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Jan war auf halbem Weg nach Hause, als er es sich anders überlegte. Die Vorstellung, allein in seinem leeren Haus zu sein, war ihm unerträglich. Wie gern hätte er jetzt bei Rudi vorbeigesehen und mit ihm über alles geredet. Er vermisste seinen alten Freund, der jetzt auf den Kanaren seinen zweiten Frühling erlebte. Ein wenig Abstand zu allem hätte auch ihm gutgetan.
Jan hielt an einer Bar namens Vertigo, an der er schon Dutzende Male achtlos vorbeigefahren war. Was soll’s, dachte er. Es gibt immer ein erstes Mal.
Drinnen war es stickig und laut, aber das spielte keine Rolle. Hauptsache, er war unter Menschen. Er ließ seinen Blick durch die Bar schweifen, die im Stil der späten Fünfziger eingerichtet war. Erleichtert stellte er fest, dass er keine bekannten Gesichter entdecken konnte. Ihm war jetzt nicht nach Reden zumute.
Er fand einen freien Platz an der Theke, inspizierte die riesige Flaschenwand hinter dem Tresen und bestellte zur Verwunderung der Kellnerin gleich zwei Gläser Glenmorangie. Das erste leerte er mit einem Zug.
Der Whisky brannte in seiner Kehle, und Jan wünschte, er könnte damit die Wut und die Frustration aus seinem Kopf ätzen. Nach seinem Gespräch mit Stark war er wieder bei Carla gewesen, und es hatte ihm erneut beinahe das Herz gebrochen, sie in diesem Zustand zu sehen.
Seit sie aufgewacht war, hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Gestern hatte sie vor den Polizisten notdürftig ihre Aussage gemacht, doch heute verschloss sie sich hinter einer starren Maske. Auch auf seine Berührungen hatte sie nicht reagiert. Also hatte er sich an den kleinen Wandtisch gesetzt, auf dem ihr Mittagessen kalt geworden war, während sie vom Bett aus aus dem Fenster starrte. So hatten sie eine Ewigkeit miteinander geschwiegen, und irgendwann hatte sich Carla die Decke über den Kopf gezogen und war eingeschlafen.
Carla hatte nicht geweint. Sie hatte keinerlei emotionale Regungen gezeigt. Es war, als habe sie sich in ihr Innerstes zurückgezogen, weil dort der einzige Ort war, an dem sie sich noch sicher fühlte. Vor allem das machte Jan Sorgen. Sie brauchte baldmöglichst eine Therapie, um das Trauma aufzuarbeiten. Carla war stark, sie würde es schaffen, aber es würde umso schwieriger werden, je länger sie damit wartete …
Er bestellte einen weiteren Whisky und schwenkte die goldene Flüssigkeit.
Er musste an Jana denken. In ihrem Wahn hatte sie es wirklich geschafft. Sie hatte einen Keil zwischen ihn und Carla getrieben. Eine Barriere, die unüberwindbar sein würde. Ihre Beziehung würde nie wieder so sein, wie sie einmal war. Wahrscheinlich würde es nicht einmal mehr eine Beziehung sein. Und das, wo sie sich schon einmal fast verloren hatten und nun kurz davor standen, wieder zueinanderzufinden.
Sein Sitznachbar, ein bulliger Kerl mit tiefliegenden Augen und straff zurückgekämmten Haaren, die vor Gel glänzten, stieß ihn an.
»He«, brummte er, »entweder du machst es aus, oder du gehst ran. Das Geklingel nervt.«
Erst jetzt bemerkte Jan die Vibrationen seines Handys in der Jackentasche, begleitet vom nostalgischen Läuten eines alten Telefons. Das Display zeigte keine Rufnummer an. Noch bevor er den Anruf entgegennahm, wusste er, wer sich melden würde.
»Hallo, Liebling, wie geht es dir?«
Beim Laut ihrer Stimme spürte Jan einen heftigen metallischen Geschmack im Mund. In diesem Augenblick hätte er sich sehr gut vorstellen können, Jana zu töten. Einfach nur, um endlich seine Ruhe vor ihr zu haben.
Einen Moment zögerte Jan. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Jana«, sagte er schließlich und bemühte sich, seine Stimme neutral klingen zu lassen. »Du bist in der Nähe, habe ich Recht?«
»Ja, ich kann dich sehen.«
»Ich will dich auch sehen. Und zwar jetzt.«
»Ich glaube nicht, dass das in deiner momentanen Verfassung eine so gute Idee wäre.«
»O doch, das wäre es.« Er sah sich in der Bar um. Der Geräuschpegel aus Stimmen und Musik war zu hoch, um herauszuhören, ob sie in oder vor dem Lokal stand. »Wo bist du?«
»Liebling, du klingst verärgert. Was ist nur los mit dir?«
»Was mit mir los ist?« Jan sprang auf und blickte sich hektisch um. Er ertrug dieses Spielchen nicht mehr länger. »Ausgerechnet du fragst mich, was mit mir los ist? Wie krank bist du eigentlich?«
»Jan, ich mag diesen Tonfall nicht.«
»Ach ja? Daran wirst du dich aber gewöhnen müssen. Einen anderen wirst du von mir nämlich nicht zu hören bekommen.«
Jan konnte vier Frauen ausmachen, die ein Handy am Ohr hielten. Zwei davon konnte er sofort ausschließen, da sie ohne Unterbrechung redeten. Auch die Dritte schied aus, als sie in schallendes Gelächter ausbrach, das der Person am anderen Ende der Leitung sicherlich noch stundenlang in den Ohren klingeln würde.
Er ging auf eine attraktive junge Frau mit langen schwarzen Haaren zu, die neben dem Eingang des Vertigo unter einem Plakat des namensgebenden Hitchcock-Films saß. Sie trug dunkle Kleidung und wirkte südländisch. Während sie mit ernstem Blick in ihr Handy lauschte, wirkte sie nervös. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, wippte mit der Schuhspitze und biss sich auf die Unterlippe.
»Warum bist du so gemein zu mir?«, hörte er Jana sagen, während sich eine gestresst aussehende Kellnerin an ihm vorbeischob und ihm den Blick auf die Schwarzhaarige versperrte. »Du hast doch gesagt, dass du mich liebst.«
Jan kämpfte sich zu der Frau durch und blieb unmittelbar vor ihr stehen. »Es war gelogen, und das weißt du. Ich wollte dich anlocken, damit ich dich endlich der Polizei übergeben kann.«
Die junge Frau sah ihn aus großen braunen Augen an und wandte sich dann wieder ihrem Telefonat zu. Erst jetzt konnte Jan hören, dass sie Spanisch sprach.
»Du hast nicht gelogen«, protestierte Jana. Sie musste irgendwo vor dem Lokal sein.
»Doch, das habe ich«, sagte er, zwängte sich durch eine Gruppe Neuankömmlinge und trat ins Freie hinaus. Dunkelheit und kalter Regen empfingen ihn.
»Nein, das ist nicht wahr, Jan!«
»Natürlich ist es wahr«, fauchte er in das Telefon, während sein Blick die Straße absuchte. »Ich habe die Schnauze voll, mich vor dir zu verstellen, verstehst du! Du hast meine Beziehung zerstört, die mir alles bedeutet hat. Ich habe nichts mehr zu verlieren.«
»Liebling, du bist betrunken. Da sagt man schon mal Dinge, die man gar nicht so …«
»Nenn mich nie wieder so! Ich bin nicht dein Liebling. Ist das in deinem kranken Hirn angekommen?«
Das hatte gesessen. Sie keuchte schockiert. Jan blieb vor einem silberfarbenen BMW stehen und sah eine hochgewachsene schlanke Person am Steuer, die sich ein Handy ans Ohr hielt. Sie hatte Jan den Rücken zugewandt. Er sah zwei Goldringe an ihren schlanken Fingern, und ihr dunkler langer Pferdeschwanz glänzte im Licht der Straßenlampe.
»Jan, ich verstehe das nicht.« Jana sprach, und auch die Person in dem BMW sprach und machte eine Geste. »Du verwirrst mich. Wir hatten doch über den Plan gesprochen, und du hast gesagt …«
Zu allem entschlossen, riss Jan die Fahrertür des Wagens auf. »Okay, es reicht! Komm raus da!«
Wie in einer einzigen Bewegung wirbelte die Person zu ihm herum und schnellte aus dem Wagen. Erschrocken starrte Jan auf einen etwa eins neunzig großen Kerl, der ihn aus rabenschwarzen Augen anfunkelte. »Was willst du, eh?«
»Die Frau«, stieß Jan hervor. »Ich dachte …«
Weiter kam er nicht. Der Kopfstoß traf ihn so abrupt, dass Jan den Schmerz erst realisierte, als er bereits im Rinnstein lag.
»Jetzt kannst du denken, Spinner«, sagte der Hüne und sah auf Jan herab, der sich das Blut aus dem Gesicht wischte. »Finger weg von ihr, verstanden?«
»Miguel, lass ihn!«
Jan hörte das Klacken von Absätzen, dann sah er die attraktive Schwarzhaarige aus dem Lokal.
»Er ist es doch gar nicht«, sagte sie und zog ihren Freund am Ärmel seiner Lederjacke. »Querido, es gibt keinen anderen außer dir! Comprende?«
»Glück für dich«, brummte Miguel ihm zu, dann stieg er mit seiner Freundin in den BMW und fuhr davon.
Als Jan sich erhob, waren seine Kleider durchnässt und mit Dreck und Blut bespritzt. Er zitterte vor Wut am ganzen Leib.
»Siehst du das?«, brüllte er in die menschenleere Straße. »Sieh es dir an, du irres Stück Scheiße! Sieh dir an, was du aus mir gemacht hast!«
Wenige Meter von ihm entfernt flammten auf der gegenüberliegenden Straßenseite Scheinwerfer auf. Ein silberner Kleinwagen setzte aus einer Parklücke auf die Straße, fuhr rückwärts bis zur nächsten Abbiegung und raste dann davon.
»Feige!«, rief Jan ihr nach. »Du bist so feige! Aber ich werde dich kriegen. Ich werde dich kriegen, hörst du?«