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Manches, was wir als Kind zu hören bekommen, prägt sich unauslöschlich in unser Gedächtnis ein und bleibt dort bis ins hohe Alter haften – sofern uns vorher keine Demenz ereilt und ihren unbarmherzigen Radierer ansetzt.
Bei Rudolf Marenburg war eine dieser unauslöschlichen Erinnerungen eine Redensart, die sein Vater eines Tages gebraucht hatte – Jahre bevor er das Haus gekauft hatte, in dessen Nachbarschaft später eine Familie namens Forstner ziehen würde. Die Redensart hatte sich auf einen Bauern bezogen, mit dem Marenburgs Vater einst befreundet gewesen war. An den Namen des Bauern konnte sich Marenburg zwar nicht mehr erinnern – hier hatte sein Alter wohl bereits den Radierer gebraucht –, aber er wusste noch, dass der Grund für den Ausspruch seines Vaters ein Unfall des Bauern im Frühsommer 1958 gewesen war.
Wegen eines ungeschickten Lenkmanövers hatte sich sein Traktor beim Mähen eines abschüssigen Grundstücks mehrmals überschlagen. Als man den Mann schließlich fand – eingeklemmt unter seinem Fendt Dieselross –, hatte er bis auf ein paar Quetschungen keinerlei Schaden genommen. Was ein Wunder gewesen war, da Traktoren zu jener Zeit noch nicht mit Überrollbügeln ausgestattet waren.
Der Bauer war »dem Teufel gerade noch einmal von der Schippe gesprungen«, wie Marenburgs Vater es ausgedrückt hatte. Und als Rudolf Marenburg jetzt, etliche Jahre später, am Krankenbett seines Freundes Jan saß und in dessen erschöpftes und gleichzeitig glückliches Gesicht sah, das von der verhaltenen Freude erfüllt war, trotz allem noch immer am Leben zu sein, musste er an diese Redensart denken. Ja, auch Jan war dem Teufel in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen.
Als Marenburg gestern spätabends mit dem Taxi nach Hause gekommen war und seine verkümmerten Pflanzen entdeckt hatte, die wie nach einer schweren Dürreperiode Köpfe und Blätter hängen ließen, war ihm sofort klar gewesen, dass etwas vorgefallen sein musste, und obwohl es schon spät gewesen war, hatte er bei Jan geläutet. Doch niemand hatte ihm geöffnet, und als er schon wieder gehen wollte, war ihm das flackernde Licht aus dem Esszimmer aufgefallen. Durch das Fenster hatte er den umgestürzten Kerzenständer und den brennenden Tischläufer entdeckt und war mit seinem Zweitschlüssel in Jans Wohnung geeilt.
An das, was dann geschehen war, konnte sich Marenburg nur noch bruchstückhaft erinnern. Der Schock und die Angst um das Leben seines besten Freundes hatten ihn wie betäubt handeln lassen. Marenburg wusste nur noch, dass kurz nach ihm auch die Polizeistreife von ihrer Runde durch das Viertel zu Jans Haus zurückgekehrt war. Erst als ihm ein Notarzt auf die Schulter geklopft und gemeint hatte, Marenburg habe alles richtig gemacht, war sein Verstand wieder aufgeklart. Doch rückblickend kam ihm dies alles wie die Erinnerung eines Fremden vor.
»Nun komm schon, Rudi«, seufzte Jan, »sieh mich nicht so an.«
»Tut mir leid, aber ich kann nicht anders. Immerhin hätte ich beinahe meinen besten Freund verloren. Junge, Junge, du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Jan packte den Haltegriff über dem Bett und zog sich mühsam in eine aufrechtere Position. Trotz der Blutkonserven und Infusionen, die man ihm verabreicht hatte, fühlte er sich noch zittrig und geschwächt. »Hast du mit der Polizei gesprochen? Weißt du schon was Neues von Carla?«
Marenburg schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, bis heute Morgen wussten sie noch nichts. Dieser Kommissar will sich melden, sobald sich etwas ergibt. Er hat mir erzählt, was geschehen ist. Mein Gott, was ist das nur für eine verrückte Geschichte.«
Jan musste mit den Tränen kämpfen. Er sah aus dem Fenster, wo erste Sonnenstrahlen ihren Weg durch die dunklen Wolken fanden.
»Sie wissen noch immer nichts«, wiederholte er leise. »Also heißt es wieder warten. Verdammt, Rudi, es ist genau wie damals bei meinem Bruder. Das macht mich noch wahnsinnig.«
Marenburg griff nach seiner Hand und drückte sie. »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, Jan. Noch kann keiner sagen, dass ihr wirklich etwas zugestoßen ist, und ich glaube das auch nicht. Und sie hat sich auch nichts angetan, nicht unsere Carla. Die ist doch hart im Nehmen, so leicht lässt die sich nicht unterkriegen. Sie hat sich bestimmt nur irgendwohin zurückgezogen. Wirst sehen, alles wird wieder gut.«
Marenburgs verzweifelter Versuch, ihn zu trösten, rührte Jan. Er sah ihn an und lächelte erschöpft. »Und? Wie geht es dir? Gefällt es dir auf den Kanaren?«
»Ähm, also weißt du«, begann Marenburg und hüstelte. »Die Sache hat sich wohl erledigt.«
»Oh«, machte Jan. »Ist wohl nicht so gelaufen, wie du es dir vorgestellt hast?«
»Ach«, seufzte Marenburg, »es gibt eben doch einen Unterschied zwischen dem, was man im Internet vorgibt zu sein, und dem realen Wesen einer Person. Ich hatte mir eingebildet, dass Doris eine Traumfrau ist. Jemand, der hundertprozentig mit mir auf einer Wellenlänge liegt. Tja, aber im Chat geht eben doch so einiges unter.«
»Das tut mir leid für dich, Rudi.«
»Na ja, ich wusste zwar, dass die Gute esoterisch angehaucht ist, aber ich hatte nicht so viel darauf gegeben. Das ganze Ausmaß wurde mir erst bei unserer Begegnung klar. Nein, das war nichts für mich. Ich stehe nicht so darauf, meinen Namen für die Sonnenuntergangsgöttin in den Sand zu tanzen.«
Mit der letzten Bemerkung wollte Rudi ihn gewiss aufheitern, aber Jan war nicht nach Lachen zumute.
»Jana hat im Grunde denselben Fehler gemacht«, sagte er mehr zu sich selbst. »Nur dass ihre Vorstellungen von der großen Liebe weitaus fanatischer gewesen sind. Und weil sie wusste, dass es sich dabei nur um eine Illusion handelte, so wie sie selbst nur eine Illusion war, hatte sie diese Liebesbeziehung in einem Leben nach dem Tod verwirklichen wollen.«
»Da kann man schon ins Grübeln kommen, was wir uns unter der großen Liebe so vorstellen«, sagte Marenburg nachdenklich. »Sehnen wir uns nach dem Ideal, das wir im Kopf herumtragen, oder können wir einen Menschen auch so annehmen, wie er wirklich ist? Ich meine, mit allen Ecken und Kanten.«
»Frag mich nicht, Rudi. Wir sind Männer. Wir werden das nie verstehen.«
Es klopfte, und Rutger Stark sah zu ihnen herein. »Ah, Sie sind jetzt wach. Störe ich?«
»Nein, kommen Sie herein.«
Stark betrat das Zimmer und machte dabei einen unsicheren Eindruck. Etwas schien ihn zu bedrücken.
»Hier«, sagte er und stellte ein Glas mit eingelegter Roter Bete auf dem Nachttisch ab. »Ich habe mal irgendwo gelesen, das sei gut für die Blutbildung.«
»Danke«, entgegnete Jan und sah ihn prüfend an. »Gibt es Neuigkeiten?«
Mit einem tiefen Seufzer ließ sich der Polizist auf das freie Nachbarbett sinken. »Es geht um Thanner. Hören Sie, Dr. Forstner, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe diesen Mann unterschätzt, und dieser Fehler hätte Sie fast das Leben gekostet.«
»Hat er überlebt?«
»Dr. Mehra sagt, Thanner hat sehr viel Blut verloren, aber er ist außer Lebensgefahr. Wir können ihn morgen in die JVA verlegen. Wegen der Kehlkopfquetschung wird er dort noch ein paar Tage in der Klinik bleiben müssen. Allerdings …« Mit einem ratlosen Blick kratzte sich Stark am Kopf. »Also, er ist immer noch nicht er selbst, verstehen Sie? Nicht einmal nach der langen Ohnmacht.«
»Jana ist eindeutig die Stärkere von beiden Persönlichkeiten«, sagte Jan und umklammerte den Haltegriff über dem Bett noch fester. »Aber darum geht es Ihnen doch nicht, oder? Da ist doch noch etwas? Sie wissen, was mit Carla ist, nicht wahr?«
Stark räusperte sich und verzog betreten das Gesicht. »Nein, das nicht, aber es hat mit Frau Weller zu tun. Sagen Sie, Doktor, als Felix Thanner bei Ihnen war, hat er da mit Ihnen über Frau Weller gesprochen?«
»Nein, hat er nicht. Nun sagen Sie schon. Was ist los?«
Stark senkte den Blick. »Wir haben den Mini Cooper Ihrer Lebensgefährtin gefunden. Er stand in Stuttgart in einem Park-and-Ride-Parkhaus am Stadtrand. Ein Jugendlicher hatte versucht, ihn aufzubrechen, um an Frau Wellers iPhone auf dem Beifahrersitz zu gelangen. Dabei ist die Alarmanlage losgegangen.«
»In Stuttgart? Was sollte Carla denn in Stuttgart wollen? «
»Sie …«, Stark hustete, »sie hat den Wagen dort nicht abgestellt. Es war Thanner. Die Überwachungskamera hat ihn dabei aufgenommen. Er hat sich sogar extra vor die Kamera gestellt und gewunken, um auf sich aufmerksam zu machen. Er … oder vielmehr Jana.«
»Dann weiß er also, wo Carla ist!«
Stark nickte. »Höchstwahrscheinlich, ja.«
»Also, ich habe ja noch immer nicht alles ganz verstanden«, mischte sich Marenburg in das Gespräch ein, »aber warum sollte dieser Thanner Carla auch noch entführen? Er war doch drauf und dran, mit dir ins Liebesnirvana abzutauchen?«
»Weil er auf Nummer sicher gehen wollte, falls etwas seinen oder eher Tatjanas Plan vereiteln sollte.« Jan zog sich die Infusionskanüle aus dem Arm, schlug die Decke beiseite und stellte die Füße auf den Boden.
»He, Junge«, rief Marenburg aus. »Was hast du vor?«
»Ich werde mir etwas anziehen und mit ihm reden.«
Mit unsicheren Schritten ging Jan zum Tisch und griff nach der Tüte mit frischer Unterwäsche, die Marenburg ihm mitgebracht hatte. Seine Hände zitterten. »Jana wird sicherlich schon darauf brennen, mich mit ihrem Plan B vertraut zu machen.«
»Das denke ich auch«, bestätigte Stark. »Aber Sie gehen nicht allein. Ich werde Sie begleiten.«
»Nein.« Jan winkte ab. »Thanner wird offener zu mir sein, wenn ich allein mit ihm rede.« Er sah sich suchend um. »Wo sind meine restlichen Klamotten? Ich muss aus diesem albernen Krankenhaushemd raus.«