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Das Old Nick’s war eine der vielen Kneipen, die den Fahlenberger Marktplatz säumten. Früher hatte es hier vor allem Geschäfte gegeben, doch allmählich waren die Läden verschwunden, und die Gebäude hatte man nach und nach zu einer Gastronomiemeile umfunktioniert. Schuld daran waren die großen Supermärkte, die im Industriegebiet am Stadtrand entstanden waren. Niemand ging noch zum Metzger, Bäcker oder Drogisten, wenn man alles in einem haben und noch dazu direkt vor dem Eingang parken konnte.

Nikolas Mossner war einer der Fahlenberger Geschäftsleute gewesen, die aus dieser Not eine Tugend gemacht hatten. Als er seinen Lebensmittelladen schließen musste, verpachtete er das Gebäude an einen Pizzabäcker und eröffnete im Kellergewölbe des alten Fachwerkbaus ein Pub nach irischem Vorbild. Fortan zapfte er Guinness und Kilkenny, schenkte Whiskey aus und verdiente nicht schlecht damit.

Für Jan, der Mossner noch aus Kindertagen mit seiner weißen Schürze hinter dem Gemüseregal kannte, war es ein befremdlicher Anblick, »Old Nick« nun hinter der Theke zu sehen. Als Mossner ihn begrüßte und seine Bestellung entgegennahm, ertappte sich Jan bei dem Gedanken, dass nun bestimmt die Frage, ob es denn ein bisschen mehr sein dürfte, folgen würde. So wie damals, wenn Jans Mutter Obst oder Gemüse bei ihm abwiegen ließ und darauf achtete, dass Mossner nicht mit dem Finger auf der Waage blieb, was dem »Schlitzohr«, wie sie ihn nannte, gern mal unterlief.

»Na, satt geworden?«, fragte Mossner und räumte Jans leeren Teller ab.

»Noch einen Bissen, und ich platze«, entgegnete Jan, der die Wartezeit auf Volker Nowaks Eintreffen mit einem herzhaften Steaksandwich überbrückt hatte.

Eigentlich war es ihm ganz recht gewesen, dass Nowak sich verspätete – so hatte er noch etwas Anständiges zu essen bekommen –, aber jetzt wurde er doch ungeduldig. Immerhin war der Journalist nun schon seit fast einer halben Stunde überfällig, und Jan hatte ihn auch nicht auf seinem Handy erreicht.

»Noch ein Bier?«, wollte Mossner wissen und schwenkte erwartungsvoll ein Guinnessglas.

Jan winkte dankend ab und bezahlte. Mossner schob ihm das Rückgeld über die Theke.

»Da hat dich wohl jemand versetzt, was?«

»Sieht ganz so aus. Sagen Sie, kennen Sie Volker Nowak ?«

»Klar, der ist häufig hier. Warst du mit ihm verabredet?«

»Falls er doch noch auftauchen sollte, könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass ich hier gewesen bin und dass er mich morgen Mittag wieder in der Klinik erreichen kann?«

»Sicher.« Mossner nickte und lehnte sich über den Tresen. Als Jan ihn so betrachtete, musste er denken, dass der alte Nick wirklich alt geworden war seit damals.

»Der Junge hat wohl Probleme, was?«, sagte Mossner mit gedämpfter Stimme, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Dachte ich mir schon. War erst gestern wieder hier und saß dort drüben in der Ecke vor seinem Bier. Hättest ihn sehen sollen. Hat nur auf sein Glas gestarrt, als hätte er sechs Richtige im Lotto und vergessen, den Schein abzugeben.«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Klar hab ich das. Ich kenn den Volker doch schon, da konnte er noch nicht mal über die Ladentheke schauen. Aber ich bin nicht so ganz schlau geworden aus dem, was er gesagt hat. ›Nick‹, hat er gesagt, ›Nick, du kennst doch eine Menge Leute.‹ ›Darauf kannst du wetten‹, hab ich geantwortet, und er fragte, ob ich mich schon jemals in jemandem getäuscht hätte. ›Aber sicher‹, hab ich gesagt, ›das kommt immer wieder mal vor. Man kann schließlich nicht in die Köpfe der Leute hineinsehen.‹ Dann hat er mich angesehen, als ob ich ihn nicht richtig verstanden hätte, und gesagt: ›Nein, ich meine so richtig getäuscht. Du denkst, du kennst jemanden, und stellst dann fest, dass er jemand ganz anderes ist.‹ Ich hab gelacht und ihn gefragt, ob er denn nicht weiß, dass er mit einem geschiedenen Mann spricht. Aber er fand das nicht witzig.«

»Und dann?«

»Nichts.« Mossner zuckte die Schultern. »Er hat bezahlt und ist gegangen. Mit einem Gesicht, gegen das einem das Sauwetter da draußen wie ein Frühlingsmorgen vorgekommen wäre.« Er stemmte sich wieder vom Tresen ab und machte sich am Zapfhahn zu schaffen. »Ich sag dir, da steckt bestimmt irgendein Weibsbild dahinter. Kein Wunder, wenn er mit ’nem Psychiater drüber reden will. Diese Weiber bringen uns doch alle noch um den Verstand. Wie sieht’s aus, vielleicht doch noch ein Bier?«

Jan winkte nochmals ab und nahm sein Handy vom Tisch. Einen letzten Versuch wollte er noch unternehmen. Wenn er jetzt niemanden erreichte, dann musste Nowak ihn eben doch in der Klinik besuchen, wenn es ihm ernst war.

Jan drückte die Wahlwiederholung und hörte das Tuten des Freizeichens, gefolgt von einem Klicken. Er erwartete bereits die erneute Ansage von Nowaks Mobilbox, doch dann meldete sich eine Männerstimme.

»Ja?«

Jan drückte das Telefon fester ans Ohr und hielt sich das andere zu, um den Kneipenlärm zu dämpfen. »Herr Nowak, sind Sie das?«

»Mit wem spreche ich?«

Es war nicht Nowaks Stimme, aber dennoch klang sie vertraut, wenngleich Jan bei diesem Lärm nicht sagen konnte, woher er die Stimme kannte.

»Hier ist Jan Forstner. Und wer sind Sie?«

»Dr. Forstner«, sagte der andere und klang überrascht, »ich dachte mir doch gleich, dass ich diese Stimme kenne. Hier spricht Kröger.«

Konsterniert sah Jan auf das Display. Nein, er hatte die richtige Nummer gewählt. Aber wieso meldete sich der Polizist an Nowaks Anschluss?

Jan musste schlucken. Es gab schließlich nur eine plausible Erklärung: Volker Nowak war etwas zugestoßen. Wahrscheinlich ein Unfall auf dem Weg zum Pub, während Jan hier in aller Seelenruhe sein Abendessen verspeist hatte.

»Was ist los? Warum …«

»Was wollten Sie denn von Herrn Nowak?«

»Wir waren verabredet, aber er ist nicht gekommen.«

»Ah ja«, hörte er Kröger sagen. »Tja, es tut mir sehr leid, Dr. Forstner, aber ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Herr Nowak ist tot.«

Dunkler Wahn
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