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Es war am späten Vormittag des nächsten Tages, als Rutger Stark in seinem Büro saß und die dritte Winston an ihrer Vorgängerin ansteckte. Keiner seiner Kollegen beschwerte sich deshalb. Im Gegenteil, nachdem er den letzten Abzug der Tatortfotos an die Pinnwand geheftet hatte, schnorrte ihn sein Kollege Wegert um eine Zigarette an und ließ sich rauchend neben ihm auf einem Drehstuhl nieder.
»Was für eine dreimal verfluchte Scheiße«, sagte Wegert in Richtung der Fotos, und jedes seiner Worte wurde von einer Rauchwolke begleitet.
Stark nickte nur und starrte ebenfalls auf die Fotos. Noch immer spürte er ein Beben in allen Gliedern, als sei er unmittelbar nach der Tatortbegehung an Parkinson erkrankt.
Die Aufnahmen zeigten Szenen aus Forstners Esszimmer und Küche, aber ebenso gut hätten sie aus einem Schlachthaus stammen können – einem Schlachthaus wie dem von Werner Gessing, und Stark musste an dessen Worte denken: Wenn wir erst einmal drei oder vier Rinder abgearbeitet haben, waten wir hier im Blut.
O ja, so war es auch in Forstners Wohnung gewesen. Zwar waren die Polizeibeamten nicht durch Blut gewatet, aber ihre mit Überzügen versehenen Schuhe hatten bei jedem Schritt hässlich schmatzende Geräusche von sich gegeben. Auch Felix Thanner hatte »gearbeitet«, und es war einer der schlimmsten Anblicke gewesen, die Stark je in seinem Berufsleben zu sehen bekommen hatte.
Sein Blick blieb auf dem Foto des blutigen Küchenmessers haften, das als Beweismittel Nr. 2 gekennzeichnet war.
Stark schüttelt den Kopf. Du hättest es wissen müssen, sagte er sich nicht zum ersten Mal an diesem Vormittag. Aber nein, du musstest Forstner ja unbedingt versichern, er müsse sich keine Sorgen machen. Wahrscheinlich war dieser Verrückte gerade am Werk, während du den dümmsten aller Polizistensprüche auf Forstners Anrufbeantworter hinterlassen hast. Die Art von Spruch, die signalisieren soll, dass ihr die Lage im Griff habt, obwohl du keine Ahnung hattest, wo sich dieser Irre gerade aufhielt. Wegert hat Recht, es ist eine dreimal verfluchte und obendrein gequirlte Scheiße!
Zwar hatte Stark eine Streife zu Forstners Haus geschickt, noch bevor er bei ihm angerufen hatte, aber die Kollegen hatten nichts Außergewöhnliches entdecken können. Sie hatten das Haus dunkel und verschlossen vorgefunden, und als Forstner auf ihr Klingeln nicht reagiert hatte, waren sie davon ausgegangen, er schliefe tief und fest. Und während Stark am anderen Ende des Ortes mit der Exhumierung von Heinz Krögers Sarg beschäftigt gewesen war – einem Sarg, in dem sie nichts als Erde vorfanden – , hatten die Kollegen, die er zu Forstners Schutz losgeschickt hatte, die nähere Umgebung abgefahren und nach Thanner Ausschau gehalten. Aber auch sie waren davon überzeugt gewesen, dass er sich nicht zu Forstners Haus wagen würde.
Ja, es war wirklich vermessen gewesen, zu glauben, sie könnten Thanners Verhalten einschätzen. Selbst bei einem normal denkenden Gewaltverbrecher – falls man es so bezeichnen konnte – wäre es ein Wagnis gewesen, aber im Fall dieses Irren zu glauben, er werde jetzt die Hosen gestrichen voll haben und das Weite suchen, war schlichtweg dumm gewesen.
Forstner selbst hatte gesagt, dass Thanner zwar verrückt, aber dass er auf keinen Fall zu unterschätzen war. Oder eher Jana, sie, denn Forstner hatte von Thanner in der weiblichen Form gesprochen. Für ihn war es nicht Thanner, sondern sein zweites, feminines Ich gewesen, das diese Wahnsinnstaten verübt hatte. Und allein die Tatsache, dass sie Thanner in der Latexhaut vorgefunden hatten, blutverschmiert und mit entblößtem Unterleib, sprach aus Starks Sicht sehr dafür, dass die Theorie des Psychiaters richtig gewesen war. Auch wenn es dem Hauptkommissar selbst jetzt noch schwerfiel, den Sachverhalt zu akzeptieren.
So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass Stark seit über einer Stunde vor einem leeren Monitor saß, auf dem eigentlich sein Bericht entstehen sollte.
»Kollege Stark?«
Wegert und er sahen gleichzeitig zu einem jungen Beamten auf, der den Kopf zur Tür hereinstreckte und mit sichtlicher Verwunderung feststellte, dass in diesem Büro geraucht wurde. Der junge Mann gehörte zu dem Team, das mit der Suche nach Carla Weller befasst war. Nun kam er naserümpfend auf die beiden zu, betrachtete missbilligend die als Aschenbecher zweckentfremdete Kaffeetasse und legte eine DVD auf Starks Tisch.
»Hier. Das ist für Sie.«
Stark besah sich den unbeschrifteten Datenträger. »Was ist das?«
»Sie hatten doch darum gebeten, dass wir Sie informieren, sobald sich etwas Neues ergeben hat.«
»Haben Sie Frau Weller gefunden?«
»Nein, aber am besten sehen Sie sich den Film an. Er stammt aus einer Überwachungskamera in einem Stuttgarter Parkhaus und wurde an dem Tag aufgezeichnet, an dem Frau Weller verschwand. Wir haben die entscheidenden Szenen zusammengeschnitten.«
»Und?«
Der Beamte hob die Schultern. »Tja, wie es aussieht, fällt der Fall ab jetzt in Ihr Ressort.«
Der geschnittene Film dauerte nur etwa zehn Minuten, und als Stark die Aufnahme gesehen hatte, wusste er, was sein junger Kollege gemeint hatte. Kurz vor Ende des Films hatte Stark die Pause-Taste des Mediaplayers betätigt, und nun starrten er und Wegert auf den Computermonitor.
»Du lieber Himmel«, stieß Wegert aus, während sich Stark seine vierte Winston ansteckte.
Es dauerte eine Weile, bis die Zigarette brannte, da seine Hände heftiger zitterten denn je, während ihm Felix Thanners eingefrorenes Grinsen entgegenstarrte.
»Nein, das ist nicht Thanner«, sprach Stark seinen nächsten Gedanken leise aus und rieb sich die vom Qualm brennenden Augen. »Das ist Jana.«
»Was?« Wegert sah ihn verdutzt an. »Wer soll das sein?«
»Eine Verrückte«, sagte Stark, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. »Eine Verrückte mit einem Plan, von dem wir noch immer nicht alles wissen.«