24

An diesem Vormittag begann Jans Dienst mit dem Besuch der allwöchentlichen Klinikkonferenz, an der das ärztliche und therapeutische Personal, Psychologen, Seelsorger und Sozialarbeiter teilnahmen. Normalerweise wurden bei diesen Treffen klinikinterne Belange, besondere Ereignisse oder schwierige Patientenfälle besprochen, doch heute gab es nur ein einziges Thema.

Die Spendenaktion für die neue Pädiatriestation war ein voller Erfolg gewesen. Die Einnahmen waren deutlich höher ausgefallen als erwartet. Als Professor Straub die Summe nannte, ging zuerst ein überraschtes Raunen durch die Reihen, dann folgte begeisterter Applaus, woraufhin der Klinikleiter nochmals allen Beteiligten für ihr Engagement dankte.

Als die Konferenz beendet war und die Versammlung sich auflöste, wartete draußen auf dem Gang Felix Thanner auf Jan. Das Gesicht des jungen Pfarrers strahlte vor Freude, und Jan musste an einen kleinen Jungen denken, dem man freie Auswahl in einem Spielwarengeschäft versprochen hatte.

»Endlich einmal eine gute Nachricht«, sagte Thanner mit funkelnden Augen. »Das ist weitaus mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Andererseits wundert es mich nicht, Jan. Deine Präsentation muss einen ziemlichen Eindruck gemacht haben, was ich so mitbekommen habe. Angeblich soll die Frau des Rotariervorstands Tränen in den Augen gehabt haben.«

»Ach ja?« Jan hob die Brauen. »Das stammt doch sicherlich von Frau Badtke, oder?«

»Von wem sonst?«

Thanner schmunzelte. Er wirkte müde, fand Jan. Trotz seines Freudestrahlens waren die Augenränder nicht zu übersehen. Wahrscheinlich hatte er vor Aufregung wegen der heutigen Bekanntgabe des Spendenergebnisses kein Auge zugetan. Jan würde das nicht wundern, denn von allen, die sich für das Kinder- und Jugendprojekt eingesetzt hatten, war Felix Thanner derjenige gewesen, der sich mit dem größten Eifer dafür starkgemacht hatte.

Wieder einmal fragte sich Jan, warum Felix dieses Projekt so sehr am Herzen lag. Gab es vielleicht jemanden, an den er dabei dachte? Jemanden wie Jans kleinen Bruder Sven, an dem es etwas gutzumachen galt? Wollte auch Felix für andere da sein, weil er im entscheidenden Augenblick für eine ganz bestimmte Person nicht da gewesen war? Dann wären sie sich sehr ähnlich.

Dennoch wagte er es nicht, Felix danach zu fragen. Auch wenn sie sich gut verstanden, war ihre Beziehung bisher nur auf das Kollegiale beschränkt gewesen.

»Ich denke allerdings nicht, dass es nur an meinem Vortrag gelegen hat«, entgegnete Jan und deutete augenzwinkernd zur Decke. »Die Großzügigkeit unserer Spender hatte wohl eher mit deinem guten Draht nach oben zu tun.«

Felix erwiderte etwas, doch Jans Aufmerksamkeit wurde von einem hageren Mann abgelenkt, der sich am Ende des Ganges mit einer Assistenzärztin unterhielt. Die beiden sahen zu Jan herüber, und der Mann nickte. Dann kam er auf Jan zu.

Jan schätzte ihn auf Ende vierzig, vielleicht auch etwas älter. Er hatte klare kantige Züge und einen lippenlosen Mund, der aussah, als habe man ihm einen dunklen Strich ins Gesicht gezogen. Das Haar schien er sich mit einem Kurzhaarschneider selbst geschnitten zu haben – an einigen Stellen sah man die rötliche Kopfhaut durchschimmern – , und seine rechte Braue wurde von einer Narbe zerteilt, die er sich vor vielen Jahren zugezogen haben musste. Am auffälligsten waren jedoch die wachsamen Augen dieses Mannes. Ihnen schien nichts zu entgehen.

»Dr. Forstner? Hauptkommissar Stark.« Er streckte Jan die Hand entgegen. »Man sagte mir, dass ich Sie hier treffen würde.«

Der Händedruck des hageren Polizisten war kräftiger, als Jan gedacht hatte, aber irgendwie passte er zu seinem Auftreten. Die Art, mit der er Jan ansah, wirkte bestimmt und entschlossen.

»Nun haben Sie mich gefunden. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Stark sah sich zu der Ärztegruppe hinter ihnen um, die sich lautstark auf dem Gang unterhielt. »Können wir irgendwo unter vier Augen sprechen?«

»Natürlich. Wenn Sie ein kleiner Spaziergang durch den Regen nicht abschreckt. Ich muss ohnehin zum Dienst auf meine Station.«

»Nur zu. Ich möchte Sie nicht aufhalten.«

Sie verließen das Verwaltungsgebäude, und Stark folgte Jan über das Klinikgelände. Der Regen hatte nachgelassen und war in leichten Niesel übergegangen, doch die dunklen Wolken, die von Osten auf den Klinikpark zukamen, drohten bereits mit weiteren heftigen Schauern.

»Sie werden sich bestimmt denken können, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte«, eröffnete Stark das Gespräch und steckte sich eine Zigarette an.

»Ich vermute, es geht um Volker Nowak?«

Stark stieß den Rauch durch die Nase aus. »Kannten Sie ihn denn gut?«

»Wir hatten nur einmal kurz miteinander zu tun. Und das ist schon eine ganze Weile her.«

»Privat?«

»Nein, es ging um einen Presseartikel.«

»Und danach? Kein weiterer Kontakt zu ihm?«

»Nein. Erst wieder, als er sich am Sonntag bei mir gemeldet hat.«

Der Polizist nickte nachdenklich. »Sie hatten angegeben, dass Sie mit ihm am Abend seiner Ermordung verabredet gewesen waren. Außerdem stand in dem Protokoll, dass Ihnen der Grund für dieses Treffen nicht bekannt war. Stimmt das?«

»Ja, das ist richtig. Nowak sagte mir nur, dass er sich verfolgt fühlte und dass er meinen fachlichen Rat einholen wollte.«

»Mehr nicht?«

Jan zuckte mit den Schultern. »Leider nein.«

Stark blieb stehen, inhalierte tief und sah dem Rauch hinterher. »Was für eine Art von fachlichem Rat könnte er Ihrer Meinung nach gesucht haben? Könnte es vielleicht mit einer Frau zu tun gehabt haben?«

Auch Jan hielt inne und musterte den Polizisten. »Gibt es denn eine Spur?«

»Wir ermitteln in mehrere Richtungen«, sagte Stark und drückte seine Zigarette am Mast einer Wegleuchte aus.

»Auch, was die Frau vom Friedhof betrifft?«

Ein knappes Lächeln umspielte Starks lippenlosen Mund. »Sie haben also mit Nowaks Mutter gesprochen«, stellte er fest.

»Ja, habe ich. Und sie meinte, Sie würden sie nicht ernst nehmen.«

»O doch, das tue ich.« Stark hielt die Kippe zwischen den Fingern und sah sich nach einem Mülleimer um. Dann gab er es auf und steckte sie in seine Jackentasche. »Ich glaube nur nicht, dass Herr Nowak das Opfer eines Gespenstes geworden ist. Aber es wäre durchaus denkbar, dass die beiden in jener Nacht seiner späteren Mörderin begegnet sind.«

Stirnrunzelnd sah Jan den Polizisten an. »Sie haben also noch keine konkrete Spur?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil ich den Eindruck habe, dass Sie mir noch immer nicht gesagt haben, weshalb Sie mich sprechen wollen«, entgegnete Jan. »Sie versuchen mich einzuschätzen, nicht wahr?«

Wieder schien Stark zu lächeln. »Ich habe vergessen, dass ich mich mit einem Psychiater unterhalte. Sie durchschauen Ihr Gegenüber sehr schnell.«

»Nicht immer, aber ich gebe mir Mühe.«

Nun lächelte Stark wirklich. »Ja, Sie sind gut. Hätte ich mir eigentlich denken können nach dem, was ich in dem Buch über Sie gelesen habe.«

Jan ignorierte diese Anspielung, woraufhin er einen Ausdruck von Zufriedenheit in Starks Blick zu erkennen glaubte. Offenbar hatte der Kommissar für sich einordnen wollen, wie Jan mit seiner Bekanntheit umging.

»Was ist mit der Freundin dieses Drogendealers?«, fragte Jan. »Ich dachte, sie sei Ihre Hauptverdächtige? Zumindest hat das die Presse behauptet.«

Erneut kramte Stark seine Zigaretten hervor. Er riss den Filter von einer Winston ab, und während er sie sich ansteckte, sah er Jan abschätzend an. »Kann ich mich darauf verlassen, dass diese Unterhaltung unter uns bleibt?«

»Selbstverständlich.«

»Na schön.« Stark blies den Rauch von sich. »Was ich Ihnen jetzt erzählen werde, darf aus ermittlungstaktischen Gründen noch nicht öffentlich werden.«

»Ich kann schweigen wie ein Grab.«

»Das glaube ich Ihnen gern, Herr Doktor, und Sie wären uns damit eine große Hilfe. Denn vorerst wollen wir die wahre Täterin noch etwas in Sicherheit wiegen.«

»Sie sind also überzeugt, dass es eine Frau ist?«

»Nun ja, da wäre zum einen die Frau vom Friedhof«, sagte Stark und begann seine Auflistung an den Fingern abzuzählen. »Dann haben wir noch die Aussage dieses Nachbarn, der kurz vor dem Mord den Streit zwischen Nowak und einer Frau gehört hat. Außerdem konnten wir trotz des starken Regens mehrere Spuren am Tatort sicherstellen, die darauf hindeuten, dass die Täterin Schuhgröße neununddreißig gehabt haben muss. Dem Sohlenprofil nach handelt es sich um Frauenstiefel, die vor kurzem in einem dieser Billigdiscounter angeboten wurden.«

Jan runzelte die Stirn. »Und trotzdem glauben Sie nicht, dass es die Freundin dieses … wie nennt er sich noch?«

»Dagon, wie diese syrische Gottheit. Eigentlich heißt er Adrian Stancu«, half ihm Stark, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, seine Freundin kann es nicht gewesen sein. Sie hat ein überzeugendes Alibi.«

»Ach ja?«

»Ja, sie war in Rumänien, als Nowak ermordet wurde. Und, was noch wichtiger ist, sie war zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich selbst tot.«

»Tot?«

Stark nickte bedeutsam. »Die rumänischen Kollegen sprechen von einer Hinrichtung. Wie es scheint, muss es mit ihrer großen Liebe zu Dagon doch nicht so weit her gewesen sein. Vielleicht hat sie aber auch einfach nur eingesehen, dass zwölf Jahre eine lange Zeit sein können.«

»Sie hatte einen anderen?«

»Ganz recht.« Stark zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. »Und Dagon scheint dafür kein Verständnis gehabt zu haben. Noch können wir ihm nicht nachweisen, dass er den Mord an den beiden in Auftrag gegeben hat, aber wenn man die Leiche einer Frau vorfindet, der man die Geschlechtsorgane ihres Liebhabers in den Rachen gestopft hat, ist es doch recht offensichtlich, finden Sie nicht?«

»Allerdings. Aber warum schließen Sie aus, dass Dagon selbst den Mord an Nowak in Auftrag gegeben hat?«

Stark hob eine Braue. »Tue ich das denn?«

»Hätten Sie mir sonst davon erzählt?«

Noch einmal zog der Polizist an seiner Zigarette, rupfte dann mit den Fingerspitzen die Glut ab und zertrat sie. Den restlichen Stummel schob er zu der ersten Kippe in die Jackentasche.

»Sie haben Recht, Doktor. Ich glaube einfach nicht an einen Rachemord. Es ist vielleicht nur ein Gefühl, aber ich denke, Dagon gut genug zu kennen. Ein Kerl wie er würde nie eine Frau mit einem Mord beauftragen. Und dann ist da noch dieser Zeuge. Der Mann hat die Frau auf dem Parkplatz zwar nicht gesehen, aber er hat Nowaks Streit mit ihr gehört. Also, selbst wenn sie eine Auftragsmörderin gewesen wäre, hätte sie sicherlich unauffälliger gehandelt und nicht erst die Nachbarschaft auf sich aufmerksam gemacht. Nein, die Rachemordtheorie ergibt für mich keinen Sinn.«

Jan sah auf die Uhr und nickte dann in Richtung seines Stationsgebäudes. »Ich sollte schon längst bei meinen Patienten sein. Wollen Sie mir nicht einfach sagen, was Sie wirklich von mir wollen?«

Stark seufzte und fuhr sich mit der Hand über seinen Stoppelkopf, in dem sich Regentropfen wie Schweißperlen gesammelt hatten. »Na gut, ich will Sie nicht länger als nötig aufhalten. Also geradeheraus: Können Sie sich vorstellen, dass die Mörderin hier in der Waldklinik in Behandlung ist oder war?«

Jan hatte schon vermutet, dass Stark darauf abzielte. Auch er hatte schon darüber nachgedacht. Vor allem in der vergangenen Nacht. Er hatte sich gefragt, ob das Bild mit den enthaupteten Kühen auf der Weide in Zusammenhang mit Nowaks Ermordung stand, ob die Frau, die ihm diese Nachrichten zukommen ließ, etwas damit zu tun hatte.

Zunächst hatte er daran gezweifelt. Es konnte doch ebenso gut sein, dass sie einfach nur krank war und Jans Hilfe suchte, während gleichzeitig auch eine Mörderin dort draußen unterwegs war. Es widerstrebte ihm, jemanden eines brutalen Mordes zu bezichtigen, nur weil diese Person unter offensichtlichen Wahnvorstellungen litt.

Doch etwas in ihm – ein sicherer Instinkt, der sich im Lauf seiner beruflichen Erfahrung geschärft hatte – war überzeugt, dass es tatsächlich nur eine Person gab. Die Urheberin der Zeichnung war auch Nowaks Mörderin. Zwar hatte er keinen Beweis dafür, aber dieser Instinkt ließ keinen Zweifel daran zu.

Doch falls das stimmte, wer war sie? Jemand, den er kannte? Wandte sie sich deshalb an ihn?

Sie suchte nach Hilfe – nach seiner Hilfe –, so viel stand für ihn fest. Dass sie sich ausgerechnet für ihn entschieden hatte, musste einen Grund haben.

Also war Jan im Geiste sämtliche Patientinnen durchgegangen, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte. Bevor er seine Stelle in der Waldklinik angetreten hatte, war er als forensischer Psychiater tätig gewesen. Zwar hatte er mit etlichen Straftätern zu tun gehabt, doch es waren allesamt Männer gewesen. Wenn es also tatsächlich eine seiner Patientinnen war, dann mussten sie sich hier in Fahlenberg begegnet sein.

Doch keine dieser Frauen schien aus seiner Sicht als Mörderin infrage zu kommen. Natürlich konnte er sich nicht hundertprozentig sicher sein, aber das konnte man auch bei gesunden Menschen nicht. Jeder war in der Lage zu töten, wenn er einen entsprechenden Grund hatte – und sei es aus Notwehr oder im Affekt.

»Ich kann mir vorstellen, wie meine Frage sich für Sie anhören muss«, holte ihn Stark aus seinen Gedanken zurück. »Aber ich muss nun einmal sämtliche Möglichkeiten prüfen.«

»Sie möchten also, dass ich Ihnen Auskunft über meine Patientinnen gebe ? Ihnen ist doch klar, dass ich damit gegen meine Schweigepflicht verstoßen würde?«

»Durchaus, durchaus«, erwiderte Stark mit einer abwehrenden Geste. »Aber ich muss Sie hoffentlich nicht an Paragraf einhundertachtunddreißig des Strafgesetzbuches erinnern?«

»Klingt wie eine Drohung.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bitte Sie nur um Ihre Mithilfe in einem besonders grausamen Mordfall. Einem Mordfall, der möglicherweise von einer geistig schwer gestörten Person begangen wurde.«

»Dann wissen Sie sicherlich, dass ich laut dieses Paragrafen nur dann gegen meine Schweigepflicht verstoßen darf, wenn ich glaubhaft nachweisen kann, dass eine meiner Patientinnen den Mord begangen hat. Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass diese Frau mit der Waldklinik zu tun haben könnte?«

Stark schob die Hände in die Hosentaschen und sah Jan eindringlich an. »Was halten Sie von einem Deal, Doktor? Ich erzähle Ihnen, was ich weiß, und Sie tun mir denselben Gefallen. Einverstanden?«

Jan sah den Kommissar verwundert an. Er schien es ernst zu meinen, und dafür musste es einen Grund geben. »Also gut, dann legen Sie los.«

»Dieser Zeuge, der Mann auf dem Balkon«, sagte Stark, »er hat sich an etwas erinnert. Er stand dort nur kurz, um nicht zu viel von der Sportübertragung zu verpassen, aber auf seine Zigarette wollte er nicht verzichten, was ich gut nachvollziehen kann. Er hörte also Nowak und die Frau unten auf dem Parkplatz. Sie stritten, doch durch den Hall zwischen den Hauswänden und dem lauten Fernseher in seinem Wohnzimmer verstand er nicht, worum es bei diesem Streit ging. Es hat ihn auch nicht sonderlich interessiert, wie er sagte. Aber dann, rückblickend sozusagen, fiel ihm ein kurzes Wort wieder ein, das mindestens zweimal von den beiden genannt wurde: Klinik. Damit könnte doch Ihre Klinik gemeint gewesen sein, die Psychiatrie?«

Jan zuckte mit den Schultern. »Könnte, muss aber nicht.«

»Natürlich«, sagte Stark, dann machte er ein Gesicht wie jemand, der ein Geheimnis verrät, »aber sehen Sie, ich stelle mir das so vor: Nowak will gerade in seinen Wagen steigen und zu Ihnen in die Kneipe fahren. Er will Ihnen etwas über diese Frau erzählen. Möglicherweise will er Ihnen auch zeigen, was er über sie herausgefunden hat, und Sie nach Ihrer Einschätzung dazu fragen.«

»Moment«, unterbrach ihn Jan. »Wie kommen Sie darauf, dass er mir etwas zeigen wollte?«

»Hatte ich das noch nicht erwähnt?« Stark wischte sich erneut über den Kopf und seufzte. »Dann muss ich es wohl vergessen haben.«

»Was haben Sie vergessen?«

»Nowaks Computer. Sein Laptop. Er war nirgends zu finden, also vermuten wir, dass er ihn bei sich hatte, als er zu Ihnen fahren wollte.«

»Und Sie denken, dass ihn diese Frau jetzt haben könnte?«

Stark nickte. »Sie wird ihn an sich genommen haben, weil sie wusste, dass sich etwas darauf befindet, das ihr möglicherweise schaden könnte.«

»Aber was sollte das gewesen sein?«

»Ich habe keine Ahnung, Doktor. Wie gesagt, es ist nur eine Vermutung, aber Nowak war Journalist, und ein besonders neugieriger obendrein, wie wir beide wissen.« Der Hauptkommissar machte eine kurze Pause, als wartete er auf Jans Zustimmung, dann sprach er weiter. »Es wäre doch durchaus denkbar, dass sie ihn deswegen verfolgt hat. Nun trifft sie ihn also, bedrängt ihn und verlangt die Herausgabe ihrer Daten. Nowak weigert sich, doch sie bleibt beharrlich. Sie lässt einfach nicht locker. Es kommt zum Streit, woraufhin ihr Nowak zu verstehen gibt, dass sie aus seiner Sicht ein Fall für die Klapsmühle sei.«

»Psychiatrische Fachklinik.«

»Wie bitte?«

»Psychiatrische Fachklinik. Das ist der Begriff, den wir bevorzugen.«

Stark hob entschuldigend die Hände. »Natürlich. Verzeihen Sie, es war nicht so gemeint. Also, Nowak empfiehlt ihr, sich psychiatrisch behandeln zu lassen. Das bringt sie erst recht in Rage. Sie packt ihn am Schopf, und bevor er sich’s versieht, reißt sie seinen Kopf zwischen Auto und geöffnete Tür und wirft sich mehrmals mit aller Wucht dagegen. Erst als er tot ist, begreift sie, was sie getan hat. Sie lässt von ihm ab, schnappt sich den Computer und läuft davon. Das ist natürlich reine Spekulation, aber was halten Sie davon?«

Jan zuckte mit den Schultern. »Denkbar, dass es so gewesen sein könnte.«

»Und?« Der Polizist sah ihn erwartungsvoll an. »Gibt es irgendjemanden in der Klinik, dem Sie eine solche Tat zutrauen würden?«

»Hören Sie, ich bin nicht mit allen Fällen in diesem Haus vertraut. Natürlich kann es vorkommen, dass eine psychisch kranke Person einen Wutausbruch hat, manchmal auch mit ernsten Folgen, aber ich kann deshalb ja nicht alle Patienten der Waldklinik unter Generalverdacht stellen.«

»Das habe ich auch nicht von Ihnen verlangt, Dr. Forstner. Aber gesetzt den Fall, es gäbe eine Patientin, der Sie eine solche Tat zutrauen, würden Sie es mir dann sagen?«

»Warum kommen Sie damit ausgerechnet zu mir? Wenn Sie Auskunft über unsere Patienten möchten, brauchen Sie eine richterliche Verfügung und müssen sich an den Klinikleiter wenden. Warum also ich?«

»Weil Nowak sich an Sie gewandt hat. Er hätte sich schließlich an jeden Psychiater hier wenden können. Aber er wollte sich ausgerechnet mit Ihnen treffen. Warum sollte er das tun, wenn er nicht gedacht hätte, dass Sie die Frau kennen?«

»Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Unter meinen Patientinnen befindet sich keine, die als mögliche Täterin infrage käme.«

»Auch nicht unter Ihren ehemaligen Patientinnen? Ich meine, wie viele Leute behandeln Sie im Jahr? Hundert? Zweihundert? Oder mehr?«

Jan atmete tief durch, ehe er antwortete. »Herr Stark, unser Deal war, dass wir uns sagen, was wir über diesen Fall wissen. Von Vermutungen oder wilden Verdächtigungen war nicht die Rede. Das wenige, was ich weiß, habe ich Ihnen bereits gesagt. Einen konkreten Verdacht im Hinblick auf meine Patientinnen habe nicht.«

Stark legte den Kopf schief. »Auch keine, die Sie in Schutz nehmen würden?«

»Nein, bestimmt nicht«, versicherte ihm Jan. »Schon gar nicht bei einem Mord.«

Das entsprach auch der Wahrheit. Eine Mörderin hätte er niemals in Schutz genommen, aber er würde alles tun, um seine Patientinnen vor einer polizeilichen Befragung zu bewahren, wenn er selbst dazu keinen berechtigten Anlass sah.

»Na schön«, seufzte der Polizist. »Ich halte Sie ohnehin schon viel zu lange von Ihrer Arbeit ab. Aber eine allerletzte Frage habe ich noch.«

»Dann fragen Sie.«

Ein durchdringender Ausdruck trat in das Gesicht des Polizisten. Es war, als wollte er Jans Gedanken lesen, und für einen Augenblick hätte Jan schwören mögen, dass Stark dazu sogar in der Lage war.

»Ich weiß, dass Sie etwas vor mir zurückhalten«, sagte Stark, und es klang nicht einmal wie ein Vorwurf. »Ich kann es Ihnen natürlich nicht beweisen, aber mein Gespür trügt mich nur sehr selten. Deshalb weiß ich auch, dass hinter Ihrer Zurückhaltung keine böse Absicht steht. Wahrscheinlich haben Sie sehr wohl eine Person im Auge, aber es fehlt Ihnen an Beweisen. In dem Fall würde ich an Ihrer Stelle ebenfalls stillhalten, bis ich mehr weiß. Aber vielleicht könnten Sie mir zumindest einen Anhaltspunkt geben? Und sei es nur, damit ich sehe, dass ich mit meiner Einschätzung Ihrer Person nicht völlig falsch liege.«

Für einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Dann sagte Jan: »Ich denke, wir sind beide gut in unserem Beruf. Und wir lieben Fakten.«

Schmunzelnd griff der Hauptkommissar nach seinen Zigaretten. Wieder nahm er eine davon heraus, riss den Filter davon ab und klopfte sie auf sein Päckchen. »Deshalb haben Sie mein Wort, dass wir keine Ihrer Patientinnen unnötig belästigen werden. Also?«

»Na gut, aber es ist nur … wie nannten Sie es? … reine Spekulation

Stark ließ sein Feuerzeug aufschnappen und nickte. »Nicht mehr und nicht weniger.«

»Gab es in den letzten Jahren irgendwelche Fälle von Tierverstümmelungen in dieser Gegend?«

Verwundert sah Stark ihn an. »Wie bitte?«

»Verstümmelungen«, wiederholte Jan. »Zum Beispiel an Rindern.«

Stark legte die Stirn in Falten und überlegte. »Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Aber Sie würden es wissen, wenn es solche Fälle gegeben hätte?«

»Ja, sicher.«

»Sehen Sie«, sagte Jan und machte eine bedauernde Geste, »dann habe ich mich wohl geirrt. Und genau deshalb werde ich nichts sagen. Nicht, bevor es konkrete Beweise gibt.«

Damit verabschiedete er sich und ging zum Eingang des Stationsgebäudes.

»Dr. Forstner«, rief Stark ihm nach.

Jan sah sich zu ihm um.

»Glauben Sie nicht, dass ich Ihre Haltung nicht verstehe, Doktor«, sagte Stark. »Diese Frau ist krank. Sie braucht Hilfe. Aber sie ist auch eine Mörderin. Vergessen Sie das nicht.«

Jan nickte. Natürlich wusste er das. Aber was sollte er tun, solange er keine Ahnung hatte, wer sie war?

Dunkler Wahn
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