zurück«, sagte Stef mit einem Blick zu Yuri und dann zur KolE, die über ihre Sensorkapsel teilnahmslos zusah.
Yuri liebte dieses ramponierte alte Relikt seiner Pionierzeit. Die KolE war inzwischen weit über das Datum ihrer geplanten Obsoleszenz hinaus, und es hatte Yuri viel Geld gekostet, ihre physische Hülle renovieren und die Tiefenprogrammierung, die sie nach einem Vierteljahrhundert abgeschaltet hätte, aus ihrem Software-Bewusstsein löschen zu lassen. Aber die KolE hatte auch ihre eigenen Ziele erreicht. Wie versprochen, hatte sie alle KI-Einheiten, die von den Kolonisten aus erbeuteten KolEs herausgeschnitten und im Dreck liegen gelassen worden waren – eingeschlossene, hilflose, empfindungsfähige Intelligenzen –, zurückgeholt und versorgt. Yuri war stolz auf seine KolE. Jetzt hob er den Blick und sah sie an. »Ich würde zurückkommen und dich holen, Kumpel. Ich schwör’s dir.«
»Das wäre nicht notwendig, Yuri Eden. Und ein unangemessenes Risiko für einen Mann deines Alters.«
»Danke«, sagte Yuri. »Aber du hast bei der Luke all diese Jahre auf mich gewartet. Es wäre das Mindeste, was ich tun könnte. Und denk an all die wissenschaftlichen Daten, die du sammeln könntest, während du dort in der Kälte hockst.«
»Das stimmt.«
Liu gab nicht nach. »Und was ist, wenn die KolE und der Rover zugleich ausfallen?«
»Dann warten wir auf Rettung«, sagte Stef. »Ohne Fernmeldesatelliten werden wir keine Funkverbindung zur Markzone oder irgendeiner Kolonie auf der Tagseite haben. Aber wir werden Markierungen hinterlassen, denen man folgen kann. Und schaut, die Temperatur auf der dunklen Seite fällt angeblich nirgends unter minus dreißig Grad. In der irdischen Antarktis haben Menschen unter schlimmeren Bedingungen überwintert. Wir können das überstehen.« Sie sah sie einen nach dem anderen an, auch die KolE. »Weitere Einwände?«
»Wie könnten wir das nicht tun?«, sagte die KolE ernst. »Eine komplette unerforschte Hemisphäre – das ist wie ein ganz neuer Planet. Wer weiß, was wir entdecken würden?«
Liu starrte sie an. »Ich hab’s schon mal gesagt. Für eine Landwirtschaftsmaschine hast du Ideen, die jemandem deines Standes gar nicht zukommen, KolE.«
»Ein empfindungsfähiger Geist lässt sich nicht auf die Parameter seiner Programmierung beschränken«, gab die KolE zurück. »Sonst wärt ihr alle noch dort, wo das Ad Astra-Shuttle euch abgesetzt hat, und ich wäre jetzt obsoleszent, abgeschaltet, verschrottet. Wann brechen wir auf?«
»Bevor die Cops auftauchen und nach Liu suchen«, sagte Yuri. »Na los. Wir haben viel zu tun. Packen wir’s an …«