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An diesem Abend war der historische Festsaal der Waldklinik bis auf den letzten Platz gefüllt. Durch das altehrwürdige Gebäude, das noch aus der Gründungszeit der Klinik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts stammte, wogte ein Meer aus Stimmen und Gelächter, das von der hohen Stuckdecke mit den Kronleuchtern widerhallte.
Über zweihundert Personen waren gekommen, um der Vorstellung des Konzepts für die neue Kinder- und Jugendstation beizuwohnen. Ärzte und Pflegepersonal, Patienten und Angehörige, aber auch wichtige Größen der Fahlenberger Lokalprominenz waren unter den Gästen, allen voran der Präsident des Lions Clubs und der Vorstand der Rotarier.
Vor allem auf Letztere zielte die Veranstaltung ab, da die Initiatoren auf Spendengelder für den weiteren Ausbau der Station angewiesen waren. Im weitläufigen Garten der ehemaligen Direktorenvilla sollte ein therapeutischer Kletterpark entstehen, und auch für das Kunstatelier im Westflügel der Station wurden weitere Geldmittel benötigt.
Jan und seine Kollegen hatten sich lange vorbereitet und ihr Bestes gegeben, um ihre Vorträge so interessant und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Sie informierten über die Entwicklungsgeschichte der Kinder-und Jugendpsychiatrie, stellten neueste Therapiekonzepte vor, und Felix Thanner ging auf die große Bedeutung der Klinikseelsorge ein.
Der Abend wurde ein voller Erfolg. Erfreut stellte Jan fest, dass sie ihr Publikum fest im Griff hatten. Abgesehen vom üblichen Husten und Niesen, gab es keinerlei Unterbrechungen. Niemand stand auf, um zur Toilette zu gehen oder sich Nachschub am Getränkeausschank zu holen, und nach der zwanzigminütigen Pause erschienen sämtliche Gäste wieder, um sich auch den zweiten Teil der Vorträge anzuhören.
Jan deutete das als ein gutes Zeichen, und sein Gefühl sollte ihn nicht trügen. Keine halbe Stunde, nachdem die Vorträge beendet und Professor Alfred Straub der – wie er es bezeichnete – »angenehmsten Verpflichtung eines Klinikleiters« nachgekommen war und das Büfett eröffnet hatte, sah Jan schon die ersten Schecks über den Spendentisch wandern.
Zufrieden und erschöpft suchte er sich eine unauffällige Ecke neben der Rednerbühne, stellte dort seinen Teller ab und stärkte sich mit ein paar Kanapees, die er sich am Büfett erkämpft hatte. Unweit von ihm stand Felix Thanner. Er unterhielt sich mit dem Direktor der örtlichen Sparkasse, der sich auf einen der Stehtische stützte und kopfnickend in sein Scheckbuch kritzelte. Für einen kurzen Moment sah Thanner zu Jan, lächelte ihm zu und reckte unauffällig den Daumen. Jan grinste, nickte zurück und schob sich ein Lachshäppchen in den Mund.
»Hallo, Dr. Forstner«, sagte eine Frauenstimme, und Jan wandte sich zu ihr um.
Bettina stand vor ihm, und er hätte sie kaum wiedererkannt. Statt ihres sonst so jugendlichen Outfits trug sie nun ein samtrotes Kleid mit tiefem Ausschnitt und hatte ihr Haar kunstvoll mit zwei silbernen Spangen hochgesteckt – eindeutig Modeschmuck, aber dennoch stilvoll. Sie sah aus, als hätte sie sich für einen Besuch in der Oper fertiggemacht, und nur ihr Nasenpiercing erinnerte daran, dass sie sonst T-Shirts mit Aufdrucken wie Punk’s not dead oder dem Logo der Nine Inch Nails den Vorzug gab.
»Ihr Vortrag war großartig.«
Noch immer an seinem Kanapee kauend, brachte Jan nur ein schmatzendes »Danke« zustande.
»Ich habe Ihnen etwas zu trinken mitgebracht. Wollen Sie?« Noch ehe Jan herunterschlucken und ihr erklären konnte, dass er sich bereits mit Sekt versorgt hatte, hatte sie ihm schon das Glas in die Hand gedrückt.
»Ich fand Ihre Fallbeispiele sehr aufschlussreich«, sagte sie mit wichtiger Miene. »Obwohl ich den Eindruck habe, dass Sie nicht ganz ehrlich mit uns gewesen sind.«
Endlich hatte Jan sein Brötchen herunterbekommen, woraufhin sie ihm zuprostete. »Auf einen erfolgreichen Abend.«
»Was meinen Sie mit nicht ganz ehrlich?«, fragte Jan, ohne aus seinem Glas zu trinken.
»Nun ja«, Bettina sah sich nach allen Seiten um und sprach mit gesenkter Stimme weiter, »ich habe doch das Buch von Frau Weller gelesen. Nachdem damals Ihr kleiner Bruder verschwunden war und Ihr Vater den Autounfall hatte, ist es Ihnen doch sehr schlecht gegangen. Ich meine, immerhin waren Sie damals ja selbst noch ein Kind und mussten so viele schlimme Schicksalsschläge auf einmal wegstecken. Da hätten Sie sich doch bestimmt jemanden gewünscht, der für Sie da ist. Jemanden, der Ihnen über all das hinweggeholfen hätte. Nicht wahr? Ich finde, das hätten Sie uns bei Ihrer Rede nicht verschweigen sollen.«
Peinlich berührt sah Jan sie an. Die junge Schwester hatte ihren Finger auf eine Wunde gelegt, die noch nicht lange verheilt war. Zwar tat es nicht mehr weh, aber es fühlte sich dennoch unangenehm an.
Jan nahm nun doch einen Schluck Sekt, dann nickte er und beschloss, es sei am besten, in die Offensive zu gehen. »Man merkt deutlich, dass Sie sich sehr für die Psychiatrie interessieren. Ja, Sie haben Recht. Eine Hilfestellung, wie wir Sie jetzt umsetzen werden, hätte mir damals geholfen, und es ist mit Sicherheit einer der Gründe, warum ich mich dafür starkmache. Wenn Sie so wollen, schöpfe ich dabei aus meinen eigenen Erfahrungen und gebe dadurch den Ereignissen von damals einen Sinn.«
»Das war mir sofort klar, als ich das Buch über Sie las.« Bettina bedachte ihn mit einem Blick, dem er kaum standhalten konnte. »Und das meinte ich auch, als ich Ihnen heute sagte, dass Sie ein ganz besonderer Mensch sind. Sie machen immer das Beste aus Ihrer Situation und lassen sich nicht unterkriegen. Das ist Ihre Stärke.«
Jan wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Einerseits ehrte es ihn, dass sie ihn bewunderte, aber es machte ihn auch verlegen. Zu allem Überfluss merkte er, dass er errötete, und das ärgerte ihn. Diese junge Frau, die eigentlich noch ein Mädchen war und die am Ende dieses Abends in ihren rostigen Opel Corsa mit dem Deine Lakaien-Schriftzug auf der Heckscheibe steigen würde, hatte es tatsächlich geschafft, ihn wie einen schüchternen Schuljungen aussehen zu lassen.
Noch während er nach der richtigen Antwort suchte, schenkte sie ihm ein breites Lächeln und deutete auf seinen Teller. »Jetzt will ich Sie aber nicht länger aufhalten. Sie sind ja noch gar nicht zum Essen gekommen.«
Sie prostete ihm mit ihrer Sektflöte zu, verabschiedete sich mit einem »Bis morgen« und verschwand daraufhin im Getümmel des Abends.