75

Einen einzigen arduanischen Jahr-Tag später – eine Woche und einen Tag – waren sie aufbruchbereit.

»Ihr macht das wirklich, was?«, sagte Jay Keller, der vor Yuris Villa an der Mattock-Konfluenz, von wo aus sie losfahren wollten, auf Yuri zutrat. »Da komme ich mir alt vor.«

»Sie sind schon alt auf die Welt gekommen, Friedenshüter …«

Dann kamen auch andere, Anna Vigil, Frieda Breen, Bill Maven, Überbleibsel der Gründergemeinschaften, die in der Zeit des Sternwinters zu einer einzigen Nomadengruppe verschmolzen waren und den langen, abenteuerlichen Marsch durchs Tal des North River zur Markzone unternommen hatten, eine Episode, die von der jüngeren Generationen vermutlich schon im Reich der Märchen verortet wurde. Anna Vigil, die jetzt in den Sechzigern war und als Beraterin für die Kinderbetreuung in den Quarantäne-Lagern der Vereinten Nationen fungierte – Stef hatte bei ihrer eigenen ehrenamtlichen Tätigkeit mit ihr zusammengearbeitet –, war eine gemütliche Großmutter geworden. Yuri sah keine Spur mehr von dem übel zugerichteten Mädchen, das sich auf der Ad Astra hatte prostituieren müssen, um Babynahrung für Cole zu bekommen, aber dieses Trauma war zweifellos irgendwo tief in ihrem Innern begraben. Anna lächelte, küsste Yuri auf die Wange und strich sich dünne graue Haare aus der Stirn. »Ihr sorgt also dafür, dass Liu ein paar Hundert Tage lang nicht ins Gefängnis muss. Aber was ist, wenn ihr zurückkommt? Was dann?«

Yuri schaute zum Himmel empor. »Ich habe in meinem Leben gelernt, auf die Zukunft zu vertrauen, Anna. Vielleicht ist der dumme Krieg schon verraucht, wenn wir zurückkommen …«

»Oder erst so richtig entbrannt«, sagte Anna grimmig. »Na ja, wir werden sehen, und ich bin froh, dass die Meinen hier auf Per Ardua alle in Sicherheit sind. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich das mal sagen hören würde. Pass einfach auf, dass ihm nichts passiert, Yuri. Und Stef auch nicht. Sie ist eine gute Seele.«

»Mache ich. Versprochen.«

Der Expeditionsrover fuhr vor, ein neues Modell, gepflastert mit UN- und IRF-Logos, »geborgt« aus der Markzonen-Basis. Dann kam die KolE angerollt und hielt neben ihm; ihr Rumpf glänzte von einer letzten Renovierung. Stef beugte sich aus der Seitentür des Rover. »Also, bist du bereit, die Sache durchzuziehen?«

Yuri stieg in die Kabine des Rover und setzte sich zu Stef und Liu.

Sie fuhren los, der Rover an der Spitze, gefolgt von der KolE. Ihre Freunde blieben zurück und applaudierten. Und zu Yuris Überraschung feuerte jemand eine Leuchtkugel ab, ein lang gehütetes Relikt ihrer Gründerzeit; eine leuchtend orangefarbene Rauchfahne hinter sich herziehend, stieg sie in den Himmel und verschwand schließlich in der ewigen Wolkenschicht der Markzone.

Die hunderttägige Reise begann.

Anfangs, als sie die Scheibe der menschlichen Kolonisation um die Markzone herum zum äußeren Rand hin durchquerten, kamen sie mühelos voran. Sie nahmen die besten Straßen und verbrauchten so wenig wie möglich von ihren eigenen Vorräten, solange sie diese in den Wohnsiedlungen um sie herum noch auffrischen konnten.

Und sie erhielten jede Menge Hilfe. Selbst als sie das dünner besiedelte Band der bäuerlichen Gemeinden ein gutes Stück außerhalb der zentralen Zone erreichten, registrierte Yuri überrascht, wie viel Aufmerksamkeit man ihnen schenkte. In den embryonalen Medien von Per Ardua hatte die Expedition großes Interesse erregt, und als Gründer waren Yuri und Liu sowieso weithin bekannt. In manchen Orten applaudierte man ihnen sogar bei der Durchfahrt, oder eine kleine Karawane von Lastwagen und Kindern mit auf Per Ardua hergestellten Drahteseln folgte ihnen aus der Stadt. Yuri war überrascht, ja, und erfreut.

Stef schien das alles eher gleichgültig zu sein; sie konzentrierte sich darauf, die Expedition Stunde um Stunde mit detaillierten Anweisungen zu leiten. Menschen standen bei ihren Unternehmungen offenbar nicht so sehr im Mittelpunkt. Und Liu nahm sich in Acht vor der Aufmerksamkeit; er beschirmte das Gesicht vor den Kameras, die zu den Fenstern des Rover gereckt wurden.

In diesen ersten paar Tagen übertrafen sie ihre Zielvorgabe von zweihundert Kilometern pro Tag mühelos. Trotzdem dauerte es volle sieben Tage, bis sie die letzten der spärlichen neuen Ortschaften hinter sich gelassen hatten, und Yuri war beeindruckt, wie weit vom Zentrum entfernt sich bereits Menschen angesiedelt hatten, vermutlich auf der Suche nach einem eigenen Zuhause und ein wenig Frieden und Würde. Und er stellte sich vor, wie die Oberfläche von Per Ardua jetzt vom Weltraum aus aussehen musste, mit einem riesigen Spinnennetz aus leuchtendem irdischem Grün, das sich von der Markzone aus entlang der Flussufer, der neuen Straßen, ja sogar entlang der nach innen führenden Wege erstreckte, auf denen die Gründer von den Shuttle-Landeplätzen zum Zentrum gehumpelt waren und dabei Mutterboden, Saatkartoffeln und terrestrische Mikroben hinter sich verstreut hatten.

Am achten Tag jedoch gab es keine geschotterten Straßen mehr, ja nicht einmal unbefestigte Wege. Sie überquerten größtenteils unberührten Boden, und ihre Karten, selbst die von der Tagseite, waren so ungenau, dass man sich nicht vorbehaltlos auf sie verlassen konnte. Stef und die KolE zeichneten zum Nutzen künftiger Generationen permanent das Gelände, das sie durchquerten, und die Landschaftsmerkmale auf, denen sie begegneten. Und sie begannen, etwa alle fünfzig Kilometer Markierungen zu setzen, indem sie leichte Pfeile mit Funksendern von geringer Reichweite in einen passenden Felsen oder Steilhang schossen. Sie würden als Funkfeuer dienen, damit sie den Rückweg fanden – oder um ihre Route für einen künftigen Rettungstrupp zu markieren, falls sie einen brauchten. Ihre Übernachtungsaufenthalte waren kurz. Sie sammelten Wasser, wenn es ging, brauchten aber keine anderen Nahrungsmittel zu suchen. Sie stellten nicht einmal ein Zelt auf; der Rover bot ihnen allen dreien genug Platz, um bequem zu schlafen.

Was die Landschaften betraf, die sie durchquerten, so war Wasser der Schlüssel zum Leben, wie immer auf diesem trockenen Kontinent. Überall, wo sie auf einen Fluss oder einen See stießen, gab es die übliche Menagerie von Stängelbeeten, Flechtenstreifen an den Felsen, diversen Drachenarten auf dem Wasser und oftmals Erbauern mit ihren Haufen und ihren Kinderstuben in den Randbereichen. Und jedes Mal fanden sie dort auch Stromatolithen, wie riesige Skulpturen, die von einer verschwundenen Gattung von Künstlern über das Antlitz des Planeten verstreut worden waren.

Manchmal bat die KolE oder Stef um einen Halt, wenn sie auf eine ungewöhnliche Felsformation, ein vulkanisches Merkmal oder sogar eine neuartige Lebensform stießen. Und die KolE verwickelte lokale Erbauergruppen in Marionettentanz-Gespräche. Es sei erstaunlich, sagte die KolE, dass die Sprachen weit verstreuter Gruppen so einheitlich seien, selbst hier draußen; es gebe nur geringe regionale Variationen, nur wenig Dialekt. Ein weiterer Beweis für das große Alter der Spezies und ihrer Kultur, behauptete die KolE. Andererseits hatten die Erbauer, wie Liu hervorhob, nur selten etwas Interessantes zu sagen.

Als die Tage ins Land gingen, verspürte Yuri eine zunehmende Benommenheit. Sie rollten einfach immer weiter über das zeitlose, schüsselartige Antlitz dieses riesigen Kontinents, Kilometer um Kilometer. Während er bequem in seinem gepolsterten Sitz in diesem klimatisierten Wagen saß und sein Alter spürte, fragte er sich manchmal, wie, zum Teufel, er und Mardina jemals diese waghalsige Wanderung durch die Wildnis im Gefolge der jilla-Erbauer bewältigt hatten, mit Baby und allem.

Um den zwanzigsten Tag herum stießen sie auf die Überreste eines Shuttle-Landeplatzes.

Die Anzeichen waren unverkennbar. Sie kreuzten die verbrannte Spur eines landenden Shuttles, die lange, gerade Linie verschmolzenen Erdreichs, die nach all diesen Jahren immer noch sichtbar war. Sie unterbrachen ihre Reise und folgten der Spur zu den Überresten eines schäbigen Lagers und den zertrümmerten Überbleibseln der transparenten Kuppel einer KolE, die nicht mehr zu reparieren war – und, wie die KolE sagte, gnädigerweise ohne Bewusstsein. Sie durchsuchten die wenigen Trümmer nach Hinweisen auf die Identität derjenigen, die hier abgesetzt worden waren. Aber die Siedler schienen ihre magere Ausrüstung umfassend wiederverwendet und nur wenig zurückgelassen zu haben. Die Forschungsreisenden konnten nicht einmal Gräber entdecken, was für einen solchen Ort ungewöhnlich war.

Nach einem Tag zog Liu ein Resümee. »Ich glaube, es ist hinreichend klar, was hier passiert ist.« Er zeigte auf eine skizzenhafte Karte der Gegend, die Stef auf ihrer Tafel angefertigt hatte. »Da ist das Seebett. Ausgetrocknet.« Es war eine Senke voller toter Stängel, mit einem Gebilde, das wie die Ruine einer Erbauer-Kinderstube aussah; nur einheimische Flechten und Moose hatten hier überlebt. »Kein wandernder jilla hier, hm, Yuri? Also sind sie weggegangen, in diese Richtung.« Diese Leute waren aus Gründen, die nur sie selbst kannten, nach Süden aufgebrochen, weg vom Substellarpunkt, vielleicht in der Hoffnung, bis zum Randwald zu gelangen. Die Spuren waren noch zu sehen; sie hatten den Weg mit ein paar Steinhaufen markiert. »Wer weiß, wo sie jetzt sind. Oder was aus ihnen geworden ist.«

»Irgendwer wird es eines Tages herausfinden«, sagte Yuri grimmig. »Und wird ihren Familien auf der Erde oder wo auch immer davon erzählen. Na schön. Wir haben alles aufgezeichnet. Wir lassen eine unserer Markierungen hier, falls wir es nicht zur Markzone zurück schaffen. Dieser Ort geht also nicht wieder verloren. Okay? Kommt, packen wir unsere Sachen und fahren wir weiter.«

Sie setzten ihre Reise fort. Tag um Tag verging, nur strukturiert von einem Schlafzyklus, der noch immer an die Lichtjahre entfernte Erde gekoppelt war, und dem langsamen Abstieg von Proxima zum nordwestlichen Horizont, weg vom Zenit, den sie am Substellarpunkt einnahm. Die Schatten vor ihren beiden Fahrzeugen wurden immer länger, und da sich das Licht des Zwergsterns nun durch dickere Luftschichten quälte, wirkte es häufig rötlich verfärbt, während man Proximas aufschießende Eruptionen und die Marmorierung mit Sonnenflecken leichter mit bloßem Auge erkennen konnte. Auch die Luft wurde kälter; bald konnten sie das beheizte Innere des Rovers nicht mehr ohne zusätzliche Kleidungsschichten verlassen.

Nach mehr als vierzig Tagen erreichten sie einen Randwaldgürtel.

Hier ruhten sie sich einen Tag lang aus, um sich die Beine zu vertreten und die Gegend zu erkunden, während die KolE den Waldrand abfuhr, um einen Weg hindurch zu finden. Weder Liu noch Stef hatten schon einmal einen solchen Wald gesehen. Sie wanderten mit großen Augen durch seine schummrigen, kathedralenartigen Räume, in denen sich die schlanken Stängelstämme zu den breiten, geduldigen Dreifachblättern oben emporstreckten. Und sie staunten über die riesigen Drachen des Blätterdachs und die wilden kleinen Aasfresser, die sich um sämtliche in das nahezu aquatische Halbdunkel des Waldbodens fallenden Nährstoffe zankten. Für Yuri weckte all das Erinnerungen an seine frühesten Tage auf Per Ardua, als er zusammen mit Leuten wie John Synge, Harry Thorne, Pearl Hanks und Abbey Brandenstein, die alle schon lange tot waren, den zum Verwechseln ähnlichen Wald der nördlichen Regionen erforscht hatte.

Die KolE kam zurück und vermeldete, sie habe eine Lücke im Waldband gefunden, bei einem breiten Tal nicht weit südlich von hier. Sie kehrten zum Rover zurück und brachen dorthin auf. Das Tal erwies sich als Überbleibsel einer Vergletscherung, mit weiter Senke und steilen Wänden. Ein an sich recht stattlicher Fluss, der von fernen Bergen herabkam, wirkte im Vergleich zu dem vom Eis geformten Tal, über dessen Boden er mäanderte, geradezu zwergenhaft klein.

Sie folgten dem Einschnitt durch das Waldband, das sich als ziemlich schmal erwies; bald dünnte es sich aus und hinterließ nur vereinzelte Baumgruppen.

In der offeneren Landschaft jenseits des Waldes kamen sie auf den Kiesbetten an den Ufern des Gletschertals rasch voran. Hier gab es Stängelbeete, fliegende Drachen – große, träge, ungelenke Biester, wie Yuri sie noch nie gesehen hatte – und Erbauer, die langsam an ihren Haufen und Kinderstubenlauben werkelten. Die Szenerie war in das trübe Licht einer immer tiefer sinkenden Proxima getaucht; ein rosafarbener Schein überzog die Hänge der Berge vor ihnen. Das von Energiemangel gezeichnete Leben hier schien spärlich und zaghaft zu sein. Yuri erinnerte sich im Gegensatz dazu an die ungeheure vegetabile Vitalität des Markzonen-Dschungels am Substellarpunkt.

Das Tal wurde stetig schmaler, während sie sich stromaufwärts zu einer Kette von Bergen vorarbeiteten, die bald nicht mehr so fern waren. Als Quelle des Flusses erwies sich ein Gletschertopf, eine riesige Schöpfkelle hoch oben an einem vergletscherten Hang.

Lange bevor sie dort eintrafen, bog Stef mit dem Rover vom Fluss ab und steuerte auf einen Pass durch die Berge zu, und jenseits des Passes ging es dann auf eine Ebene hinab. Die Schatten der Berge hinter ihnen erstreckten sich nun weit voraus, aber sie sahen weitere Bergketten in die Ferne marschieren; ihre eisbedeckten Gipfel glänzten im immer schwächer werdenden Licht von Proxima, und Gletscher streiften ihre Flanken.

Während sie die Ebene durchquerten, bat die KolE um weitere Pausen. Sie nahm Proben von den Lebensformen an bereiften Stellen, die im ewigem Schatten lagen, hauptsächlich langsam wachsende Flechten, die sich von dem spärlichen reflektierten Licht ernährten, allein schon durch die Dunkelheit um sie herum vor allen beweglichen Räubern geschützt.

Einmal fand die KolE beim Graben ein seltenes, uraltes Fossilienbett, wie sie es nannte. Eine zufällige Hebung hatte es vor der vulkanischen Vernichtung bewahrt, und es enthielt Spuren von Geschöpfen wie den Erbauern, aber viel größer, mit jeweils drei langen, vielgliedrigen Stängelbeinen. Diese Geschöpfe seien für die Wanderung gebaut und auf Schnelligkeit ausgelegt, behauptete die KolE. Vielleicht seien sie Relikte einer Übergangsperiode, in der sich die Rotation des Planeten verlangsamt habe, bevor er gänzlich in seinen synchronisierten Tagesorbit-Zyklus verfallen sei. In solchen Zeiten, spekulierte die KolE, müsse es Geschöpfe gegeben haben, die ständig auf Wanderschaft gewesen seien, um mit der langsamen Passage von Proxima über den Himmel Schritt zu halten. Vielleicht hatten diese Erbauer-Vorfahren zu ihnen gehört. Sie diskutierten darüber, machten ein paar Aufzeichnungen und setzten sich wieder in Bewegung.

Sie fuhren weiter und immer weiter.

Kurz vor dem fünfzigsten Tag, der Halbzeit-Marke, berührte Proxima schließlich den Horizont. Jetzt, so wusste Yuri, würden sie in den eigentlichen Planetenschatten hinabtauchen.

In den folgenden Tagen sank Proxima mit quälender Langsamkeit. Ihr Licht färbte sich zunehmend zwielichtrot, sie wurde von kühlen Luftschichten verzerrt, ihr unterer Rand vom Horizont abgeschnitten. Immer noch stießen sie hin und wieder auf ein paar Baumgruppen oder einen flatternden Drachen. Aber die dominierende Lebensform waren die Stromatolithen. Einige von ihnen waren riesengroß und seltsam becherförmig; mit ihren konkaven Oberseiten sammelten sie den Photonenregen der untergehenden Sonne. Liu meinte, sie sähen wie natürliche Radioteleskope aus.

Sie bekamen nicht mit, wie Proxima endgültig unterging. Bevor es so weit war, fuhren sie in Unwetter hinein, scheinbar unaufhörliche Stürme, Regenschauer, Nebelbänke, ja sogar Schneestürme. Wenn die Warmluft der vom Stern beschienenen Seite in die Kälte der dunklen Seite überquelle, schlussfolgerte Stef, müsse sie ihren Wasserdampf in Form von Wolken und Niederschlag abgeben. Der Terminator müsse ein Band aus fast permanentem Schnee, Regen und Nebel sein, das den gesamten Planeten umgebe. Für eine Weile sahen sie nichts mehr vom Himmel. Aber sie sahen teilweise von Eis gefleckte große und kleine Flüsse, die an den wolkenverhangenen Flanken von Bergen und Hochebenen herabströmten: das von der Luft der Tagseite hierhertransportierte Wasser, das dorthin zurückfloss, woher es gekommen war. So, bemerkte Stef, schlössen sich Energie- und Massenkreisläufe um den Terminator herum, die Trennlinie zwischen Nacht und Tag.

Als sie das Unwetterband hinter sich ließen und der Himmel endlich wieder aufklarte, war die Sicht spektakulär. Jetzt rollten sie durch ein Schattenmeer, das sich am Fuß der Berge sammelte, deren obere Hänge noch im Licht lagen und über ihnen leuchteten. Bäume klammerten sich an diese Inseln des Lichts im Himmel, während riesige Drachen träge umherflatterten. Selbst weiter unten an den Hängen blühte und gedieh das Leben, eine sekundäre Art, blasse, verhungert wirkende, stängelbasierte Geschöpfe, die gewisse Ähnlichkeit mit Krebsen oder segmentierten Würmern hatten und sich ausschließlich von welkem Laub und anderen Abfällen ernährten, die vom höher gelegenen Gelände zu ihnen herabrieselten.

Yuris Knochen waren steif von der Reise, seine Augen waren wässrig, und er war fortwährend müde. Dennoch entdeckte er ein Wunder nach dem anderen. »Was für eine Verschwendung – all das nur für drei komische alte Käuze wie uns.«

Die KolE bat um einen längeren Halt. »Diese Gipfel sind praktisch Inseln. Dort oben könnte es einzigartige Biota geben, zumindest unter den Nichtfliegern, selbst unter den Baumarten. Ein ganzes Spektrum einzigartiger Ökosysteme in Inseln aus Sternenlicht um den ganzen Terminator herum.«

»Die andere erforschen werden«, sagte Yuri sanft. »Wir haben unsere eigenen Ziele. Komm, KolE. Ich hoffe, du hast deine Scheinwerfer geprüft …«

Und so fuhren sie weiter, vorbei an einem Wunder nach dem anderen.

Schließlich verloren sie Proximas direktes Licht. Unter der Wolkendecke, die so nah bei der Terminator-Linie hartnäckig am Himmel hing, kam die einzige Helligkeit von den Lichtpfützen ihrer Scheinwerfer, und das hell erleuchtete Innere des Rover war eine Zuflucht vor der Dunkelheit.

Stef und die KolE behielten die Temperatur draußen aufmerksam im Auge; sie sank natürlich, aber nicht übermäßig schnell. Unter dickeren Wolken konnte sie sogar über den Gefrierpunkt steigen. »Was beweist«, sagte Stef, »dass eine dichte Atmosphäre auf einer Welt wie dieser hinreichend gut als Thermodecke funktioniert, um genügend Wärme zur dunklen Seite zu transportieren und damit zu verhindern, dass alles gefriert.«

»Das beweist auch schon die Tatsache, dass die ganze Luft auf der anderen Seite nicht vor einer Milliarde Jahren zu großen Bergen aus festem Sauerstoff und Stickstoff gefroren ist«, sagte Liu trocken. »Und dass wir immer noch atmen.«

»Aber es ist immer gut, solche Dinge durch Beobachtungen zu bestätigen.«

Während sie weiterfuhren, brach die Wolkendecke unvermittelt auf und gab den Blick auf einen Himmel voller Sterne frei. Die Temperaturen sanken rasant, und es bildete sich Reif.

Während einer Pause packte Yuri sich in Thermo-Unterwäsche, einen gefütterten Mantel und eine Überhose ein und ging mit den anderen hinaus, um sich den Himmel anzuschauen.

»Schon komisch«, sagte er. »Ich habe nie viel von den Sternen gesehen. Als ich klein war, in der Zeit vor dem Kältetank, war der Nachthimmel auf der Erde ein Reinfall. Voller Weltraumspiegel und anderem orbitalen Müll, selbst abseits des Lichtscheins der Großstädte und des Smogs. Vom Mars aus konnte man die Sterne sehen, aber wir durften die Kuppeln nicht verlassen. Und hier auf Per Ardua ist die Sonne nie untergegangen.«

»Lass es auf dich wirken, mein Freund«, sagte Liu. »Lass es auf dich wirken. Die Alpha-Sonnen sind einfach unschlagbar, was?« Ein blendendes Paar von Diamanten, deren Licht hell genug war, um Schatten zu werfen – hell genug, dachte die KolE, um eine schwache Fotosynthese in Gang zu setzen.

Stef blickte unterdessen nach Osten. »Schaut mal. Seht ihr den da?« Es war ein strahlender Stern, der tief unten am Horizont hing.

»Ich sehe ihn«, murmelte die KolE. »Aber ein so heller Stern kommt in den Sternkarten, die ich gespeichert habe, nicht vor. Vielleicht eine Nova?«

»Davon hätten wir gehört«, erwiderte Stef. »Ich denke mal, wir werden es rausfinden …«