76
Verwirrung.
Geräusche.
Irgendwo lief Wasser.
Ein elektronische Melodie.
Ein Piepton.
Dann eine Stimme, blechern und wie aus weiter Ferne. Als müsse sie eine metallische Wand durchdringen.
»Hallo, Dr. Forstner.«
Ein träger Gedanke. Ich kenne diese Stimme.
»Hier spricht Hauptkommissar Stark.«
Er hört sich so dumpf und hallend an. Als ob ich in einer Tonne begraben bin.
Diese Vorstellung erschreckte ihn und riss ihn aus der Benommenheit. Jan schlug die Augen auf. Anfangs sah er nur verschwommene Umrisse, als befände er sich unter Wasser. Dann nahmen die Bilder deutlichere Konturen an.
Ein Tisch.
Ein Kerzenständer.
Er erkannte den Kerzenständer. Ja, er hatte ihn letztes Jahr auf einem Flohmarkt gekauft. Zusammen mit Carla. Sie hatte ihn hübsch gefunden. Hübsch, das war ihre Umschreibung für altmodisch oder kitschig. So kitschig, dass er schon wieder gut ist, hatte sie gesagt. Deshalb hatte er ihn gekauft. Er hatte ihn auf fünf Euro heruntergehandelt. Nun brannten fünf Kerzen darin.
Was ist passiert?
Das Wasserrauschen verstummte.
»Hören Sie, Doktor«, sagte Stark, und Jan begann zu begreifen, dass der Polizist mit seinem Anrufbeantworter sprach. »Wahrscheinlich schlafen Sie noch, aber sobald Sie das abhören, rufen Sie mich bitte sofort zurück, ja? Es gibt Neuigkeiten zu Felix Thanner. Keine guten Neuigkeiten. Ich bin von der Gerichtsmedizin angerufen worden. Man hat die verbrannte Leiche aus dem Pfarrhaus identifiziert. Der Tote ist Heinz Kröger. Wie es aussieht, muss Thanner die Leiche meines Kollegen vor dessen Beerdigung vom Friedhof gestohlen haben. Wir überprüfen jetzt, wer oder was sich stattdessen in dem Sarg befindet. «
Was, zum Teufel, redet dieser Idiot da?
»Seien Sie also wachsam, Doktor. Felix Thanner ist noch am Leben. Halten Sie Ihr Haus gut verschlossen. Ich denke zwar nicht, dass Thanner sich zu Ihnen wagt, wahrscheinlich wird er sich irgendwo vor uns verstecken, aber seien Sie dennoch auf der Hut. Es gibt jedoch keinen Grund zur Sorge, wir haben bereits eine Großfahndung eingeleitet. Es wird nicht lange dauern, bis wir ihn fassen, da bin ich mir sicher. Falls ich nichts von Ihnen höre …«
Die maximale Aufnahmezeit des Anrufbeantworters war erreicht. Ein Klicken, dann ein Piepton, und die Nachricht war gespeichert.
Jan schluckte. Sein Mund fühlte sich taub und trocken an, wie nach einer durchzechten Nacht. Er realisierte, dass er auf einem Stuhl in seinem Esszimmer saß. Vor dem Fenster war dunkle Nacht. Er hatte keine Ahnung, wie lange er weggetreten war.
Seine Augen tränten von der Nachwirkung der Betäubung, doch als er sie reiben wollte, ging es nicht. Er konnte seine Hände nicht bewegen. Auch seine Beine nicht.
Hinter ihm aus dem Bad hörte er das Klappern des Handtuchhalters. Er roch sein Duschgel und musste daran denken, was auf der Verpackung stand: erfrischend und belebend. Für ein Gefühl wie neugeboren.
Neugeboren?, dachte er, während ihm klarwurde, wer gerade sein Bad benutzte. Nein, eher wie von den Toten auferstanden .
Abermals versuchte er, sich zu bewegen. Dann verstand er, dass er mit Klebeband an den Stuhl gefesselt war. Reißfestes Paketklebeband wie das, das er in der Küchenschublade aufbewahrte. Vielleicht war es sogar sein eigenes Klebeband?
Die Informationen drangen nur nach und nach in sein Bewusstsein vor. Was immer ihm Thanner injiziert hatte, es würde noch eine Weile dauern, ehe die Wirkung völlig abgeklungen war.
»Hallo, mein Schatz«, sagte eine fröhliche Frauenstimme hinter ihm. »Du bist ja schon wieder wach.«
Er hörte das Patschen nackter Füße auf dem Fliesenboden, dann wurde ihm ein Kuss auf die Wange gedrückt, und Felix Thanner stand vor ihm.
Nein, korrigierte Jan seine Beobachtung, es war nicht Thanner. Vor ihm stand Tatjana. Es mochte Felix Thanners Körper sein, aber beherrscht wurde er nun von Tatjana. Oder sollte er sie besser Jana nennen?
Sie trug ein Badetuch wie einen Turban um den Kopf gewickelt, aus dem einige Haare ihrer blonden Perücke heraushingen. Sie hatte außerdem eins von Jans weißen Hemden angezogen. Die oberen drei Knöpfe standen offen, und Jan starrte auf das Dekolleté, das die täuschend echte Latexhaut freigab.
Bob der Baumeister hätte besser in statt auf der Verpackung nachsehen sollen, die er uns gezeigt hat. Sie muss leer gewesen sein.
Nichtsdestoweniger hatte der Spurensicherer Recht gehabt, was diese Verkleidung betraf. Nicht einmal Thanners eigene Mutter hätte ihn so wiedererkannt. Nur die Augen waren eindeutig die von Felix Thanner, aber auch hier war eine Veränderung festzustellen. Die Art, mit der ihn diese Augen ansahen, und ihr Blinzeln hatten nun eindeutig feminine Züge. Jedoch nicht auf die übertriebene Art, mit der Männer häufig die Gesten von Frauen imitierten. Diese Mimik wirkte durch und durch echt, und es war nicht Felix Thanners Mimik.
»Geht es dir gut, Schatz? Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?«
Ihre Stimme klang ebenfalls täuschend echt. Sie nahm das Handtuch ab, frottierte ihr künstliches Haar und lächelte ihn an.
Dies war also Jana. Eine Frau, die es eigentlich nicht gab. Ein imaginäres Wesen, das sich einen Weg in diese Welt gesucht hatte. Ein Gespenst im Körper eines Menschen, den es benutzte, so wie ein Lichtstrahl Rauch brauchte, um sichtbar zu werden.
Dies war Jana, die liebeskranke und besorgte Jana, die mit wahnhafter Selbstverständlichkeit ihren geliebten Retter umsorgte, als sei es nie anders gewesen.
Jan deutete mit dem Kinn zu seinen Fesseln. »Bitte mach mich los.«
»Das würde ich wirklich gerne«, sagte sie und seufzte, »aber ich fürchte, das wäre keine gute Idee. Wie ich dir schon gesagt habe, muss man die Menschen manchmal zu ihrem Glück zwingen. Erinnerst du dich noch daran? Ach, bestimmt erinnerst du dich. Ich habe dir doch nur eine kleine Dosis verabreicht, und du warst nicht lange weg.«
»Was …«, er leckte sich über die Lippen, wobei sich seine Zunge wie dickes, geschwollenes Leder anfühlte, »was hast du mir gegeben?«
Sie kicherte. »Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Felix’ Schäfchen auf der Drogenstation haben mir versichert, dass es absolut ungefährlich ist und auch nicht abhängig macht.«
Jan stöhnte und legte den Kopf in den Nacken. Natürlich, als Seelsorger konnte Felix Thanner ungehindert in der Klinik ein und aus gehen, und auf diese Weise war Jana an die Informationen und letztlich auch an den Stoff gekommen. In einer großen Klinik kamen immer wieder Medikamente abhanden, ganz gleich, wie streng die Vorschriften auch sein mochten.
Sie bedachte ihn mit einem verwunderten Blick. »Warum siehst du mich so an? Freust du dich denn gar nicht? Jetzt sind wir in der realen Welt zusammen. Das ist doch wunderbar. Nur du und ich.«
»Und was ist mit Felix?«
»Felix?« Sie wirkte ehrlich überrascht. »Er ist tot. Das weißt du doch.«
»Nein, ist er nicht«, widersprach ihr Jan. Er musste versuchen, zu Felix durchzudringen. Das war die einzige Chance, dieses gespaltene Wesen zur Vernunft zu bringen. Felix war das Ich und das Über-Ich, das die Kontrolle wieder übernehmen musste. Jan würde sie überzeugen müssen, dass es Felix noch gab. Andernfalls lief er Gefahr, dass diese Situation eskalierte.
»Ach, du Dummerchen, was ist denn nur los mit dir?«, sagte sie und lächelte nachsichtig. »Wirklich, wir brauchen keine Angst mehr vor ihm zu haben. Ich habe dir doch versprochen, dass ich alles für unseren Plan tun werde. Und Felix, dieser Dummkopf, hat uns dabei geholfen.«
»Nein, du hast doch gehört, was der Polizist gesagt hat.« Jan sprach so laut und eindringlich, wie es ihm in seinem noch immer benommenen Zustand möglich war. »Felix ist nicht tot. Es war nicht sein Körper, der verbrannt ist. Felix steht vor mir und trägt das Kostüm einer Frau. Du bist Felix!«
»Also …«, sie schüttelte entrüstet den Kopf, »was redest du da nur für einen Unsinn! Willst du mich beleidigen? Hast du etwa die Nase voll von mir? Das solltest du dir gut überlegen.«
Etwas Bedrohliches funkelte in ihren Augen, und dieses Etwas war in der Lage, ohne Skrupel zu töten.
Jan schluckte. Es schmerzte. Sein Hals war wie ausgedörrt, und seine Stimme klang rau und trocken. »Ich möchte doch nur, dass du vernünftig wirst. Sieh doch ein, dass …«
»Was hältst du von meinem Nagellack?« Sie lächelte wieder und hielt ihm ihre rechte Hand vors Gesicht. Jan starrte auf die dünnen schlanken Finger mit den gepflegten Nägeln, die auch zu einer Frau hätten gehören können. »Was meinst du? Ist er nicht zu dunkel für meine Augen?«
»Es ist nicht dein Nagellack«, schnaubte Jan. »Er gehört Carla! Ebenso wie die anderen Kosmetiksachen im Bad. Du bist hier eingedrungen. Du bist in mein Leben eingedrungen. Und du bist Felix, verstehst du das?«
»Nein«, entgegnete sie trotzig. »Das verstehe ich nicht. Überhaupt verstehe ich nicht, warum du so abweisend bist. In der anderen Welt warst du es nicht. Dort hast du mir gesagt, dass du mich liebst und mich hier rausholen wirst.«
»Nein«, ächzte Jan. Sein Kopf dröhnte, und er schloss die Augen. »Das habe ich nicht. Das war nur in deiner …«
»Doch, das hast du!«, fuhr sie ihn an. Ihr Blick war der eines trotzigen Mädchens, das mit aller Entschiedenheit auf seinem Recht bestand. »Du hast gesagt, dass du diese Welt für schlecht hältst, so wie ich. Für unrein. Nur unsere Liebe ist rein. Das waren deine Worte.«
»Nur in deiner Fantasiewelt!«
»Nein!« Zornig stampfte sie mit dem nackten Fuß auf. »Was kann dir diese Carla denn schon bieten, hä? Ihren Körper, der in ein paar Jahren verwelken wird. Sie wird fett und faul werden, sobald sie dich sicher für sich weiß, und sie wird dich mästen, damit du ebenfalls fett und faul wirst. Und damit du es nicht merkst, wird sie dich verführen. Sie wird wie ein Tier über dich herfallen, und ihr werdet widerliche Dinge miteinander tun. Feuchte, stinkende Dinge, übertüncht von Heuchelei und Liebesschwüren, die nicht den Atem wert sind, den ihr dafür verbraucht. Darum geht es doch in dieser Welt, oder? Ficken, lügen und heucheln. Was weiß sie denn schon, was Liebe ist!«
»Deine Wahnfigur ist eifersüchtig, Felix«, sagte Jan so ruhig wie möglich. Er versuchte Blickkontakt herzustellen, doch es gelang ihm nicht. Jana wandte den Kopf hin und her und wich ihm aus.
»Jana ist nicht real«, betonte er. »Sie hat keinen Körper. Deshalb verabscheut sie alles Körperliche. Aber du, Felix, könntest ein normales Leben führen. Ein Leben ohne Leiden und Schuldgefühle. Was du als Junge getan hast, war die Verzweiflungstat eines misshandelten Kindes. Jeder wird das verstehen. Lass dir von mir helfen. Du hast doch nach einem Retter gesucht, nicht wahr, Felix?«
Sie schlug ihm mit aller Härte ins Gesicht.
»Halt dein verdammtes Maul, hörst du!«, fauchte sie. »Halt. Dein. Verdammtes. Maul!«
»Nein, das werde ich nicht! Du bist nicht Jana. Jana gibt es nicht! Felix, komm schon, rede mit mir!«
Wieder schlug sie ihm ins Gesicht. Zuerst links, dann rechts. Seine Wangen brannten von der Härte ihrer flachen Hand.
Dann sprang sie vom Stuhl auf und lief in die Küche. Jan hörte, wie eine Schublade aufgezogen wurde.
»Felix, nein!«, rief Jan. »Hör mir doch zu. Jana kann dir nichts anhaben. Es gibt sie nicht wirklich. Aber dich gibt es! Mach dich von ihr frei! Es ist noch nicht zu spät.«
Sie kam aus der Küche zurück. In einer Hand hielt sie das Klebeband, mit der anderen winkte sie ihm mit einer Küchenschere zu.
»Ich habe gesagt, du sollst ruhig sein«, sagte sie mit bedrohlich leiser Stimme.
»Bitte nicht, Felix!«
»Noch ein einziges Wort, und ich schneide dir die Zunge heraus, hast du das verstanden?« Sie hob die Schere vor sein Gesicht. »Ich kann das. Papa hat mir gezeigt, wie das geht. Und eine Rinderzunge ist deutlich größer als deine. Also sag lieber nichts mehr.«
Das Kerzenlicht spiegelte sich auf der Schneide. Es war eine große Schere, mit der man mühelos Pappkartons oder Plastik durchschneiden konnte. Nun schnitt Jana einen langen Streifen des Klebebands damit ab. Sie kam dicht an ihn heran, klebte es ihm über den Mund und umwickelte seinen Kopf.
Jan wehrte sich nicht. Sein Blick war nur auf die Schere in ihrer Hand gerichtet. Eine Hand, die vor nicht allzu langer Zeit Volker Nowaks Kopf gepackt und ihn zwischen Fahrertür und Wagen gezerrt hatte, um dort seine Kehle zu zerquetschen.
»Was weißt du schon von Schuldgefühlen?«, sagte sie und drückte das Band fest.
Dann trat sie von Jan zurück. Sie betrachtete ihr Werk und nickte zufrieden.
»Ich wollte den Gasherd nicht aufdrehen. Ich wollte auch nicht die Kerze auf den Küchentisch stellen. Aber was hatte ich denn für eine andere Möglichkeit, Papa zu mir zu holen? Dorthin, wo alle so sind wie ich.«
Weinend wandte sie sich ab und verschwand erneut in der Küche. Für eine Weile war nur ihr Schluchzen zu hören. Dann fauchte sie ein einzelnes Wort.
»Heulsuse!«
Das Schluchzen endete abrupt, als hätte sie es abgeschaltet, und Jan vernahm das Klappern der Kühlschranktür. Gleich darauf hörte er, wie sie ein Glas aus dem Küchenschrank holte.
Als sie zu ihm zurückkehrte, hielt sie zwei Weingläser in den Händen. Sie stellte eines davon vor Jan auf dem Tisch ab, zog einen Stuhl vor ihn und setzte sich.
Jan hoffte, sie würde seinen Knebel wieder entfernen, doch sie schien seine Gedanken erraten zu haben und fuhr mit einem Finger über das Klebeband.
»Ich würde ja gerne mit dir zusammen ein Glas trinken, so wie in der anderen Welt, aber hier wäre es wohl falsch.« Sanft strich sie ihm mit der Hand übers Gesicht. »O Jan, wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Darauf, dass wir endlich unseren Plan verwirklichen können. Du wirst sehen, in der anderen Welt ist es viel schöner. Dort ist man immer gleich, man altert nicht, und die Menschen sind so, wie man sie haben möchte. Dort gibt es keine Enttäuschungen. «
Jan spürte Panik in sich aufsteigen. Er ahnte, was sie vorhatte, aber er wollte es nicht glauben.
Nicht daran denken, sonst verlierst du dich in Panik! Denk lieber darüber nach, wie du hier wieder rauskommst. Und zwar schnell!
Sie trank einen Schluck und hielt das Glas ins Kerzenlicht. Der Rotwein sah aus wie Blut. Jan verfluchte sich dafür, den Wein mit dem Narkotikum nicht aufbewahrt zu haben.
»O sink hernieder, Nacht der Liebe«, flüsterte sie. »Gib Vergessen, dass ich lebe. Nimm mich auf in deinem Schoß, löse von der Welt mich los.«
Sie stellte das Glas ab, stand mit einer entschlossenen Bewegung auf und ging erneut in die Küche.
Jan zerrte an den Fesseln, doch das Klebeband hielt ihn unnachgiebig an Armlehnen und Stuhlbeinen fest. Wie oft mochte sie jede Stelle umwickelt haben? Zehnmal, zwanzigmal? Keuchend streckte er sich und versuchte zu erkennen, was sie tat.
»Magst du Tristan und Isolde, Liebling?«, tönte ihre Stimme zu ihm. »Ich kann mich an der Musik nicht satthören. Am meisten liebe ich den zweiten Aufzug. ›Ewig währ’ uns die Nacht …‹ Es liegt so viel Wahrheit darin, nicht? Als seien diese Worte nur für uns beide geschrieben worden.«
Jan schrak zusammen, als er die Besteckschublade hörte. Wieder riss er an seinen Fesseln, doch es hatte keinen Sinn. Der Stuhl kippte hin und her, und das Klebeband schnitt sich tiefer in seine Hand- und Fußgelenke. Er kam nicht los. In diesem Moment kam sie zurück. Sein Atem ging schnell und heftig, als er das Messer sah, das sie in der Hand hielt. Er spürte, wie sein Puls jagte, und starrte auf das Kochmesser, das ihm die Verkäuferin seinerzeit als höllisch scharf und universell einsetzbar empfohlen hatte.
Lächelnd ließ sich Jana vor ihm auf den Knien nieder und sah zu ihm auf. »So stürben wir, um ungetrennt, ewig einig, ohne End’, ohn’ Erwachen, ohn’ Erbangen, namenlos in Lieb’ umfangen.«
Nicht alle Verrückten liefen durch die Fußgängerzone und rezitierten Bibeltexte, hatte Jan zu Stark gesagt. Hier ist der Beweis, dachte er in einem Anflug irrsinniger Verzweiflung. Einige zitieren auch Richard Wagner.
Er stieß einen panischen Schrei aus, der durch seinen Klebebandknebel wie ein missglücktes Pfeifen klang.
»Freust du dich?« Sie lächelte zu ihm auf. »Dann lass es uns jetzt tun.«
Jan starrte auf sie herab, versuchte sie anzuflehen, es nicht zu tun. Doch alles, was der Knebel davon zuließ, war eine Reihe unartikulierter Laute. Er spürte das kalte Metall an seiner Wade, sah, wie es mühelos den Stoff seiner Jeans aufschlitzte.
Er wand sich, als das Messer höher glitt. Sie hatte bereits seinen Oberschenkel erreicht.
»Pscht!«, zischte sie ihm zu und zwinkerte. Die Schneide glitt an seinen Genitalien vorbei. »Sonst schneide ich ihn dir ab.«
Als sie die flache Seite der Klinge gegen seinen Schritt presste, begann Jan zu weinen. Er konnte nicht anders. Er war diesem Wesen, das da vor ihm kniete, schutzlos ausgeliefert, und eine namenlose Angst überwältigte ihn.
»Da, wo ich dich hinschicken werde, brauchst du ihn eigentlich nicht«, sinnierte sie und sah ihm zwischen die Beine. »Überhaupt sind diese Dinger doch so nutzlos. Sie verwirren euch Männer nur. Ihr fragt euch ständig, ob er groß genug ist, wann ihr ihn das nächste Mal benutzen könnt und was eure Partnerinnen mit ihm anstellen werden. Als ob das Liebe sei.«
Jan schüttelte wie wild den Kopf, während sein Atem hektisch und stoßweise aus seinen Nasenlöchern pfiff.
Tu es nicht! Tu es nicht! Tu es nicht!
Er spürte ihre Finger, die den Bund seines Slips nach unten zogen.
»Felix habe ich schnell beigebracht, dass ich dieses Ding widerlich finde.« Sie winkte ihm mit dem Kochmesser zu. Höllisch scharf und universell einsetzbar. »Dazu habe ich so ein Messer gar nicht gebraucht. Manchmal können Worte sehr viel mehr bewirken als Taten, und ich war ja jedes Mal dabei, wenn ihn sein Ding verwirrte.« Sie stieß ein schelmisches Kichern aus und zwinkerte Jan zu. »Hat nicht lange gedauert, und es hat ihn nicht mehr verwirrt. Du hättest zehn willige Schönheiten zu ihm in den Raum sperren können, und er hätte immer noch die ersten hundert Nachkommastellen von Pi aufsagen können. Fehlerfrei. In Mathematik war er immer sehr begabt.«
Sie nahm sein Glied in die Hand und begann es zu reiben. Jan ächzte und wand sich wieder.
»Und wie sieht es bei dir aus, mein Schatz? Verwirrt dich so etwas? Müssen wir dich davon befreien?«
Vor dem Haus war das Dröhnen eines Motors zu hören. Scheinwerferlicht fiel von draußen herein. Augenblicklich ließ sie von ihm ab und rannte zum Fenster. Jan hörte das Schlagen von Türen und dann das eines Kofferraumdeckels.
Danke, lieber Gott oder wer immer das für mich getan hat, danke!
Doch noch bevor er hoffen konnte, dass die Person vor dem Haus vielleicht zu ihm wollte und ihn retten würde, brummte der Motor erneut auf. Das Scheinwerferlicht wanderte weiter durch den Raum und verschwand.
Jana wandte sich vom Fenster ab und lehnte sich gegen die Wand.
»Nicht für uns«, sagte sie geistesabwesend und murmelte etwas, das Jan nicht verstehen konnte. Dabei starrte sie auf einen Punkt, der sich irgendwo unterhalb der Terrakottafliesen befinden musste.
Schließlich hob sie den Kopf und sah Jan an. Ihr Blick war von einer derartig kalten Entschlossenheit, dass es Jan vorkam, als durchdringe er ihn wie ein Pflock aus purem Eis.
»Wir müssen uns beeilen.«
Jan erstarrte, als sie auf ihn zukam.
Sie wird mich töten. Das Auto hat mich vielleicht vor der Entmannung gerettet, aber jetzt werde ich mein Leben verlieren .
Wieder ließ sie sich vor ihm nieder, doch diesmal nicht grazil und mit laszivem Lächeln, vielmehr stand eine erschreckend ernste Verbissenheit in ihr Gesicht geschrieben. Eine Verbissenheit, die sagte: Da gibt es etwas zu tun, das keinen weiteren Aufschub mehr duldet.
Sie packte mit beiden Händen den aufgeschlitzten Stoff seiner Hose und zerriss ihn vollends, dass sein Oberschenkel freilag. Sie erhob sich wieder, sah Jan mit fast schon feierlicher Miene an und nickte.
»Und jetzt lass uns ineinanderfließen, wenn wir in die andere Welt gehen.«
Sie spreizte die Beine, und Jan konnte ihre künstliche haarlose Scham vor sich sehen. Den stark vergrößerten Venushügel, der durch Felix’ angepresste Genitalien zustande kam. Mochte die Latexhaut noch so echt wirken, ausgerechnet die Stelle, die Mann und Frau eindeutig unterscheidet, ließ sich nicht völlig damit verbergen.
Ein ängstliches Lächeln umspielte Janas Züge, dann drückte sie die Klinge gegen die Innenseite ihres Oberschenkels, hielt den Atem an und zog durch. Die Schneide glitt mühelos durch das Latexgewebe. Sekundenbruchteile später klaffte auch ihre echte Haut auseinander, und dann erreichte die Klinge ihre Schlagader.
Jan war wie gelähmt, als er das Blut zwischen ihren Beinen spritzen sah. Es kam nicht so viel Blut, wie er im ersten Moment befürchtet hatte, aber es würde genügen, um innerhalb kurzer Zeit zu verbluten, wenn die Wunde nicht abgeschnürt wurde.
Auch Jana schien von diesem Anblick wie gebannt. Doch dann hob sie den Kopf, und noch immer war da diese eisige Entschlossenheit.
Jan zuckte und sah sie flehend an. Ihr Gesicht vor ihm verschwand in seinen Tränen. Er wusste, was jetzt kam, und er konnte nichts tun. Er konnte sich winden und gegen den Knebel anschreien, aber es würde ihm nichts nutzen.
Das also war der Plan, dachte er. Sie wollte sich gemeinsam mit ihm aus dieser Welt verabschieden, und er sollte ihr in eine andere Welt folgen, in der imaginäre Wahnfiguren wie sie eine Existenzberechtigung hatten und das sein konnten, was sie sein wollten.
»Jetzt du«, flüsterte sie.
Nein, nein, nein!
Jan warf sich hin und her. Er riss den Mund auf, versuchte seine Lippen aus dem Klebeband zu befreien. Er musste mit ihr reden. Wenn er sich schon nicht bewegen konnte, musste er doch wenigstens reden können, oder?
Sie setzte sich mit weit gespreizten Beinen auf seine Knie. Blut spritzte in seinen Schritt, lief über seinen nackten Schenkel. Es war die grausige Travestie einer Kopulation. Nur dass es dabei nicht um das Geschlechtliche ging, es ging einzig um das Messer und die Entscheidung über Leben und Tod.
Mit aller Kraft presste Jan die Beine gegeneinander, wie eine Jungfrau, die sich dem Akt verweigern will. Doch Janas Griff war eisern. Sie packte seinen Schenkel, krallte sich in den Muskel und zog sein Bein beiseite, woraufhin Jan eine Reihe spitzer Töne ausstieß und mit dem Hinterteil zu hüpfen begann. Hätte ihnen ein Außenstehender zugesehen, wäre es ihm wahrscheinlich wie eine komödiantische Einlage in einem blutrünstigen Pornostreifen vorgekommen.
Er musste sie abwerfen, andernfalls …
Er spürte, wie das Messer zwischen seine Beine drang und ihn schnitt. Die Klinge fühlte sich wie die glühende Spitze eines Lötkolbens an.
In einem Akt letzter panischer Verzweiflung spannte Jan alle Muskeln an und warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorn. Jana stieß einen überraschten Schrei aus, als der Stuhl kippte. Auf seinen Knien sitzend, konnte sie das Gleichgewicht nicht halten und fiel zur Seite. Reflexartig streckte sie den Arm aus, um den Sturz abzufangen, aber noch bevor ihre Hand den Boden berührte, schlug sie mit Kinn und Kehle gegen die Tischkante, und Jans Gewicht riss sie mit sich.
Der Kerzenleuchter schwankte und fiel um. Heißes Wachs spritzte auf sie, dann schlugen die beiden auf den Fliesen auf.
Jan lag auf ihr, ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und er sah ihre weit aufgerissenen Augen. Mit beiden Händen hielt sie ihre Kehle umklammert und röchelte panisch.
Sie warf ihn von sich ab, wand sich auf den Fliesen und strampelte wie von Sinnen. Um sie herum bildete sich eine gewaltige Blutlache. Doch es war nicht nur ihr Blut.
Entsetzt sah Jan an sich herab. Auch er blutete aus einer klaffenden Wunde.
Das muss abgebunden werden, dachte er. Aber wie? Wie, zum Teufel, soll das gehen? Ich klebe noch immer an diesem gottverdammten Stuhl!
Janas Gesicht war angeschwollen und blau verfärbt. Es sah aus, als würde sie ersticken, noch bevor sie verblutet war. Doch Jan war es einerlei. Es kümmerte ihn auch nicht, dass der Tischläufer zu brennen begonnen hatte. Bald würde das ganze Zimmer in Flammen stehen. Aber davon würde er nicht mehr viel mitbekommen. Er würde ebenfalls verbluten. Wer sollte ihm jetzt noch helfen können?
Er presste seine Schenkel, so fest es ging, aneinander, doch das Blut floss unvermindert weiter. Das Pochen der Wunde wurde nur noch stärker, und schon bald war es das Einzige, was er noch fühlte.
Mit dem Blut wich auch alle Kraft aus seinem Körper. Ihm wurde schwindlig, die unvermeidliche Ohnmacht kündigte sich an, der ein tödlicher Kreislaufkollaps folgen würde.
Es ist vorbei, schoss es ihm durch den Kopf. Ganz gleich, was du jetzt noch tust, es ist zu Ende.
Er hörte noch ein Poltern und ein Röcheln nahe bei sich. Dann dämmerte er davon.