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Verglichen mit dem engen Zimmer, das Penny sich mit Jiang teilte, wirkte Kings Quartier wie eine Villa. Er hatte vier große, miteinander verbundene Räume, alle mit Bildschirmen ausgestattet und dezent möbliert, dazu noch ein Badezimmer und eine Küche, luxuriöser als alles, was Penny je gesehen hatte. Aber schließlich war es vor allem seinem Geld und seinem Einfluss zu verdanken, dass dieser alte Tunnel so rasch in einen Schutzraum umfunktioniert worden war; Erdschein verfügte zwar über gewaltige Ressourcen, aber sie waren von speziellerer Art und weiter verstreut. Selbst Erdschein schuldete King Gefälligkeiten.

Als sie eintraten, wurde der große Bildschirm im Raum vom zentralen Bild eines leeren Podiums mit einem Mikrofonständer beherrscht, dem jahrhundertealten Signal für eine unmittelbar bevorstehende Pressekonferenz. Penny fragte sich, wo das Podium stand, wo dieses Ereignis stattfinden sollte; es konnte überall auf dem Planeten sein, ja sogar auf dem Mond.

Penny nahm neben Erdschein Platz. Wie immer rollte ein Servoroboter herbei und bot ihnen Kaffee an.

»Also, wie weit sind sie?«, fragte Penny.

King saß aufrecht in einem Lehnstuhl, die Hände um seinen Gehstock geschlungen. Er funkelte Erdschein wütend an. »Das weiß er wahrscheinlich besser als ich. Fragen Sie ihn. Die stellvertretende Generalsekretärin der Vereinten Nationen will eine Erklärung abgeben. Wissen Sie noch? Sie haben sie auf Ceres kennengelernt.«

Penny war kein Politikfreak; sie runzelte die Stirn und versuchte, die Sache zu durchdenken. »Das heißt, sie gibt eine einseitige Erklärung ab. Richtig? Wenn sie und die chinesischen Delegierten nicht gemeinsam erscheinen. Ich schätze, das ist kein gutes Zeichen.«

»Sollte man meinen, nicht wahr?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sie überzieht. Es ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen, wenn sie noch miteinander reden. Oder auch nicht. Ach, was weiß ich.« Er rieb sich das fleischige Gesicht und wirkte einen Moment lang erschöpft. Dann schien er sich mit einiger Anstrengung zusammenzureißen. Er drehte sich zu Penny um. »Also, wie geht’s Ihnen?«

Sie grinste. »Was glauben Sie denn, wie es mir geht?«

»Kein Wort von Ihrer Schwester, nehme ich an. Nicht einmal jetzt, in dieser Zeit der Krise.«

Sie zuckte die Achseln. »Wie auch? Die Nachrichten von alledem werden Proxima erst in vier Jahren erreichen.«

»Es ist eine Schande, dass sie so weit weg ist.«

Sie spürte, dass er auf eine Reaktion wartete. Sie spürte auch, dass er nur redete, um die Zeit auszufüllen, bevor die stellvertretende Generalsekretärin an dieses Podium trat. »Eine Schande, ja.«

»Sie vermissen sie natürlich. Sie sind Zwillinge. Sie sollten Ihr Leben teilen.«

Penny hob die Schultern. »Für Stef habe ich in gewissem Sinn nicht mal existiert, bevor sie in die Luke gestiegen ist. Mit ihrem Abgang nach Proxima bei der erstbesten Gelegenheit hat sie mir laut und deutlich Adieu gesagt.«

»Ganz schön hart.«

»Kann man wohl sagen. Wir haben ja früher schon darüber geredet. Jetzt bin ich zu alt; ich habe eine Lederhaut.«

Erdschein, der an seinem virtuellen Kaffee nippte, schaute ernst drein. »Ich glaube, ich kann das nachempfinden. Ich weiß noch, wie es war, ein Mensch zu sein, aber jetzt bin ich keiner mehr. Mein Bewusstsein lässt sich problemlos modifizieren, überarbeiten, wiederholen, editieren … so wie es vielleicht mit Ihrem geschehen ist, oder mit dem Ihrer Schwester. Es ist Ihr einzigartiges Missgeschick, Penelope Kalinski, Ihres und das Ihrer Schwester, dass Ihre persönliche Zeitlinie sich irgendwie mit den Mysterien der Kernel-Physik verheddert hat.«

Penny dachte darüber nach. »Danke. Glaube ich.«

King zwinkerte ihr erneut zu. »Sie sind hier, in diesem Raum, zusammen mit mir. Sie sind durchaus real. Vergessen Sie den existenzialistischen Quatsch. Sie kommen schon klar …«

Jetzt gab es Bewegung auf dem Bildschirm, und sie drehten sich um und schauten hin. Die stellvertretende Generalsekretärin – schlank, smart, sehr ernst – trat mit einer Tafel in der Hand ans Podium. Sie begann zu sprechen, und englische, spanische, russische und chinesische Untertitel bombardierten den Bildschirm. Penny brauchte jedoch nur das Textlaufband am unteren Rand, um zu erkennen, was geschehen war.

Die Erde musste geschützt werden. Das war der einzige Punkt, in dem Einigkeit herrschte; ansonsten waren die Gespräche erneut abgebrochen worden. Darüber hinaus ließ sich unmöglich vorhersagen, wie es nun weitergehen würde. Keine Partei hatte der anderen den Krieg erklärt, noch nicht, aber …

Erdschein stand auf. Er flimmerte sonderbar, als würden gewaltige Verarbeitungskapazitäten abgezweigt. »Die Gespräche sind beendet. Es wird Krieg geben, das steht fest – die Logik des Kalten Krieges, wie im zwanzigsten Jahrhundert. Jetzt hat jede Seite ein Interesse daran, den Erstschlag auszuführen, bevor die andere sie ihrer Fähigkeit dazu berauben kann. Bringen Sie mich von der Erde weg.«

Penny sah King an. Mit aschfahlem Gesicht schaute er auf den Bildschirm; offenbar war diese Nachricht schlimmer, als er erwartet hatte. Er nahm sich rasch zusammen und hob den Blick zu Erdschein. »In Ordnung. Ich habe ein Schiff. Du kannst es benutzen. Aber ich will, dass meine Familie hierbleibt.«

Die Plötzlichkeit dieser Verhandlungen verblüffte Penny. »Von der Erde weg? Aber …« Aber wenn jemand die Implikationen dessen verstand, was da gerade geschah, dieses Schattenspiel hinausgezögerter Pressekonferenzen und mehrdeutiger Erklärungen, dann diese beiden. Sie dachte darüber nach, dann stand sie auf. »Ich helfe dir, Erdschein. Ich kann dich weiterhin beraten. Nimm mich mit auf das Schiff.«

Erdschein nickte. »Abgemacht.«

»Und Jiang Youwei auch«, fügte sie rasch hinzu.

»Einverstanden.«