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Gleich nach Volker Nowaks Beerdigung war Felix Thanner auf die Empore geeilt. Den ganzen Vormittag waren seine Gedanken nur um die Kamera gekreist, und es war ihm schwergefallen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Dabei war er sich vorgekommen, als würde er sich nach wie vor in einem Alptraum bewegen, aus dem er nicht freikommen konnte. Ständig hatte er sich gefragt, ob die Frau vielleicht wieder vorbeigekommen war, während er auf dem Friedhof seinen Verpflichtungen nachkam? So wie am Tag zuvor, als sie plötzlich im Eingang der Kirche gestanden hatte.
Während der Beerdigung hatte er dann einen heftigen Druck auf der Brust verspürt. Der Anblick des Sarges war ihm unerträglich gewesen.
Ich weiß, wer seine Mörderin ist, hätte er den Trauernden am liebsten zugerufen, statt nur einen Nachruf auf Nowak zu verlesen. Ja, ich weiß es! Sie hat mit mir gesprochen. Aber ich darf es euch nicht sagen.
Als er dann endlich für sich war und nur den Wind unter dem Kirchendach heulen hörte, hatte er mit schweißnassen Händen und pochendem Herzen die Aufzeichnung abgerufen und mehr als eine halbe Stunde auf den Monitor gestarrt.
Nun klappte er den Laptop zu und lehnte sich vor Enttäuschung seufzend zurück.
Nichts. Wieder nichts.
Die Kamera hatte weiterhin zuverlässig ihren Dienst getan und sämtliche Personen in der Kirche aufgezeichnet. Im Schnelldurchlauf hatte Thanner zuerst den Kunstschlosser Seif beobachtet, der nun endlich das fehlerhafte Schloss ausgewechselt hatte. Wenig später waren Edith Badtke und Bruni Kögel erschienen, und für die nächsten vierzig Minuten – die in beschleunigter Wiedergabe kaum ein Zehntel der Zeit dauerten – hatten die Pfarrsekretärin und die Floristin den Blumenschmuck am Altar erneuert. Danach folgten die Vorbereitungen für Nowaks Aussegnungsgottesdienst und der Gottesdienst selbst.
Doch abgesehen davon war niemand zu sehen gewesen. Nur das statische Bild des Kirchenschiffs, über dem die Ziffern des Zeitzählers dahinrasten. Minuten, Sekunden und Millisekunden, in denen nichts geschehen war.
Dabei hatte Thanner ein paarmal die schreckliche Angst beschlichen, er werde jeden Moment dieses Ding aus seinem Traum wiedersehen. Wie es auf die vorderste Bankreihe zukroch, um dort auf ihn zu lauern. Jenes Wesen, das vortäuschte, eine Frau zu sein, bis man ihm zu nahe kam und sein wahres Antlitz sah.
Dieses Maul … Dieser zähnefletschende Abgrund … Dieser Höllenschlund! Mein Schuldgefühl, das mich zu verschlingen droht, weil ich nichts dagegen tun kann.
Bei der Erinnerung an den Traum begann er wieder zu zittern. Er fühlte den kalten Schweiß auf seiner Stirn und schalt sich einen Narren. Seine Nerven begannen ihm übel mitzuspielen, und Thanner betete, all das möge endlich ein Ende finden. Wie lange sollte er denn noch mit diesem Wissen leben, das ihn in Alpträumen heimsuchte und quälte, während er hilflos abwarten musste, bis sich ihm diese Wahnsinnige zeigte?
Falls sie sich ihm je wieder zeigen würde.
»Komm schon«, flüsterte er der Kamera zu. »Komm endlich! Ich bin hier! Ich warte auf dich!«