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Der kleine Ort Steinbach lag knapp dreißig Kilometer von Fahlenberg entfernt an der nordöstlichen Grenze des Landkreises. Es war ein idyllisch gelegenes Örtchen, umringt von tannenbedeckten Hügeln, doch an Regentagen wie diesem war von seinem pittoresken Charme nicht viel zu spüren.
Außerhalb des Ortes, am Fuß einer kleinen Anhöhe, befand sich das Pflegeheim Pfauenhof, ein großer T-förmiger Gebäudekomplex inmitten einer weitläufigen Grünanlage. Der Pfauenhof war Mitte der fünfziger Jahre gegründet worden und genoss einen guten Ruf als Einrichtung für altersdemente und schwerbehinderte Menschen.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und ein kalter Wind wehte Regenschleier über den Besucherparkplatz. Jan saß auf dem Rücksitz eines dunkelblauen Audis und sah an Stark und seinem Kollegen Erler vorbei auf das Gebäude, das im grauen Zwielicht des frühen Abends etwas Bedrohliches auszustrahlen schien. Doch natürlich war es nicht das Gebäude selbst, von dem die Bedrohung ausging. Es war Jana.
Jan rutschte nervös auf dem Rücksitz hin und her. Knapp zwei Stunden waren vergangen, seit er an der brennenden Pfarrei eingetroffen war. Jan hatte Stark von seinem Telefonat mit Felix Thanner berichtet, und der Hauptkommissar hatte unverzüglich Nachforschungen über Tatjana Harder angestellt. Tatsächlich war eine Frau dieses Namens in Steinbach gemeldet. Ihre Wohnanschrift war die des Pflegeheims. Offensichtlich eine Mitarbeiterin, die in einer der angegliederten Personalwohnungen lebte. Das erklärte auch ihren Zugang zu den Drogen, mit denen sie Carla betäubt hatte.
Des Weiteren hatte man festgestellt, dass zu dem Fuhrpark des Heims auch vier silberfarbene Renaults Twingo gehörten, die von den Pflegekräften des Ambulanzdienstes genutzt wurden. Die vier Wagen standen zu diesem Zeitpunkt nebeneinander am Seiteneingang des Gebäudes.
Alles schien zu passen, woraufhin Stark eine SEK-Einheit angefordert hatte, um die gemeingefährliche Frau festzunehmen. Nur für den schlimmsten Fall, wie er betont hatte. Nach dem, was man über Tatjana Harder wusste, war ihr alles zuzutrauen – erst recht, wenn sie feststellte, dass sie enttarnt war.
»Ich bin nach wie vor dagegen.« Erler bedachte Stark und Jan mit einem finsterem Blick. Der Leiter des Spezialeinsatzkommandos war ein drahtiger Mann mit militärischem Kurzhaarschnitt und ernsten Zügen, aus denen Disziplin und langjährige Erfahrung sprachen. Doch nun bereitete es ihm sichtlich Mühe, seine Verärgerung im Zaum zu halten. »Sie hätten wenigstens nachfragen können, ob sie überhaupt im Haus ist«, fügte er an Stark gewandt hinzu.
»Um sie damit zu warnen?«, gab Stark zurück. »Nein, Dr. Forstner hat vollkommen Recht, wir dürfen unseren Wissensvorsprung keinesfalls aufs Spiel setzen. Zum ersten Mal sind wir ihr einen Schritt voraus. Noch weiß sie nicht, dass wir ihren Namen kennen. Aber was meinen Sie, wie schnell es sich herumgesprochen hätte, wenn die Polizei an ihrem Arbeitsplatz nach ihr fragt? Und einer vermeintlichen Privatperson hätte man sicherlich keine Auskunft über eine Mitarbeiterin gegeben. Außerdem wäre es schon ein arger Zufall, wenn sich ausgerechnet heute, kurz nach der Brandstiftung, jemand nach ihr erkundigen würde.«
Erler schien davon nicht überzeugt. »Na und? Wer sagt überhaupt, dass sie nach dem Mord an Thanner wieder hierher zurückgekehrt ist?«
»Verstehen Sie denn nicht?«, mischte Jan sich ein. »Tatjana Harder glaubt sich da drin in Sicherheit. Der Pfauenhof ist ihre Tarnung, wenn Sie so wollen. Selbstverständlich wird sie hierher zurückkehren. Sie wird so tun, als sei nichts gewesen, und niemand wird Verdacht schöpfen. Das wird sie jedenfalls glauben, denn bisher hat es ja immer funktioniert. In einem Punkt haben Sie allerdings Recht: Wir wissen nicht, ob sie bereits zurückgekehrt ist.«
Erler schien einen Moment nachzudenken, dann nickte er entschlossen. »Na gut, dann gehen wir jetzt eben rein und finden es heraus.«
»Nein«, widersprach ihm Jan, »nur ich werde hineingehen, so wie wir es besprochen haben.«
»Verdammt«, fuhr Erler ihn an, »muss ich mir jetzt von einem Psychiater meine Arbeit erklären lassen?«
»Niemand will Ihnen Vorschriften machen«, ging Stark dazwischen, »aber denken Sie doch mal nach. Wenn Frau Harder noch nicht zurückgekehrt sein sollte und wir jetzt alle in das Gebäude gehen, verspielen wir unsere Chance. Sie wird da drin sicherlich Freunde oder Kollegen haben, die es gut mit ihr meinen oder auch nur neugierig werden. Ein einziger Anruf, dass die Polizei ihretwegen hier ist, genügt, und wir können wieder von vorn anfangen, nach ihr zu suchen.«
»Aber wenn nur Forstner reingeht und dort auf sie wartet, ist das etwas anderes?«
»Ja, das ist es allerdings«, sagte Jan. »Vergessen Sie nicht, dass wir es mit einer wahnhaften Person zu tun haben. Und in ihrer Wahnwelt habe ich sie schon häufiger besucht, wie sie mir erzählt hat. Nun besuche ich sie eben in der realen Welt. Das dürfte sie nicht allzu sehr verwundern, immerhin hatte ich in letzter Zeit schon mehrmals darauf gedrängt, ihr persönlich zu begegnen. Vor allem aber glaubt sie ja, dass ich weiß, wer sie ist. Immerhin haben Jana und ich einen gemeinsamen Plan, wie auch immer der aussehen mag. Und nicht zu vergessen, ist sie in mich verliebt.«
Stark legte seinem Kollegen eine Hand auf die Schulter und sah ihn eindringlich an. »Bitte, Erler, lassen Sie es uns zuerst so versuchen, wie wir es besprochen haben. Dr. Forstner wird reingehen und sie unter einem Vorwand zu uns nach draußen holen. Dann können ihre Männer zugreifen.«
»Glauben Sie mir, Erler, Tatjana wird mir vertrauen«, versicherte ihm Jan. »Sie wird mir nichts tun, und wir werden keinen der Heimbewohner oder das Personal gefährden. Wägen Sie doch nur einmal das Risiko ab. Was glauben Sie, was los wäre, wenn Tatjana tatsächlich schon zurück ist und Wind davon bekommt, dass Polizisten das Heim nach ihr durchsuchen? Wir haben doch schon zur Genüge erfahren müssen, was passiert, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlt und ausrastet.«
»Erler, diese Frau ist nicht nur gefährlich, sondern auch geisteskrank«, betonte Stark nochmals. »Und Dr. Forstner ist Psychiater. Er kennt sich im Umgang mit solchen Menschen aus, nicht wahr?«
Jan nickte. »Ja, ich traue es mir zu, sie aus dem Heim zu holen. Ohne dass jemand dort drin gefährdet wird. Und auf dem freien Vorplatz kann sie Ihnen nicht davonlaufen. «
Erler lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss die Augen. Er biss die Zähne zusammen, bis die Kaumuskeln in seinem kantigen Gesicht hervortraten. Angespanntes Schweigen breitete sich in der Fahrzeugkabine aus. Dann atmete der SEK-Leiter tief durch und sah die beiden Männer an.
»Also gut, von mir aus. Dann soll unser James Bond hier sein Glück versuchen. Aber eines sage ich Ihnen, Ihnen beiden: Wenn da drinnen irgendetwas schiefgeht, ziehe ich Sie zur Verantwortung. Haben Sie das verstanden?«
Stark nickte. »Schon klar.«
Erler wandte sich zu Jan. »Sitzt das Mikrofon sicher?«
Jan sah an sich herab und betastete sein Hemd. Das Klebeband, mit dem ein winziges Mikrofon an seiner Brust befestigt war, spannte unangenehm auf seiner Haut. »Ja, ist alles an seinem Platz.«
Wieder biss Erler die Zähne zusammen. »Gut«, sagte er schließlich. »Also noch einmal: Sobald Sie der Frau gegenüberstehen, geben Sie uns Bescheid. Wir werden hier auf Sie warten. Und wenn diese Frau nicht herauskommen will, unternehmen Sie keinen Alleingang. Dann werden wir hereinkommen. Ist das klar?«
»Voll und ganz.«
Stark sah Jan an. Auch ihm war die Aufregung ins Gesicht geschrieben. »Sind Sie bereit?«
»Ja, wir können anfangen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden Sie ständig überwachen. Jedes Ihrer Worte kann hier mitgehört werden. Sollte der Fall der Fälle eintreten, geben Sie uns das Stichwort, und wir sind augenblicklich bei Ihnen.«
»Wird schon schiefgehen«, entgegnete Jan. Er sammelte sich, dann zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch und öffnete die Tür.
Als Jan ausstieg, spürte er, dass seine Knie zitterten. Er warf die Tür hinter sich zu und ging schnellen Schrittes über den Parkplatz zum Gebäude.
Die beiden Polizeibeamten sahen Jan nach, der durch den Regen zum Eingang lief. Aus dem Lautsprecher am Armaturenbrett war sein Atmen zu hören, begleitet von den Reibegeräuschen seiner Kleidung.
»Er muss die verdammte Jacke wieder aufmachen«, murmelte Erler, wissend, dass Jan ihn nicht hören konnte. »Das Reiben stört.«
Obwohl sich Erler nun zusammennahm und keine Miene verzog, konnte Stark die Nervosität seines Kollegen spüren.
Erler schaltete den Scheibenwischer ein. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Jan durch die elektrische Schiebetür ging.
»Gut, ich bin da«, hörten sie Jans Flüstern aus dem Lautsprecher, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Krachen.
»Jetzt hat er die Jacke geöffnet«, stellte Stark fest.
Erler warf ihm einen genervten Blick zu, dann sah er zu den beiden Lieferwagen, die sich zu beiden Seiten des Gebäudes positioniert hatten, und tippte gegen sein Headset.
»Er ist jetzt drinnen. Bereithalten.«