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Als Carla erwachte und neben sich tastete, fand sie die zweite Betthälfte leer vor. Die Decke war zurückgeschlagen und die Matratze kalt.
Verschlafen blinzelte sie zum Wecker und stellte überrascht fest, dass bereits später Vormittag war. Himmel, sie hatte wie eine Tote geschlafen und nicht einmal gehört, als Jan gegangen war.
In der Küche fand sie eine Kanne Kaffee und eine Notiz vor. Jan bedankte sich für letzte Nacht und freute sich auf den heutigen Abend.
Sie setzte sich an den Küchentisch und betrachtete nachdenklich seine Nachricht. An anderen Tagen hätte sie sich darüber gefreut – und ganz besonders jetzt, wo ihre Beziehung eine neue Qualität für sie beide zu bekommen schien –, doch diese Notiz las sich so eilig und beiläufig hingeschrieben, als sei er in Gedanken ganz woanders gewesen.
Irgendetwas bedrückte ihn, das spürte sie deutlich, und es musste etwas sein, das nichts mit ihnen beiden zu tun hatte. Als sie ihn gestern Nacht danach gefragt hatte, war er ihr ausgewichen. Er hatte von einem schwierigen Fall gesprochen, zu dem er Nachforschungen hatte anstellen müssen, weswegen er auch erst so spät hatte nachkommen können. Doch Carla hatte den Eindruck, dass dies – wenn überhaupt – nur ein Teil der Wahrheit war.
Für einen kurzen Moment kam ihr der Gedanke, Jan könnte in ihrer Abwesenheit eine andere kennengelernt haben. Doch sie verwarf ihn sofort wieder. Kurz nachdem er gestern zu ihr gekommen war, hatten sie sich so innig geliebt wie schon lange nicht mehr. Da war so viel Leidenschaft in seinen Berührungen gewesen, mehr noch als in ihrer Anfangszeit, die ihr wie ein Glücksrausch erschienen war. Das hätte er nicht getan, wenn es eine andere gegeben hätte. Nicht der Jan Forstner, den sie kannte.
Es musste etwas anderes sein. Möglicherweise Probleme mit der neuen Jugendstation, für die er sich so sehr einsetzte? Gestern war ihr nicht mehr nach Reden zumute gewesen – nicht, nachdem sie eine halbe Flasche Wein getrunken hatte, bis er endlich aufgetaucht war. Sie hatte einfach nur seine Gegenwart genießen wollen, nachdem ihr in der Zeit ihrer Trennung klargeworden war, wie sehr sie ihn brauchte. Das hatte sie nicht durch Reden zerstören wollen. Aber heute Abend würde sie ihn fragen. Und vielleicht würde sie ihm dann von ihrem neuen Buchprojekt erzählen, für das ihr ein Verleger eine unverschämt hohe Summe angeboten hatte. Ein Projekt, das auch Jan gefallen würde, dessen war sie sich sicher.
Es klingelte an der Tür. Carla ging zur Gegensprechanlage, wo sich die Stimme einer Frau meldete.
»Hallo? Frau Weller? Man hat mir gesagt, dass der rote Mini Cooper in der Tiefgarage Ihnen gehört. Ist das richtig? «
»Ja, warum?«, fragte Carla. Die Ankündigung verhieß nichts Gutes.
»Es ist mir schrecklich unangenehm, aber ich habe beim Ausparken leider Ihr Auto gerammt. Die Parklücke war so eng, und ich hab wohl den Abstand falsch eingeschätzt. «
Carla verdrehte die Augen. Die Parklücke war eng? Die Tiefgarage ihrer Wohnanlage war so großzügig geplant, dass man einen Kleinlaster darin hätte einparken können, wenn es nötig gewesen wäre. Sofern man einparken konnte.
»Au weia«, seufzte sie. »Warten Sie kurz. Ich komme runter.«
Hastig zog sie sich etwas über, steckte ihr Handy ein, um notfalls die Polizei zu rufen, falls es Ärger gab, und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten. Sie hoffte, es würde nur eine Delle sein. Ihr Cabrio war zwar nicht mehr das neueste Modell, aber sie hing an ihm.
Als sich die Tür des Aufzugs öffnete, fand sie die Tiefgarage verlassen vor.
Na prima. Wahrscheinlich wartet diese Fahrkünstlerin jetzt an der Haustür auf mich.
Sie ging zu ihrem Mini, dessen Rot im Licht der Neonleuchten schimmerte. Neben ihr parkte nur der dunkle Kombi ihres Etagennachbarn. Die Parklücke auf der anderen Seite war frei. Diese Frau würde jetzt doch nicht kalte Füße bekommen haben und einfach abgehauen sein? Warum hätte sie sich dann vorher noch bei ihr melden sollen?
Als sie ihren Wagen genauer inspizierte, stellt Carla allerdings verwundert fest, dass sie nirgendwo eine Delle erkennen konnte. Sie kniete sich hin und sah genauer nach. Nein, da war nicht der geringste Kratzer.
»Also, ich weiß ja nicht, wen du angefahren hast, Schätzchen«, murmelte sie, »aber mein Auto war’s nicht.«
In dem Moment, als sie sich wieder erhob, huschte ein Schatten hinter dem Kombi hervor, ergriff sie und schmetterte sie vornüber auf die Motorhaube. Es ging so schnell, dass Carla keine Zeit für eine Reaktion blieb. Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, spürte sie einen Einstich im Hals.
Carla stieß einen Schrei aus und versuchte sich gegen die Person zu wehren. Wieder und wieder schlug sie hinter sich. Doch wer immer es auch war, er war stärker und presste sie unbarmherzig auf das kalte Blech.
Als sich alles um sie herum zu drehen begann, gab Carla schließlich auf und fiel in ein allumfassendes Nichts.