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Sie hatte gewusst, wo sie Jan finden würde, und das Schicksal hatte ihr genau an der richtigen Stelle einen freien Parkplatz beschert. Wieder eines der Zeichen, die der Himmel für sie setzte. Nun wartete sie, Stunde um Stunde. Sie beobachtete Jans alten VW Golf auf dem regennassen Parkplatz des Klinikums, umkrampfte das Lenkrad und dachte nach.
Im Moment beschäftigte sie der Pfarrer am meisten. Er wurde zunehmend zum Problem, vor allem, weil sie ihn unterschätzt hatte. Denn Felix Thanner war heute bei ihr gewesen, was sie ziemlich überrascht hatte. So viel Mut hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Ganz besonders nicht, seit er wusste, wer sie war.
Anfangs hatte er sich noch an die Regeln gehalten und sie nicht direkt auf das angesprochen, was er eigentlich von ihr wollte. Er hatte sich nach ihrem Befinden erkundigt und war einfach nur freundlich gewesen.
Er hatte es im Guten versucht. So hatte es ihre Mutter immer bezeichnet. Rede mit den Leuten zuerst im Guten, wenn du etwas erreichen willst. Das war ihre Devise gewesen.
Ihre Mutter hatte an das Gute im Menschen geglaubt. Was für ein verweichlichtes Gewäsch! Es gab nichts Gutes in der Welt. Wer sich darauf verließ, war verlassen. Die Wahrheit war, dass die Menschen böse waren und einen dazu trieben, Dinge zu tun, die man ein Leben lang bereuen musste. Diese bösartige, missgünstige und heuchlerische Welt, in der Habgier und Hass regierten, ließ einem einfach keine andere Wahl.
Ihre Mutter hatte das nie verstehen wollen. Dieses unterwürfige Weibchen, das für ein Dach über dem Kopf jegliche Selbstachtung aufgegeben hatte. Auch wenn Jana sie einst geliebt hatte, war sie doch im Grunde nichts anderes als eine billige Hure, die für ein warmes Essen die Beine breitmacht. Und irgendwann war von ihrer Mutter nur noch ein Schatten geblieben, was es jedem, der es darauf anlegte, leichtmachte, auf ihr herumzutrampeln. Sie hatte sich alles gefallen lassen, weil sie fest daran geglaubt hatte, dass sie eines Tages für ihre Unterwürfigkeit belohnt werden würde.
Und als dann alles aus dem Ruder gelaufen war, hatte Jana sie von ihrem verderblichen Irrglauben erlösen müssen. Jana hatte diese Tat als eine unabänderliche Notwendigkeit betrachtet, auch wenn es ihr nicht leichtgefallen war. Trotzdem war sie überzeugt, dass sie das Richtige getan hatte. In dieser Hinsicht gab es nichts, was sie hätte bereuen müssen.
Dieser Pfarrer erinnerte sie sehr an ihre Mutter. Auch er war ein weinerliches, verweichlichtes Bündel aus Ängsten. Verabscheuungswürdig. Ekelerregend. Sie hätte ihm am liebsten ins Gesicht gekotzt, als er sich mit ihr unterhalten wollte. Und als er irgendwann doch noch auf den Punkt gekommen war und an ihre Vernunft appelliert hatte, war es einfach nur grotesk gewesen.
Wenn er wüsste, warum sie ausgerechnet ihn für ihre Beichte ausgesucht hatte! Aber er hatte nichts geahnt. Sie hatte ihn perfekt getäuscht und ihm versprochen, noch einmal über alles nachzudenken. Es sei ein schwerer Schritt, sich zu stellen, hatte sie gesagt. Aber sie wisse freilich, dass sie nicht umhin kommen würde, sich der Konsequenz ihrer Taten zu stellen. Und auch wenn es anders gemeint gewesen war, als es für Thanner den Anschein hatte, hatte sie dennoch nicht gelogen.
Daraufhin hatte der Pfarrer erleichtert gewirkt und ihr nochmals seine Unterstützung angeboten. Als er dann endlich ging, hatte sie ihm versprochen, sich bei ihm zu melden.
Sie musste schmunzeln. Ja, er würde ihr helfen – aber nicht so, wie er dachte.
Ihr war klar, dass ihr jetzt nicht mehr viel Zeit blieb. Sie musste handeln, ehe dieser Weichling zusammenbrach und alles zunichtemachte. Lange würde er nicht mehr durchhalten, und dann würde er sie verraten, das hatte sie ihm angesehen. Er kam mit dem, was sie ihm anvertraut hatte, nicht zurecht. Schon allein die Tatsache, dass er sie besucht hatte, war ein deutliches Anzeichen dafür. Er war kurz davor, sein Schweigegelübde zu brechen.
Andererseits hatte sie ihn jetzt genau da, wo sie ihn haben wollte. Nun galt es nur noch, eine weitere Figur auf dem Spielbrett zu positionieren. Und dann, endlich, wären Jan und sie untrennbar vereint.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als Jan nun endlich aus dem Gebäude kam. Das lange Warten im kalten Auto hatte sich gelohnt. Es war, als hätte er gespürt, wie sehr sie sich nach seinem Anblick sehnte. Mit gesenkten Schultern, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet und die Hände in den Hosentaschen, kam er durch den Regen den Gehweg entlang.
Er war den ganzen Nachmittag bei dieser Carla in der Klinik gewesen. Das sah er wohl als seine Verpflichtung an. Wahrscheinlich plagten ihn Schuldgefühle, dass es keine andere Möglichkeit für sie beide gegeben hatte, dieses lästige Weibsstück aus dem Weg zu räumen.
Oder bedeutete Carla ihm vielleicht doch noch etwas? Wirkte er deshalb so niedergeschlagen?
Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. Es war egal, welche Rolle Carla noch für ihn spielte. Im Gegenteil, je mehr er für sie empfand, desto besser. Denn sollte ihr Plan wider Erwarten schiefgehen, würde ihr dies zusätzlich helfen, ihn für sich zu gewinnen.
Aber es würde nichts schiefgehen. Nein, alles lief genau so, wie sie es wollte. Gott war auf ihrer Seite.
Nicht mehr lange, Jan, dann wird mein Name dein einziger Gedanke sein. Bei Tag und bei Nacht. Bis in alle Ewigkeit.