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Felix Thanner ging in der Küche auf und ab und rieb sich die Hände. Ihm war kalt, auch wenn Edith Badtke wie immer dafür Sorge getragen hatte, dass das Pfarrhaus gut geheizt war. Dass er dennoch fror, hatte einen anderen Grund. Es war ein Frösteln, das drei Worte in ihm auslösten, die ihm keine Ruhe mehr ließen.

Ich habe getötet.

Ein Satz, der wie ein Echo in ihm nachklang.

Er hatte letzte Nacht kaum geschlafen, und seine Augen brannten vor Müdigkeit. Die meiste Zeit hatte er vor seinem Laptop verbracht, um sich Gewissheit zu verschaffen, dass er nicht der Wahnidee einer Geistesgestörten aufgesessen war. Immerhin wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass jemand Sünden beichtete, die er nur in seiner Vorstellung begangen hatte, und Thanner hatte gehofft, dass das auch auf diese Frau zutraf.

Sie konnte aus den Medien von dem Mord an dem Journalisten erfahren und sich dieses Verbrechens beschuldigt haben, weil ihr irgendeine Wahnstimme das einredete. So etwas kam vor. Er hatte es zwar noch nicht selbst erlebt, aber während seines Priesterseminars hatte er einmal von einem solchen Fall gehört. Der Leiter – ein älterer Geistlicher, der es sichtlich genossen hatte, die jungen Priesteramtskandidaten an seinem langjährigen Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen – hatte von einem Mann erzählt, der mehrere Vergewaltigungen gebeichtet hatte. Vergewaltigungen, die nie stattgefunden hatten. Denn abgesehen davon, dass es sämtlichen der genannten Frauen bestens ging, wäre es schon allein deshalb nicht möglich gewesen, da dieser Mann querschnittsgelähmt gewesen war, hatte der Dozent erklärt. Die Beichte sei für ihn zu einer Art Ventil seiner sexuellen Fantasien geworden, die sich zu einer krankhaften Besessenheit entwickelt hatten – so sehr, dass er überzeugt gewesen war, sich tatsächlich an diesen Frauen vergangen zu haben.

Einer der Seminaristen hatte gefragt, was aus dem Mann geworden sei, woraufhin sie erfuhren, dass der Mann wenig später in die Psychiatrie eingewiesen worden war, nachdem er nicht nur in der Beichte über seine Wahnvorstellungen gesprochen hatte.

Doch was die Frau von gestern betraf … Thanner schüttelte den Kopf. Nein. Nein, sie hatte nicht fantasiert, auch wenn sie zweifellos ebenfalls eine Kandidatin für die Psychiatrie war.

Sosehr er sich auch innerlich dagegen sträubte, wusste er doch, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Davon war er inzwischen überzeugt.

Sie hatte von zwei Morden gesprochen, und mit einem der Opfer hatte sie Nowak gemeint, da war sich Thanner sicher. Zudem wusste er nun auch, wen sie vor dem Journalisten getötet hatte. Schon während ihrer Unterhaltung im Beichtstuhl hatte er eine Vermutung gehabt, nachdem sie ihm ein Stichwort gegeben hatte. Ihr erstes Opfer war homosexuell gewesen.

Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto klarer war ihm geworden, wen sie meinte. Also hatte er das Internet nach Berichten durchsucht. Und schließlich war er fündig geworden.

Thanner hatte das Opfer gekannt – nicht besonders gut, aber gelegentlich waren sie sich begegnet. Der Mann hatte Matthias Lassek geheißen, und seine Ermordung lag etwas mehr als anderthalb Jahre zurück.

Es war Anfang Mai gewesen, daran konnte sich Thanner noch sehr gut erinnern. Die Presse hatte vom »gelben Mai« gesprochen, da es aufgrund einer längeren Trockenphase zu enormen Wolken aus Blütenstaub gekommen war. Ein Umstand, der für die Ermittler in diesem Mordfall eine bedeutende Rolle spielen sollte – im negativen Sinne – und sicherlich auch der Grund, warum diese Frau davon ausging, Gott habe sie vor der Entdeckung beschützt.

Lassek war ein einflussreicher Geschäftsmann aus Ulm gewesen. Er stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte schon früh mit dem Handel unterschiedlichster Waren begonnen und es über die Jahre zu einer eigenen Kaufhauskette gebracht. Seine einfache Herkunft hatte er jedoch nie vergessen und einen Teil seines Vermögens in soziale Projekte für Kinder aus Problemfamilien investiert.

Thanner, der zu dieser Zeit noch in der Ulmer Jugendseelsorge tätig gewesen war, hatte diesen sympathischen und lebensfrohen Mittfünfziger sehr für sein Engagement bewundert. Vor allem hatte es ihm gefallen, dass Lassek kein großes Aufhebens darum machte. Er hatte geholfen, weil er helfen wollte, und nicht der PR wegen.

Umso mehr hatte ihn die Nachricht von Lasseks Ermordung erschüttert, die von den Medien als »Wahnsinnstat« bezeichnet worden war. Thanner erinnerte sich noch an das Pressefoto der blutbespritzten Telefonzelle in der Stuttgarter Fußgängerzone, wo Mitarbeiter der Stadtreinigung die Leiche in den frühen Morgenstunden gefunden hatten. Unweit dieser Telefonzelle hatte sich ein Nachtclub namens Boyhouse befunden. Auch das hatte die Presse nicht ausgelassen, zumal es ein neues Licht auf Lasseks Person warf.

Lassek war der Schädel mit einem Pflasterstein eingeschlagen worden, der von Straßenbauarbeiten neben der Telefonzelle stammte. Allem Anschein nach musste es sich um eine spontane Tat gehandelt haben.

Anfangs war man noch davon ausgegangen, dass der Mörder möglicherweise zur Schwulenszene gehörte, in der Lassek verkehrt hatte – heimlich, da er um sein Ansehen besorgt gewesen war –, aber dann war ein Video aufgetaucht, das die mutmaßliche Mörderin zeigte.

Es war von der Überwachungskamera einer Boutique aufgezeichnet worden, die sich nur zwei Straßen vom Tatort entfernt befand. Darauf war eine Frau zu sehen, die die Straße entlanglief und kurz vor dem Geschäft den Stein von sich warf, mit dem Lassek der Schädel zertrümmert worden war, so als habe sie erst in diesem Moment begriffen, dass sie ihn noch immer in Händen hielt.

Doch eben der »gelbe Mai« war schuld daran, dass die Frau bis heute nicht identifiziert werden konnte. Denn aufgrund des vielen Blütenstaubs, der das Objektiv der Kamera wie ein gelber Schmierfilm überzogen hatte, war von der Frau nur wenig zu erkennen gewesen. Hinzu kam, dass die Kamera selbst von keiner besonders guten Qualität gewesen war, was die Auswertung der grobkörnigen Bilder zusätzlich erschwert hatte.

Trotz aller Bemühungen des Fahndungsteams konnten die Bildauszüge, die man dem Video entnommen hatte, kaum digital aufgebessert werden. Man sah nur die schemenhafte Gestalt einer Frau, die Mantel und Kopftuch trug. Beides, so fand man später heraus, stammte aus dem Sortiment eines Kleidungsdiscounters – Massenware, hergestellt in Bangladesch, wie sie zigtausendfach in der gesamten Republik verkauft wurde.

So blieb dieser Fall ungeklärt. Zwar hatte es mehrere Hinweise gegeben, die sich jedoch alle als falsch erwiesen hatten. Nach wie vor fehlte von der Täterin jede Spur.

Bei seiner nächtlichen Recherche hatte Thanner den Fahndungsaufruf von damals gefunden. Der Personenbeschreibung nach musste die Frau zwischen eins siebzig und eins achtzig groß und schlank gewesen sein. Außerdem wurde sie als sportlich-durchtrainiert beschrieben, immerhin hatte sie den schweren Pflasterstein in nur einer Hand getragen. Es war also denkbar, dass sie in einem Fitnessstudio trainierte oder anderenorts Kraftsport betrieb.

Darüber hinaus wusste man nur noch, dass sie blondes langes Haar und eine schmale Gesichtsform hatte. Mehr war von ihrem Gesicht nicht zu erkennen gewesen, da die Aufnahme zu undeutlich und es zudem durch eine lange Strähne verdeckt gewesen war.

Und ich weiß jetzt, wie sich ihre Stimme anhört und dass sie in Fahlenberg lebt, dachte Thanner. Vielleicht damals noch nicht, aber jetzt ist sie hier. Warum sonst wäre sie zu mir gekommen ?

Er blieb vor dem Fenster stehen. Über dem Kirchhof dämmerte der Morgen in trübem Grau und verhieß einen weiteren Regentag.

Der Pfarrer biss sich auf die Unterlippe. Irgendwo dort draußen war diese Frau. Eine gesuchte Mörderin, die unter einer schweren geistigen Störung litt. Und er hatte mit ihr gesprochen.

»Was soll ich nur tun?«, flüsterte er in die Stille des Raumes und hörte das Zittern in seiner Stimme.

Nichts, er konnte nichts tun. Weder mit anderen noch mit der Sünderin selbst durfte er im Nachhinein über ihre Beichte sprechen. Das war das Gebot, das ihm das Beichtgeheimnis auferlegte. Sie hatte sich zu einer schlimmen Tat bekannt, und es lag an ihm, mit diesem Wissen klarzukommen. Denn im Grunde hatte sich diese Frau nicht ihm, sondern Gott anvertraut. Thanner war nur das Medium zwischen ihnen beiden gewesen.

Nun wurde von dem Priester erwartet, dass er schwieg und auf Gott vertraute. ER würde die Sünderin auf den rechten Pfad der Einsicht leiten. Doch Thanners menschliche Seite sah das anders.

Vielleicht hätte er auf Gott vertrauen können, wenn diese Frau im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen wäre – wenn sie sich über ihre Tat völlig im Klaren gewesen wäre und sie aufrichtig bereut hätte. Ja, dann hätte er es vielleicht akzeptieren und hoffen können, dass sie seinem Rat folgte und sich stellte. Aber diese Frau war krank. Sehr krank.

Er rieb sich die Hände, diesmal nicht der Kälte wegen, sondern um etwas gegen sein Zittern zu tun.

Was, wenn sie es wieder tat? Sollte er einfach nur abwarten und auf Gott vertrauen, dass sie sich rechtzeitig Hilfe holte, ehe es zu spät war?

So wie es im Moment aussah, glaubte er nicht, dass sie sich aus freien Stücken stellen würde. Ebenso wenig glaubte er, dass sie sich Hilfe suchen würde.

Was war mit dem Mann, von dem sie gesprochen hatte? Würde er ihr nächstes Opfer werden, wenn sie sich von ihm ebenfalls verraten fühlte – aus welchem Grund auch immer?

Thanner blinzelte gegen das Brennen seiner Augen an. Sein Atem ging schwer und keuchend. Er hatte das Gefühl, als läge ein tonnenschweres Gewicht auf seiner Brust, das ihn zu erdrücken drohte.

Wenn sie es wieder tut, bin ich schuld, dachte er. Weil ich es nicht verhindert habe, obwohl ich es hätte verhindern können . Ich würde mir mein ganzes Leben lang Vorwürfe machen müssen.

Andererseits würde er ebenfalls eine schwere Sünde begehen, wenn er gegen sein Schweigegelübde verstieß. Ein solcher Verrat war die schwerste Sünde überhaupt, die ein Priester begehen konnte. Es wäre ein Vertrauensbruch, als würde er sich an dieser Frau vergehen. Nur was wog mehr, der Schutz einer reuigen Sünderin oder das Leben eines Unschuldigen?

Er wusste, dass er sich diese Frage erst gar nicht stellen durfte. Die Gebote der Kirche waren in diesem Fall eindeutig. Das Beichtgeheimnis galt für alle Zeit, ganz gleich, was ihm anvertraut wurde. Notfalls musste er diese Geheimnisse sogar mit seinem Leben hüten, so wie einst der heilige Johannes Nepomuk, der wegen seines Schweigens vom böhmischen König mit Pechfackeln gefoltert und anschließend ertränkt worden war.

Aber wenn ich damit möglicherweise weitere Menschenleben retten kann ?

Er sah auf die Tageszeitung, die wie eine Anklageschrift vor ihm auf dem Küchentisch lag.

 

JOURNALISTENMORD:

NOCH IMMER KEINE NEUE SPUR

 

verkündete die Schlagzeile.

Zwar ging die Polizei einer Zeugenaussage nach, die von Nowaks Streit mit einer Frau auf dem Parkplatz hinter seinem Haus berichtete, aber so wie Thanner den Artikel verstand, suchte man in einer völlig falschen Richtung. Die Verdächtige, so hieß es, sei möglicherweise die Lebensgefährtin eines Drogenbosses – nur dass sich deren Beschreibung entscheidend von dem unterschied, was Thanner von der tatsächlichen Mörderin gesehen hatte.

Natürlich konnte Thanner abwarten, bis die Polizei den Irrtum selbst entdeckte und der wahren Täterin auf die Spur kam. Aber das würde noch einige Zeit dauern, zumal es dem Bericht zufolge wegen des Regens keine verwertbaren Spuren am Tatort gegeben hatte.

Und was wäre, wenn diese Frau auch diesmal unentdeckt davonkam?

Wieder kamen ihm ihre Worte in den Sinn. Sie hielt sich für Gottes Werkzeug und glaubte, dass ER sie beschützte.

So jemand würde nicht aufhören. Sie würde wieder töten, wenn sie davon überzeugt war, dass ihr Opfer ihr keine andere Wahl ließ.

Und irgendwo, sicherlich hier in Fahlenberg, gab es einen Mann, den sie sich als nächstes Ziel ausgesucht hatte.

»Guten Morgen, Herr Pfarrer.«

Edith Badtkes Stimme riss ihn so abrupt aus seinen Gedanken, dass er erschrocken zusammenfuhr. Seine Mitarbeiterin sah ihn mindestens ebenso erschrocken an.

»Ich habe angeklopft«, sagte sie entschuldigend und fügte besorgt hinzu: »Um Himmels willen, ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja bleich wie die Wand.«

»Nein, es geht mir gut«, log er. »Frau Badtke, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Sagen Sie für heute sämtliche Termine ab und bitten Sie Diakon Liebmann, mich beim Gottesdienst zu vertreten. Ich muss etwas erledigen und werde nicht vor dem Abend zurück sein.«

»Aber …« Edith Badtke sah ihn mit großen Augen an. »Ist etwas passiert?«

»Ich kann es Ihnen nicht erklären, bitte tun Sie es einfach, ja ?«

Ihrem Blick war anzusehen, dass sie sich eine genauere Erklärung erhoffte, doch Thanner wich ihr aus und verließ den Raum. Er musste ein dringendes Telefonat führen.

Jetzt gab es nur einen Menschen, der ihm helfen konnte.

Dunkler Wahn
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