21
Als sie in die Siedlung zurückkamen, sahen sie, dass Mardina und John Synge sich im Freien gegenüberstanden, die geladenen Armbrüste erhoben. In Mardinas Hosenbund steckte eine dicke Leuchtpistole. Sie weinten beide, sah Yuri. Eine weinende Mardina Jones – das war ein ungewöhnlicher Anblick.
Von Abbey Brandenstein und Matt Speith war nichts zu sehen.
Nicht schon wieder, dachte Yuri, und ihm wurde bang ums Herz. Wir tun uns das nicht schon wieder an.
Die KolE kam neben ihm kreischend zum Stehen und wirbelte Staub auf. »Stell dich hinter mich, Yuri Eden.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass John Synge dich töten will.«
Mardina hielt ihren Blick auf John gerichtet. Im Licht von Prox glänzten Tränen in ihren Augen. »Yuri? Bist du das?«
»Ich bin hier, Mardina. Was ist los? Wo sind Abbey und Matt?«
»Was glaubst du wohl, wo sie sind? Tot. Tot in ihren Betten. Dieser Mistkerl hat sie im Schlaf erwischt. Er hätte Wache halten sollen. Er hätte dafür sorgen sollen, dass wir in Sicherheit sind!«
»Wir müssen versuchen, ruhig zu bleiben«, sagte die KolE. Es klang scheinheilig.
Yuri konnte das alles nicht fassen. In den Monaten seit dem Tod der anderen waren Abbey und Matt wichtige Personen in seiner Welt geworden, zwei von den nur noch vier Menschen, mit denen er zusammenlebte. Abbey, die ehemalige Polizistin mit ihren Fehlern. Matt, nachdenklich, ständig verwirrt, aber wieder mit seiner Kunst beschäftigt. Zwei beschädigte Menschen, die in einer feindlichen Welt zusammengeführt worden waren und ihr Bestes taten. Machte das nicht letztendlich das Leben aus? Und doch waren sie nun fort, mit ihren Spleens, Fehlern und allem, waren endgültig ins Dunkel gegangen. Aus einer spontanen Eingebung heraus von diesem Wahnsinnigen dort ermordet.
»Ich will dich nicht töten, Mardina«, sagte John jetzt. »Verstehst du das nicht? Darum geht es doch bei der ganzen Sache. Um dich.«
»Ich erschieße dich, wenn du einen Schritt näher kommst.«
»Es war deinetwegen, Mardina. Ich wollte dich!«
»Du warst mit Martha zusammen.«
»Aber sie ist jetzt tot. Und dich jeden Tag zu sehen, so nah – weißt du, ich bin kein sexbesessener Mensch. War ich nie. Aber du, du …«
»Meine Schuld, was?« In Mardinas Stimme lag jetzt ein hysterischer Unterton. »Wenn du mit mir zusammen sein wolltest, warum mussten sie dann sterben?«
»Weil sie mir im Weg waren. Abbey hätte mich aufgehalten, und Matt hätte Abbey beschützt, wenn ich ihm die Chance dazu gegeben hätte …«
»Aber du hast keinem der beiden eine Chance gegeben, nicht wahr? Und was ist mit Yuri?«
»Mit ein bisschen Glück hätte ich den auf seinem Rückweg zum Lager erledigt. Ich hatte einen Plan – wenn du mich nicht entdeckt hättest –, es war eine Chance, verstehst du, die anderen schliefen, und Yuri war unterwegs. Dann wären nur noch wir beide übrig gewesen, Mardina. Ich könnte dich glücklich machen.« Er trat einen Schritt vor, die Armbrust noch immer erhoben.
Mardinas Armbrust schwankte. »Nicht näher.«
»Aber wenn ich …«
Die KolE hob plötzlich eine Pistole und feuerte einen einzigen Schuss ab. Sie traf John in die linke Schläfe; die andere Seite seines Schädels schien in einem Schauer von Blut und hellem Gewebe zu explodieren. Er blieb noch eine Sekunde lang stehen, die Armbrust in der Hand, und erschauerte. Dann brach er in sich zusammen wie ein einstürzender Turm.
»›Aber wenn ich dich nicht haben kann, wird niemand dich haben‹«, sagte die KolE. »So hätte der Satz geendet, fürchte ich. Schaut.« Sie packte die Waffe mit einem klauenartigen Fortsatz, zerquetschte sie und hielt die Überreste hoch. »Major Lex McGregor hat sie mir trotz meiner Einwände da gelassen, für Notfälle wie diesen. Jetzt ist sie zerstört. Seht ihr? Keine weiteren Schusswaffen auf Per Ardua. Obwohl ihr offensichtlich keine Schusswaffen braucht, um euch gegenseitig umzubringen.«
Yuri ging um die KolE herum und starrte auf John Synges hingestreckten Körper, die Blutspritzer.
Mardina, die am ganzen Leib zitterte, ließ die Armbrust sinken. »Jetzt sind nur noch wir beide übrig, Kleiner.«
Auf einmal konnte Yuri es nicht mehr ertragen. Nichts davon. Nicht einmal die Anwesenheit von Lieutenant Mardina Jones, IRF. »Ich bin nicht klein.«
»Yuri …«
»Ich heiße nicht Yuri.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging davon, nach Süden, weg vom Lager, ging weiter und weiter, setzte einen Fuß nach dem anderen hart auf den Boden, wie damals, als sie ihn aus dem Shuttle gelassen hatten und er fortgerannt war, die Handgelenke noch mit Plastikriemen gefesselt. Vielleicht hätte er an jenem Tag einfach weiterlaufen und nicht zurückkommen sollen. Vielleicht hätte er es allein versuchen sollen.
Einmal schaute er sich um. Er sah, wie Mardina und die KolE langsam im Lager umhergingen. Die Leichen wegschafften. Er wandte sich ab und ging weiter. Immer weiter.