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»Wie schon gesagt, war Tatjana Walters Tochter aus erster Ehe«, begann Gessing. »Ihre Mutter war eine nette Frau, nicht besonders hübsch, aber sie hatte das Herz am rechten Fleck. Wenn an besonders heißen Sommertagen oder am letzten Arbeitstag vor Weihnachten eine Kiste Bier für uns Arbeiter bereitstand, dann wussten wir, wem wir sie zu verdanken hatten. Das Bier hatte sie von ihrem Haushaltsgeld abgezweigt, was wir natürlich nie erzählen durften. Walter war ein Geizhals, der hätte sich eher für einen Groschen eine Blutblase zwicken lassen.
Im Aussehen kam Tatjana ganz nach ihrer Mutter, sie hatte das gleiche strohblonde Haar, aber alles andere musste sie von ihrem Vater geerbt haben. Sie war ebenso derb, jähzornig und mürrisch wie er. Besonders beliebt war sie bei keinem von uns. Wer lässt sich schon gern von einer Göre wie ein Leibeigener behandeln?
Der Umgangston auf dem Harderhof war rau, und nicht nur einmal hätte ich am liebsten gekündigt, aber Walter zahlte nun mal verdammt gut. Er war ein knausriger Schinder, aber beim Lohn konnte man ihm nichts nachsagen. Gute Arbeit wusste er zu schätzen.
Als seine Frau Ende ‘89 starb, muss es eine Erlösung für sie gewesen sein. Man hatte zuletzt regelrecht zusehen können, wie sie von Tag zu Tag mehr verfiel. Darmkrebs ist eine hässliche Sache, man stellt ihn meist viel zu spät fest, und dann geht es rasant abwärts.
Ich will ja nicht schlecht über Tote reden, aber ich denke, Walter war an ihrer Krankheit nicht ganz unschuldig. Was diese brave Frau wegen ihm durchmachen musste, kann einen schon ins Grab bringen. Ganz besonders schlimm für sie wurde es, nachdem Walter von einem Jungbullen getreten worden war. Mitten ins Allerheiligste, verstehen Sie? Danach war sein Traum vom Thronfolger, der den Hof übernehmen sollte, endgültig ausgeträumt. Von da an wurde Walter vollends unausstehlich. Ist nicht selten vorgekommen, dass seine Frau sich im Haus verstecken musste, bis die blauen Flecke wieder verschwunden waren. Trotzdem ist sie bei ihm geblieben. Sie gehörte wohl noch zu der Generation, die es ernst nahm mit dem Spruch ›bis dass der Tod euch scheidet‹.
Walter hat ihr das aber nicht gedankt. Glauben Sie mir, falls er um sie getrauert haben sollte, war davon jedenfalls nichts zu bemerken. Er hat einfach weitergemacht wie bisher, als sei nichts gewesen.
In dieser Hinsicht war Tatjana anders. Sie hat in den ersten Wochen sichtlich getrauert, hat sich dann aber doch schnell wieder gefangen.
Als das Trauerjahr vorüber war, heiratete Walter wieder. Niemand weiß so recht, wo er seine zweite Frau kennengelernt hat, aber es gibt da so Gerüchte über ein Sozialheim. Vom Typ her glich sie seiner ersten Frau. Zierlich, ruhig und gutmütig. Außerdem war sie arm wie eine Kirchenmaus und von Walter abhängig.
Und sie hatte einen Sohn. Fred war zwei Jahre jünger als Tatjana und ihr genaues Gegenteil. Ein blasser, schlaksiger Junge mit dunklem Haar, der kaum die Zähne auseinanderbekam. Ich habe ihn so gut wie nie reden gehört.
Der Junge bewirkte eine Veränderung bei Walter. Er behandelte ihn wie sein eigen Fleisch und Blut und ließ ihm Dinge durchgehen, für die Tatjana längst Prügel bezogen hätte. Bis dahin hätte ich nie geglaubt, dass Walter einem Menschen gegenüber Zuneigung empfinden kann, aber bei dem Jungen war es anders. Zwar musste er ebenso wie Tatjana auf dem Hof zupacken, aber wenn er dabei Fehler machte, zeigte sich Walter nachsichtig auf eine Weise, die keiner von uns von ihm gewohnt war – wahrscheinlich nicht einmal er selbst.
Tatjana nahm es ihrem Vater übel und piesackte ihren Stiefbruder, wann immer sie sich unbeobachtet fühlte. Sie war eifersüchtig, aber Walter interessierte das nicht. Er hatte doch endlich seinen Kronprinzen. Aber dann …«
Gessing verstummte. Er sah zum anderen Ende der Schlachthalle, dann runzelte er die Stirn.
»Es war Mitte Juni«, fuhr er schließlich fort, »genauer gesagt, am zehnten Juni 1991, ein Montag. An diesem Tag wurde der Junge zwölf, und Walter verkündete, er werde ihn heute zum Mann machen.«
Er grinste, als er die verdutzten Blicke der beiden Männer bemerkte.
»Nein, nicht so, wie Sie vielleicht denken«, sagte er. »Wir haben damals noch wöchentlich geschlachtet, immer montags, und der Junge sollte diesmal mithelfen.« Gessing sah Jan an. »Waren Sie schon einmal dabei, wenn ein Rind geschlachtet wird, Doktor?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir. Kaum jemand weiß, wie viel Arbeit in einem Steak steckt, ehe es vor einem auf dem Teller liegt. Sehen Sie das schmale Tor da drüben?«
Er deutete zu der Stahltür am Ende der Halle, neben der ein Gitter zu einer abgeschrägten Fläche führte, über der mehrere Haken hingen.
»Da drüben werden die Schlachttiere hereingeführt«, erklärte er. »Der Gang ist gerade so breit, dass ein Rind durchpasst. Auf der anderen Seite der Tür stehen die übrigen Rinder in der Schleuse an und warten, bis sie an der Reihe sind. Man sagt zwar, dass diese Tiere dumm sind, aber glauben Sie mir, die wissen genau, was sie hier drin erwartet. Deshalb muss es schnell gehen.
Schlachten ist Akkordarbeit. Das Tier kommt herein, und noch bevor es Gelegenheit hat, in Panik zu geraten, setzt man ihm das Bolzenschussgerät auf die Stirn und drückt ab.
Das klingt einfacher, als es ist. Man braucht Kraft und Geschicklichkeit, damit einem der Schussapparat nicht abrutscht, und die Stelle muss genau stimmen, andernfalls leidet das Tier höllische Schmerzen. Bei Rindern stellt man sich ein X zwischen Augen und Hornansatz vor. Wo sich die Linien überkreuzen, ist der Schädelknochen am zerbrechlichsten. Der Bolzen wird durch eine Platzpatrone gezündet. Er durchschlägt die Stirn und dringt etwa zehn Zentimeter tief ein. Dabei zerstört er einen Teil des Gehirns und schnellt dann wieder in das Gerät zurück.
Und genau das war es, was Walter von dem Jungen verlangte. Er ließ ein Tier hereinführen und wollte seinem Stiefsohn den Umgang mit dem Schussapparat zeigen. Doch der Junge wollte nicht, also ließ Walter ihn zunächst nur zusehen.
Schlachten ist eine blutige Angelegenheit, wie Sie sich denken können, und wenn wir erst einmal drei oder vier Rinder abgearbeitet haben, waten wir hier buchstäblich im Blut. Ich kann mich noch erinnern, dass die Gummistiefel des Jungen bis zu den Knöcheln in dem Rot verschwanden, als Walter ihn abermals mit zum Gitter zerrte. Das Rind kam herein, und der Junge begann zu schreien. Walter lachte zu uns Arbeitern herüber, aber nicht, weil er es komisch fand. Die Angst des Jungen war ihm peinlich – und uns erst recht, allerdings aus anderen Gründen.
Walter redete auf den Kleinen ein, er solle sich nicht so anstellen, sondern zeigen, dass er ein echter Kerl sei. Aber Fred sträubte sich heftig.
Schließlich riss Walter der Geduldsfaden, und er gab ihm eine Ohrfeige, dass er rücklings in die Blutlache fiel. Der Junge war kreidebleich und starrte ihn wie vor Angst gelähmt an.«
Gessing senkte den Blick und seufzte. »Ich weiß, wir hätten in diesem Moment eingreifen sollen, aber dann kam Tatjana, und das veränderte alles.
Wahrscheinlich sah sie den idealen Moment gekommen, ihrem Vater zu zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Sie schnappte sich einen der Schussapparate, ging zu dem Rind und streckte es nieder. Danach mussten wir handeln. Zwischen Schuss und Ausbluten darf nicht mehr als eine Minute verstreichen, andernfalls stockt der Blutfluss, und das Fleisch wird ungenießbar. Also kümmerten wir uns um das Rind, während Walter den Jungen am Kragen packte und aus der Halle zerrte.
Sie verschwanden im Wohnhaus. Auf dem Weg dahin brüllte er ihn an. Es sei ein feiges Mädchen, und seine Stiefschwester sei mutiger als er … na ja, so Sachen eben.
Danach kam Walter zu uns zurück, und keiner von uns wagte auch nur, ihn anzusehen. Stattdessen arbeiteten wir wie versessen und hofften, er würde seine Wut an keinem von uns auslassen.«
Wieder machte Gessing eine Pause und sah mit beinahe entschuldigender Miene die beiden Männer an. »Was hätten wir sonst tun sollen? Walter hätte uns rausgeschmissen, und das konnte sich keiner von uns leisten.«
Jan entgegnete nichts. Er verstand noch nicht, worauf diese Geschichte hinauslaufen sollte. Hatte Tatjana aus Eifersucht die Gasleitung manipuliert, um sich an ihrem Vater zu rächen? War sie ein Opfer ihres eigenen Attentats geworden?
Aber welche Rolle spielte Fred dabei?
Gessing schien seine Gedanken erraten zu haben. »Das eigentlich Unheimliche kommt erst jetzt«, fuhr er fort. Er nahm wieder eine Prise von seinem Schnupftabak und musste mehrmals niesen, ehe er weitersprach.
»Es war das vorletzte Rind aus der Schleuse«, sagte er. »Wir hatten es gerade hereingeführt, und Walter ging mit dem Schussapparat darauf zu. In diesem Moment ging die Tür auf, und Fred kam herein. Sein Anblick verschlug uns allen die Sprache. Selbst Walter war so schockiert, dass er sich nicht rührte. Der Junge war barfuß, und jeder seiner Schritte patschte auf dem blutigen Boden. Er ging auf Walter zu, der ihn mit offenem Mund anstarrte, nahm ihm den Bolzenschießer aus der Hand und verpasste dem Rind einen Schuss in die Stirn. Genau dorthin, wo das X sich kreuzt. Als hätte er es schon hundertmal getan.
Das Rind brach augenblicklich zusammen, aber es war zäh. Es zuckte und trat mit den Hufen um sich. Wissen Sie, ein Bolzenschuss tötet nicht. Es ist nur eine Betäubung, und wenn die nicht ausreicht, nimmt man ein Drahtstück, führt es in das Schussloch ein und bewegt es schnell hin und her, um weiteres Hirngewebe zu zerstören. Und genau das tat der Junge. Dabei schrie er mit seiner gellend hohen Stimme, die nicht nur mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Wir hielten uns damals alle für hartgesottene Kerle, die schon viel gesehen hatten, aber in diesem Moment war keiner von uns in der Lage, zu dem Jungen zu gehen und einzuschreiten. Selbst Walter nicht. Denn der Junge …«
Gessing schluckte, wobei sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. In seinen Augen spiegelte sich der Schrecken wider, den er seinerzeit empfunden haben musste und der nun wieder von ihm Besitz ergriff, während er die Vergangenheit zu neuem Leben erweckte.
»Herr Gessing, was hat Fred getan?«, fragte Jan, als der andere nicht weitersprach.
Gessing sah ihn an. »Das Schrecklichste daran war, dass der Junge ein Kleid seiner Stiefschwester trug.«
»Er hatte ein Kleid an?«, stieß Jan hervor. Er sah zu Stark, dessen Mund vor Staunen weit offen stand. Ihre Blicken trafen sich. Auf einmal verstand er.
Deshalb hatten sie Jana nicht gefunden. Sie hatten nach einer Frau gesucht, einer Geisteskranken, aber damit hatten sie nicht gerechnet.
»Ja«, nickte Gessing. »Ein helles Sommerkleid mit blauen Tupfen, das ihm zu groß war. Das werde ich nie vergessen. Es war über und über mit Blut bespritzt. Fred sah schlimm aus, Walter musste ihn höllisch verprügelt haben. Aber am schlimmsten war es, den Jungen in diesem Kleid zu sehen. Dieses Kleid …«
Wieder schluckte Gessing und verzog das Gesicht, als habe er einen bitteren Geschmack im Mund.
»Wissen Sie jetzt, warum ich gesagt habe, Sie würden mich für verrückt halten? Als Sie diese Frau und die getöteten Rinder erwähnten, musste ich sofort an damals denken«, sagte er. »Denn nach der Explosion fand man Fred oben auf dem Hügel. Bis auf die Blessuren, die er von Walter davongetragen hatte, war er unverletzt. Er stand da und hatte noch immer das blutige Kleid seiner Stiefschwester an.«
»Dann geht es hier gar nicht um Tatjana«, brachte Stark hervor und sah dabei immer noch so aus, als habe man ihn wie aus heiterem Himmel geohrfeigt. »Es geht um den Jungen. Ich glaube es einfach nicht!«
»Da ist noch etwas«, sagte Gessing. »Es war vor zwei Tagen, als ich abends aus dem Stall kam. Da glaubte ich eine Frau dort oben neben dem Baum stehen zu sehen. Ihre Haare wehten ihr um den Kopf. Sie trug ein Kleid unter ihrer Jacke. Ich konnte den Saum im Sturmwind flattern sehen. Sie sah zum Hof herunter und hat mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Mir kam das Bild des Jungen wieder in den Sinn, aber dann machte ich mir klar, dass es wohl einfach nur ein dummer Zufall gewesen ist. Da oben gehen häufiger mal Leute spazieren, wenn auch nur selten bei einem solchen Mistwetter. So dachte ich zumindest, bis wir dann vorhin gesprochen haben …«
Er stieß den Atem aus. Sein verzweifelter Blick ließ Jan an Schizophrene denken, wenn sie ihm versicherten, Dinge wirklich gesehen zu haben, die es eigentlich nicht geben kann.
»Glauben Sie mir«, sagte Gessing, »ich bin kein Waschlappen, beileibe nicht, aber offen gesagt, macht mir der Gedanke eine Heidenangst, dass die Person da oben vielleicht gar keine Frau war.«
Stark schüttelte immer wieder den Kopf, und auch Jan hatte Mühe zu glauben, was sie gerade erfahren hatten.
»Dieser Fred«, sagte er, »was ist aus ihm geworden?«
»Er kam bei einem Pfarrer unter«, sagte Gessing. »Dem Onkel, von dem ich den Hof bekam. Im Gegenzug sollte ich mich um Tatjana kümmern, weil er nichts mehr mit Walter oder seiner Familie zu tun haben wollte. Nicht, nachdem seine Schwester durch Walters Verschulden ums Leben gekommen war und sein Neffe fast den Verstand verloren hätte.«
»Wie hieß dieser Onkel?«, drängte Stark.
Mit einer nervösen Geste fuhr sich Gessing durchs Haar. »Hören Sie, was ich Ihnen erzählt habe, werde ich vor keinem Gericht bestätigen. Und meine damaligen Kollegen ebenfalls nicht. Der Junge konnte nichts dafür. Walter selbst ist für alles verantwortlich. Wer einen kleinen Jungen zu etwas Derartigem treibt, hat es nicht anders verdient.«
»Sagen Sie uns den Namen!«, fuhr Stark ihn an.
Gessing schluckte und senkte den Blick. »Thanner. Er hieß Thanner.«
»Thanner? Dann muss dieser Fred mit Felix Thanner verwandt gewesen sein«, stellte Jan an Stark gewandt fest. »Am Telefon blieb Felix zu wenig Zeit, also wollte er uns durch Tatjana auf Freds Beweggründe hinweisen.«
»Nein«, widersprach ihm Gessing. »Fred war nur sein Spitzname. Für uns war er immer nur Fred, weil er so dürr und schlaksig wie Fred Astaire war. Dieser Tänzer aus den Schwarz-Weiß-Filmen, verstehen Sie? Und Felix fand das witzig …«
»Wie bitte?« Stark schluckte. »Der Junge war Felix Thanner?«
Gessing sah zu ihm auf und nickte. »Ja, so hieß er.«
Sprachlos sahen Jan und Stark den Viehzüchter an, und in der großen Schlachthalle breitete sich beklemmendes Schweigen aus. Weit entfernt muhten die Rinder, und irgendwo hallte leises Tropfen von den Kachelwänden wider.
In diesem Moment klingelte Starks Handy, und alle drei fuhren zusammen. Stark fluchte leise und nahm den Anruf entgegen. Als er das Telefonat beendet hatte, war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen.
»Das wird immer verrückter«, sagte er zu Jan. »Kommen Sie, wir müssen sofort zurück nach Fahlenberg.«